Montag, 26. Dezember 2011

Arbeitszeit für E-Mails

Man mag es kaum glauben, aber die Deutschen waren einst echte Kerle. Als die Römer - schneidige Jungs, wie wir wissen - den ebenfalls nicht zur Zimperlichkeit neigenden Galliern gezeigt hatten, wo die Streitaxt hängt und mit der gleichen Beherztheit bei den Germanen einmarschierten, kamen sie bekanntlich nicht weit. Sie scheiterten - an schlechtem Wetter und dichten Wäldern. Die Germanen hingegen wussten einen ordentlichen Regenguss zu schätzen, und an zu viel Bäumen ist noch nie jemand gestorben.

Die Zeiten haben sich geändert. Aus den kampferprobten Recken wurden Anzugträger, die im Internet die Wettervorhersage aufrufen, bevor sie das Haus verlassen. Mit dem Anzug kam die Einstellung, dass es dringend an der Zeit ist, über alles und jeden zu jammern, und was es da nicht alles zu jammern gibt: fünfstellige Postleitzahlen - kann sich doch keiner merken, Rechtschreibreform - wir werden alle verblöden, weil wir unseren Hass nicht mehr mit "ß" ausleben dürfen und vor allem: die Politiker, dieses Pack. Da hinterlassen wir denen alle vier Jahre detaillierteste Anweisungen, wie sie sich verhalten sollen, und am Ende handeln die wieder ganz anders. Saubande.

Alles soll sich ändern, nur nicht für mich, für mich soll alles besser werden. Vor allem aber: Schuld haben immer die Anderen. Wenn ich mich ständig verspäte, liegt es am Stau. Wenn ich mich nicht ordentlich konzentriere, liegt es an der Elektrosmog. Wenn ich viel zu dick bin, ist es ein genetischer Defekt. Wenn ich keinen klaren Satz aufs Papier bringe, bin ich Legastheniker. Wenn ich bei der Erziehung meiner Kinder vollständig versage, haben die Bälger ADHS. Wenn ich keine Lust zum Arbeiten habe, leide ich an Burnout.

Burnout ist sowieso das Tollste, was man überhaupt haben kann, deutet es doch an, dass man so unglaublich gerackert hat, dass man ganz dringend einmal ausspannen muss. Hier und jetzt, und ihr müsst mich dafür sogar noch bemitleiden. Bei vielen von denen drängt sich mir jedoch die Frage auf: Freund, dir ist klar, dass man zur Überarbeitung irgendwann einmal mit arbeiten angefangen haben muss? Ich bezweifle ja nicht, dass es hierzulande reichlich Menschen gibt, die allen Grund haben, ausgebrannt zu sein: Krankenpfleger, Polizistinnen, Supermarktkassierer, aber wenn ich mir ansehe, wer in den letzten Wochen in Folge entsprechender Fernsehberichte an sich Burnout diagnostiziert, sollte es mich nicht wundern, wenn sich bald auch Weinbergschnecken melden, weil sie zu viel Stress haben.

Es gehört zum guten Ton, sich über die allgegenwärtige Erreichbarkeit zu beklagen, über die ständige Flut an Anrufen, SMS, Twitter- und Facebookmeldungen, die man bewältigen müsse. Es mag an meinem fortgeschrittenen Alter liegen, aber wenn euch eure Sammlung an Elektrospielzeugen so furchtbar nervt, warum lasst ihr sie dann nicht einfach zu hause? "Es könnte ja was Wichtiges passieren." Oh ja, Babsi hat den "Like"-Knopf gedrückt, das muss man natürlich sofort wissen.

Wer der Aufassung anhängt, aus der technischen Möglichkeit, immer und überall erreichbar zu sein, leite sich die Pflicht ab, jede Sekunde seines Daseins in der Bereitschaft zu verbringen, auf jede eintrudelnde elektronische Kommunikation sofort zu reagieren, wer dies als Belastung empfindet, aber gleichzeitig nicht auf die in ihrer Einfachheit unschlagbare Lösung kommt, wird vielleicht auch die Neuigkeiten von VW begrüßen. Dort kam nämlich der Betriebsrat auf die Idee, nicht nur die  Angestellen hätten sich an die tariflich vereinbarten Arbeitszeiten zu halten, sondern auch der Mails an die Blackberries der Mitarbeiter versendende Server müsse außerhalb der Kernarbeitszeiten in den wohlverdienten Feierabend geschickt und abgeschaltet werden. Fairerweise muss man sagen, dass selbst der Betriebsrat nicht glaubt, dass eine gestresste CPU nach 19 Uhr völlig ausgelaugt nach hause geht und erst einmal 'ne Runde fernsieht, sondern es geht natürlich um die Angestellten, die in ihrer Freizeit nicht mit dienstlichen Mails behelligt werden sollen.

