Die Frage, wie lange es maximal dauert, bis der Wähler als eigentlicher Volksschädling in einer Demokratie erkannt wird, hat eine Antwort: Neun Tage. Diese Zeit brauchte der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck, um sich vom Schock des Wahlabends am 9. Mai zu erholen, und mit der lässigen Routine des Berufspolitikers findet er auch blitzschnell heraus, welche hinterhältigen Verräter den Dolch in den rot-grünen Rücken stießen: Nicht etwa die SPD, die ihr ohnehin schon klägliches Ergebnis aus dem Jahr 2005 noch einmal mit weiteren 2,6 % Verlust unterbot, sondern Piraten- und Linkswähler.
Wie man auf diese drollige Idee kommen kann? Ganz einfach: Wie wir alle wissen, entscheidet nicht der Wähler über die künftige Regierung, sondern Infratest dimap. Eine Umfrage dieses Instituts nämlich zitiert Beck, um zu belegen, dass sich das nordrhein-westfälische Volk nichts heißer ersehnt als eine rot-grüne Regentschaft. Dem hätte der Wähler sich beugen müssen. Statt dessen wagt der Pöbel den Verfassungsbruch, allen voran 554.327 Renegaten, die voller Heimtücke Linke oder Piraten wählten. In Wirklichkeit, so sinniert Beck, hätten die nämlich Rot-Grün gewollt, und es wäre ihre heilige Pflicht gewesen, dies durch entsprechende Stimmabgabe zum Ausdruck zu bringen. Kurz: Der Wähler ist zu dumm, die richtigen Felder auf dem Stimmzettel zu finden, und Kleinparteien gehören verboten.
Großartige Idee, Herr Beck. Kleinparteien fand ich immer schon überflüssig. Besonders diesen Sektiererverein, der in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts reihenweise an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte und mehrfach den Sozialdemokraten die Regierungsmehrheit vermasselte. Wie hieß dieses Pack doch gleich? Ach ja, "die Grünen". Die hätte man gleich damals abschaffen sollen, das hätte uns so manches erspart. Claudia Roth zum Beispiel.
Besonders lieb finde ich es auch von Ihnen, dass sie uns künftig beim Ausfüllen der Stimmzettel helfen wollen. Wie konnten wir das übersehen? Linksparteiwähler sind ja in Wirklichkeit verkappte Sozis. Sie finden es ganz prima, dass die "Sozial"-Demokraten kräftig an der Abschaffung des Sozialsystems mitwirkten. Es reißt sie zu wahren Begeisterungsstürmen hin, wie die SPD innerparteilich alles Andere als demokratisch vorgeht, wie sie in der Opposition die große Reformpartei gibt, nur um in der Regierung eine von der CDU fast ununterscheidbare Politik zu verfolgen und sich kräftig selbst zu versorgen. Ähnlich ist es mit den Piraten. Die hätten am liebsten zusammen mit Otto Schily den Rechtsstaat demontiert und mit der SPD im Bundestag das Zensurgesetz verabschiedet. Dass die GrünInnen jetzt die Bürgerrechtspartei mimen, aber in der Regierung keine Anstalten trafen, die Verfassungsbrüche des SPD-Innenministers zu verhindern, ist in ihren Augen nur konsequent. Auch die Verdienste von Brigitte Zypries, Internetpolitikerin des Jahres 2009 und zweifache Trägerin des Big-Brother-Awards, um Vorratsdatenspeicherung, Großen Lauschangriff, Internetzensur, Aushöhlung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und Abschaffung des Rechts auf Privatkopie vermögen sie gar nicht genug zu loben. Natürlich können sich diese Wähler gar nichts Schöneres als eine Fortsetzung dieser Politik vorstellen.
Nicht alle Leser des Beckstage-Artikels mochten sich der Haltung des grünen Volksvertreters anschließen, und so sah er sich genötigt, einen Tag später den Dummerchen von Forenschreibern das Offensichtliche zu erklären: Das alles war "natürlich ironisch gedacht". Er folgt dabei der Tradition anderer Titanen des Wortes, deren geistige Höhenflüge vom Pöbel nicht ganz so wie gewünscht aufgenommen wurden:
1) "Ich wurde falsch zitiert." Das fällt natürlich bei einem komplett selbstverfassten Artikel schwer, also ging Beck gleich zur nächsten Stufe über.
2) "Ich wurde falsch verstanden." Mit anderen Worten: Nicht der Verfasser ist für seine eigenen Zeilen verantwortlich, nicht er war zu dumm, sich vernünftig auszudrücken, sondern der Plebs hat zu wenig Grips, um mit dem Neuronenfeuerwerk des Autors Schritt zu halten. Selber Schuld also, wenn man sich angegriffen fühlt.
3) Das Äußerste, wozu sich ein Patrizier vielleicht noch hinreißen lässt, ist ein: "Ich habe es nicht so gemeint." Man kann darin Anflüge von Bedauern erkennen, aber im Prinzip heißt es nicht mehr als: "Nun habt euch mal nicht so."
Völlig ausgeschlossen; eines gewählten Volkstribuns unwürdig und entsprechend auch praktisch nie gehört ist ein: "Tut mir leid, ich hab's offenkundig vermasselt und bitte um Entschuldigung." Dafür müsste man nämlich etwas haben, was in politischen Kreisen nur in homöopathischen Dosen vorkommt: Stil.
Besonders spannend finde ich, dass die 5.398.071 Nichtwähler aus Sicht Becks nicht weiter der Erwähnung wert sind. Selbst ein Bruchteil dieser Menschen hätte gereicht, um Rot-Grün mit einer komfortablen Mehrheit auszustatten, aber der Gedanke kommt dem Grünen offenbar nicht. Dass Politik inzwischen unter Ausschluss von mehr als 40 % der Wahlberechtigten stattfindet, passt gut zu seiner im Artikel demonstrierten Haltung. Man ist halt gern unter sich.
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