Es gibt eine ganze Reihe Dinge, die mich an diesem Konzept stören. Erstens versucht man hier wieder einmal, ein gesellschaftliches Phänomen technisch zu bekämpfen. Zweitens verwechselt man Ursache mit Wirkung, drittens gibt es reichlich Möglichkeiten, die Flickschusterei zu umgehen.

Es ist nicht der Mailserver, der sich an die Regelarbeitszeiten halten muss, es sind die Menschen, die ihn benutzen. Wenn irgendein Wichtigtuer meint, seine Firma überlebe keine Nacht, ohne dass er seine Mails liest, hat dieser Mensch eine starke Divergenz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, die er dringend mit seinem Therapeuten besprechen sollte. Wenn ein despotischer Chef den Unterschied zwischen Angestellten und Leibeigenen nicht begriffen hat und erwartet, dass sie auch um Mitternacht noch auf Mails reagieren, gehören ihm diese Flausen schnellstmöglich ausgetrieben, aber eben so, dass er versteht, warum er mit seinen Untergebenen anders umspringen muss und nicht so, dass er technisch daran gehindert wird.

Das Stichwort ist "verstehen", und genau darum geht es nicht, wenn ich Serverprozesse abschalte. Es wird weiterhin Mailjunkies geben, es wird weiterhin Chefs mit totalitären Ansprüchen geben. Ich baue vielleicht eine weitere technische Hürde vor ihnen auf, aber ich ändere nichts an ihrer Haltung. Sie werden ihre unheilige Allianz weiter pflegen, und ich sage auch gleich, wie.

In der Gegend und Zeit, aus der ich stamme, gab es etwas, das den Wracks, die ihre geistige Leere zwischen Sohschlmihdija und Weppzwainull austoben, offenbar total uncool vorkommt, wahrscheinlich, weil es dafür keine Äpp gibt: Schalter. OK, sollte sich einer von denen der unerhörten Herausforderung gestellt und diesen Text gelesen haben, der niederträchtigerweise nicht in einen Twiht passt, erkläre ich den Begriff: Wenn ihr euren verkalkten Grämmpa besucht, und der will, dass das Licht ausgeht, dann quatscht der nicht mit Siri, der patscht auch nicht auf den Eikens eines Ei-Fohns herum, der drückt so einen Knopf an der Wand, für den er noch nie ein Appgreht daungelohdet hat, aber er päfoomt richtig supi, und - schwupp! - ist es dunkel. Einfach so. Das Gleiche geht auch mit Hänndihs. Es ist zwar mitunter etwas umständlicher, man muss etwas warten oder noch eine Rückfrage beantworten, aber danach wird das Dissplehj dunkel, und es hat sich was mit weltweiter Kommunikation. Einfach so.

"Ja, aber das geht ja nun überhaupt nicht." Warum, weil ihr zu blöd seid, euer Telefon auszuschalten? "Nein, weil mich dann auch meine Freunde nicht mehr erreichen können." Davon abgesehen, dass wir unter "Freunden" Unterschiedliches verstehen und ich die Zombies, die meine Facebook-Wall mit ihrer Artikulationsunfähigkeit besudeln, nicht als meine Freunde ansehe - warum sollte dich irgendwer von denen auf deinem Dienstapparat anrufen? "Na, weil, den nutze ich auch privat."

Ah, wir kommen der Sache näher. Lassen wir einmal außer Acht, dass mir, wäre ich VW-Mitarbeiter,  lieber die Hand abfaulte als dass ich in ihr länger als unbedingt nötig ein Relikt aus der Steinzeit des Kommunikationszeitalters wie ein Blackberry hielte, stellt sich doch die Frage, was mich auf die Idee bringen könnte, das auch noch privat zu nutzen. Ist es Geiz? Zahlt die VW-IT so karge Löhne, dass es nicht einmal für ein eigenes Telefon langt? Ist es Faulheit? Kann ich zwar vom Notebook bis zum Autoschlüssel allen möglichen Krempel mit mir herumschleppen, aber für ein zweites Telefon ist auf einmal kein Platz mehr? Telefoniere ich privat so wenig, dass sich für die wenigen Anrufe kein eigenes Gerät lohnt? Welche Ausrede ich auch immer wähle: Ich verlange von meinem Arbeitgeber, dass er mir  die Hardware für meinen privaten Fetisch liefert, aber ansonsten soll er sich aus meinem Privatleben heraushalten.

Genau hier liegt der Punkt: Wann immer ich Berufliches und Privates vermische, habe ich Nebenwirkungen, die ich nicht sauber geregelt bekomme. Das fängt beim privaten Surfen am Arbeitsplatz an und endet noch lange nicht beim privat genutzten Diensttelefon. Allein schon aus rechtlicher Sicht kommt man in fragwürdige Situationen, weil dienstliche Kommunikation nicht unter das Brief- Post- und Fernmeldegeheimnis fällt, und die Firma nicht nur das Recht hat, in diese Kommunikation hinein zu sehen, sondern als TK-Anbieter sogar die Pflicht. Heraus kommen gewundene Betriebsvereinbarungen, in denen man zu regeln versucht, dass man die privaten Mails der Mitarbeiter nicht liest, aber es könnte und zur Not auch wird. Eine ähnliche Situation herrscht bei dienstlichen Mobiltelefonen. Hier kommen noch steuerliche Aspekte wie das Gewähren geldwerter Vorteile hinzu. Natürlich sieht die Firma, wann ich wie lange mit wem rede, und den VW-Abteilungsleiter will ich sehen, der, obwohl es ihn eigentlich nichts angeht, nicht neugierig wird, wenn auf der Anrufsliste seiner Mitarbeiter plötzlich Telefonate mit Toyota-Nummern stehen. Doch lassen wir die Paranoia beiseite. Bis 16:59 Uhr darf ich meine Leute mit Mails auf ihr Blackberry bombardieren, aber Gongschlag 17 Uhr ist Ende? In einer funktionierenden Welt sähe es doch so aus: Um 17:08 Uhr schreibt der Teamleiter eine Mail und denkt sich: "Wäre schon, wenn das heute noch erledigt würde, aber es hat auch bis morgen Zeit." Der Mitarbeiter sieht, dass auf dem Dienstmailkonto eine Mail eintrifft, überlegt sich, ob er sie überhaupt nach Feierabend lesen, geschweige denn bearbeiten möchte und entscheidet im Zweifelsfall, dass die Mail auch morgen noch wahr ist. In einer nicht funktionierenden Welt hingegen sitzt der Abteilungleiter in Gutsherrenmanier vor seinem Rechner und entscheidet, dass vier Stunden Schlaf mehr als ausreichend für seine Vasallen sind und dass die so gewonnene Zeit ganz hervorragend mit der Vorbereitung einer Präsentation verbracht werden kann. In einer nicht funktionierenden Welt sieht der Mitarbeiter sein Blackberry blinken, steht sofort innerlich stramm, immerhin ist es ein direkter Befehl von oben und legt los. Glauben Sie wirklich ernsthaft, an diesem Verhältnis ändere sich etwas, wenn man den Mailserver abschaltet? Wissen Sie, was dann passiert? Dann ruft der Chef einfach an, nicht einmal oder zweimal, sondern so lange, bis der Untergebene rangeht, und reagiert der Kerl nicht, dann sieht es schlecht für ihn aus, wenn das nächste interessante Projekt vergeben wird. Übrigens ist entgegen landläufiger Ansicht der VW-Mailserver nicht das weltweit einzige System zum Austausch elektronischer Post. Da gibt es massenweise Alternativen wie web.de, Yahoo, Googlemail, Freenet, Arcor, GMX, nennen Sie irgendwas. Was so ein richtiger Drecksack von Chef ist, lässt sich von seinen Knechten deren private Mailadressen geben, und ich kenne Firmen in denen Abteilungsleiter mit Sitz im Betriebsrat (!) von ihren Mitarbeitern deren private Telefonnummern einsammelten, damit sie über die Weihnachtsfeiertage erreichbar sind. Können Sie sich vorstellen, wie egal solchen Leuten die firmeninternen Mailverteiler sind?

Was der VW-Betriebsrat da unter allgemeinem Jubel und mit großer Geste durchgesetzt hat, ist eine typische Placebomaßnahme, die man dann ergreift, wenn man zu dumm, zu faul oder anderweitig nicht in der Lage ist, die Verhältnisse zu ändern, aber mit irgendeiner tollen Meldung an die Öffentlichkeit treten muss, um die Illusion von Engagement zu hinterlassen. Was heraus kommt, sind Ideen, die im frühen 19. Jahrhundert funktioniert und ihre Berechtigung hatten, heute aber Bevormundungen und Potemkimsche Dörfer sind. Man erschießt den Boten. Was tatsächlich gebraucht wird, ist eine Änderung im Betriebsklima, ist eine Arbeitswelt, in der es nicht darum geht, die vertraglich vereinbarte Regelarbeitszeit abzusitzen, sondern Aufgaben zu erledigen. Ich habe Teams erlebt, in denen gute Zusammenarbeit und Ergebnisse im Zentrum standen, in denen Chefs und Mitarbeiter Regeln flexibel auslegten und jeder am Ende zufrieden war. Formal gesehen hätten die gegenseitigen Zugeständnisse gereicht, um das ganze Team fristlos vor die Tür zu setzen, aber komischerweise waren es gerade diese Teams, die unternehmensweit die besten Ergebnisse vorzuweisen hatten. Das Rezept war Souveränität. Jeder gestand dem Anderen zu, selbst entscheiden zu können, wie er seine Arbeit gestaltet. Gute Arbeit wurde nicht dadurch schlechter, dass sie vor 15 Uhr, und schlechte nicht dadurch besser, dass sie nach 23 Uhr erledigt wurde.

Wer wirklich etwas für die Arbeiter erreichen will, sorgt für eine Welt, in der nicht eine Regel bestimmt, wann sie gefälligst glücklich zu sein haben, sondern in der sie glücklich sind, eine Welt, in der Vorgesetzte Teams leiten, die ihr Wissen nicht aus BWL-Seminaren und Managementschulungen sondern aus dem Leben beziehen, eine Welt, in der die Arbeit, die ich notgedrungen leisten muss, um überleben zu können, keine Beleidigung der menschlichen Spezies darstellt, sondern einen Sinn ergibt. Sinn, wohlgemerkt. Das ist etwas Anderes als ein Aktienkurs.

Das ist natürlich weit mehr, als ein einzelner Betriebsrat je wird leisten können, aber er kann seinen Beitrag dazu geben. Man braucht dazu allerdings Phantasie und echtes Interesse an seiner Aufgabe - mehr jedenfalls als einen Cronjob auf einem Mailserver.

Dienstag, 1. November 2011

Buchkritik: Ein König für Deutschland

Es ist schon einige Jahre her, dass ich mich in diesem Blog mit dem Thema Wahlcomputer befasste, aber die damals vom Bundesverfassungsgericht behandelte Frage, ob und wie Abstimmungen mit Computerhilfe vorgenommen werden können, stellt sich weiterhin. Angesichts immer populärer werdender Verfahren wie Kumulieren, Panaschieren, angesichts neuer Partizipationsmodelle wie Liquid Democracy oder Volksentscheide allgemein wird die Herausforderung, die zum Teil sehr komplexen Vorgänge mit einem vertretbaren Aufwand zu erfassen, immer größer. Letztlich muss sich jede dieser Techniken an einigen wenigen Kriterien messen lassen: Authentizität (Nur die Stimmberechtigen dürfen abstimmen und ihr Recht nicht übertragen), Geheimhaltung (Niemand darf erfahren, wer wie abgestimmt hat), Gleichheit (Jedes Votum hat das gleiche Gewicht, und jeder darf nur einmal abstimmen), Manipulationssicherheit und Transparenz (Jeder muss nachvollziehen können, wie das Ergebnis zustande kam). Das klassische Verfahren mit Wahlkabinen, Wahlurnen, Papierzetteln und Stiften ist zwar bei den bisher üblichen Wahlen mit einer oder zwei Stimmen unschlagbar, was die Erfüllung dieser Kriterien angeht, aber es skaliert schlecht. Für Nicht-Nerds: Je mehr Stimmen ich zulasse, desto mehr zähle ich mich am Wahlabend verrückt. Ich weiß nicht, ob Sie jemals als Wahlhelfer im Wahllokal gesessen haben, aber glauben Sie mir: Zwei Stimmen pro Zettel zählen Sie noch locker aus, aber spätestens, wenn Sie bei einer Landratswahl bis spät in die Nacht Stimmzettel mit bis zu zehn wild verteilten Kreuzen auswerten mussten, überlegen Sie sich dreimal, ob Sie sich das bei der nächsten Wahl noch einmal geben wollen. Hinzu kommt, dass Sie selbst auch schnell den Überblick verlieren. War der Stimmzettel eben wirklich gültig? Waren da doch nicht zu viele Kreuze drauf? Haben wir die Strichliste wirklich richtig geführt? Natürlich kann man das alles nachzählen, aber es ist nicht mehr so banal wie bei früheren Wahlen, als ein Stimmzettel maximal ein Kreuz enthalten durfte und man mehrere Möglichkeiten hatte, sicher zu stellen, dass die Zahlen noch stimmen.

Dummerweise haben die alten Wahlverfahren mit einer, maximal zwei Stimmen einen anderen Nachteil: Sie bilden den Wählerwillen nur sehr grob ab. So kann es passieren, dass Koalitionen an die Macht kommen, die eigentlich niemand wirklich haben wollte, oder dass nicht für jeden Sitz im Parlament die gleiche Anzahl von Stimmen nötig ist. Je mehr Möglichkeiten ich dem Wähler lasse, sich auf seinem Stimmzettel differenziert zu äußern, desto komplizierter wird das Auszählen und so weniger begreift man am Ende, wie die Entscheidung zustande kam, selbst wenn man papiergebunden wählt.

Lassen wir die ohnehin schon im System liegende Undurchschaubarkeit moderner Abstimmungsverfahren außer Acht, bleibt immer noch die Frage, wer das Ganze am Ende auszählen soll, und da liegt es nahe, die Arbeit von Computern erledigen zu lassen. Aufgrund des Verfassungsgerichtsurteils liegt die Idee in Deutschland derzeit auf Eis, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder jemand freudestrahlend verkündet, mit seinem Computer könne man nun endlich sicher wählen. Andreas Eschbach hat sich ausgiebig dieser Frage gewidmet und ein sehr gut zu lesendes Buch geschrieben, das detailliert beschreibt, wie eine Manipulation von Wahlcomputern ablaufen könnte. Er erzählt die Geschichte eines jungen Computerspezialisten, der ein Programm geschrieben hat, das möglicherweise bereits bei der Wahl George W. Bushs zum Präsidenten zum Einsatz kam und nun einen Code entwickelt hat, mit dem die 2009 in der Bundesrepublik eingesetzten Wahlcomputer dazu gebracht werden können, einer beliebigen Partei den Sieg zuzuschlagen. Am Ende packen ihn zwar noch Skrupel, aber er kann nicht verhindern, dass seine Auftraggeber in Besitz des lauffähigen Codes gelangen. Glücklicherweise erfährt auch eine kleine Gruppe aus Rollenspielern und Computerenthusiasten von der Existenz des Programms. Da sie annehmen, dass ihnen ohnehin niemand glauben wird, beschließen sie, die nächste Bundestagswahl ad absurdum zu führen, indem sie eine Testfunktion des Programms ausnutzen. Egal, auf welche Partei das Programm eigentlich geeicht wurde, wenn eine Partei mit dem Kürzel "VWM", den Initialen des Programmierers, auftaucht, bekommt sie 95 Prozent zugeschlagen. Also gründen sie die "Volksbewegung zur Wiedereinführung der Monarchie", fest überzeugt, dass kein Mensch sie wählen und deswegen völlig klar sein wird, dass mit der Wahl etwas nicht stimmen kann, wenn sie auf einmal die Regierungsmehrheit stellen. Zufälligerweise springen aber die Medien auf das Thema an, und die VWM wird mit einem Schlag immens populär, so dass am Wahlabend den Beteiligten nicht klar ist, ob sie tatsächlich gewonnen  oder die manipulierten Computer einfach nur funktioniert haben. Es sieht so aus, als kehre Deutschland zur Monariche zurück.

Eschbach hat für sein Buch sehr gut recherchiert - weit besser, als er gebraucht hätte, um einfach nur eine gute Geschichte abzuliefern. Er lässt zwar die Frage offen, wie es gelingen kann, bundesweit die Chips mit dem manipulierten Code in die Wahlcomputer einzusetzen und nach der Wahl wieder gegen die Originalchips auszutauschen, aber den Vorgang bis dahin beschreibt er korrekt und ohne eine Stelle, an der man sich als IT-Kundiger entsetzt an den Kopf fassen müsste. Selbst, dass der Chiptausch nicht genauer beschrieben wird, stört nicht, denn angesichts der im Buch geschilderten Unregelmäßigkeiten bei der Bush-Wahl ahnt der Leser: Wer eine Abstimmung fälschen will, muss nicht unbedingt von außen kommen.

Zu bemängeln gibt es an dem Buch kaum etwas: Zwei unbedeutende Fehler bei der Beschreibung des bundesdeutschen Wahlverfahrens, eine falsch beschriebene Fehlermeldung in einer Computerszene, ein leichter Hang zur klischeehaften Beschreibung der im Buch vorkommenden Subkulturen und ein etwas süßliches, aber durchaus angenehmes Ende sind die einzigen Punkte, die man anführen könnte, die aber den Lesespaß nicht nennenswert schmälern. Neben dem durchgängig gut lesbaren Schreibstil fällt vor allem ins Gewicht, dass Eschbach den "König für Deutschland" offenkundig nicht nur geschrieben hat, weil die nächste Rate aufs Haus gezahlt werden muss, sondern weil er unmissverständlich klären will, dass Computer prinzipiell für Wahlen ungeeignet sind. Computer sind, wie im Buch mehrfach gesagt, Multifunktionsmaschinen zur Datenmanipulation. Schon der Versuch, sie zuverlässig in ihrer Funktion zu kastrieren, läuft so sehr ihrem Design zuwider, dass er nicht gelingen kann. Eschbach mag sich auf die Schwächen eines inzwischen ausreichend in Verruf geratenen Wahlcomputermodells konzentriert haben, seine Bedenken sind aber grundsätzlich und gelten jedem Kästchen, das "Gratuliere, Sie haben gewählt" blinkt, wenn man auf einen Knopf drückt.

Andreas Eschbach, "Ein König für Deutschland", Bastei-Lübbe, 10 €

Montag, 3. Oktober 2011

Ich erschieße keine Kanzler

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,

um eines klar zu stellen: Hiermit versichere ich Ihnen an Eides statt, dass ich weder Sie, noch irgendein anderes Mitglied der Bundesregierung zu töten gedenke oder jemanden dabei unterstützen werde. Nicht, dass ich besondere Sympathien für Sie hege - das ist beileibe nicht der Fall. Ich habe noch nie eine der Parteien gewählt, aus denen sich die jetzige Koalition zusammensetzt, und eher fault mir die rechte Hand ab, als dass ich jemals diesem spießig-blasierten Verein namens CDU oder der öligen Interessenvertretung der Apotheker und BWL-Studenten namens FDP meine Stimme gebe, aber das heißt nicht, dass ich bereit wäre, Sie zu ermorden. Grund dafür ist allerdings nicht der unglaubliche Verdienst, den Sie sich um dieses Land erworben zu haben meinen, sondern die Tatsache, dass ich als erbitterter Gegner der Todesstrafe mir und allen Menschen das Recht abspreche, andere Menschen zu töten. Darüber hinaus bin ich überzeugt, dass sich durch Ihren Tod nichts ändern wird. In diesem Land wimmelt es nur von Leuten, die davon träumen, an Ihrer Statt den Aufgaben einer Bundesregierung nicht gewachsen zu sein. Warum also sollte ich ein Interesse an Ihrem Ableben haben?

Jetzt also haben Sie es schriftlich: Vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Nachdem wir diese - wie ich finde - Selbstverständlichkeit festgehalten hätten, wüsste ich auch gerne etwas von Ihnen: Wie können Sie die Stirn besitzen, mir zu unterstellen, es wäre anders?

Wovon ich rede? Von Ihrem mit großer Geste angekündigten aber aus meiner Sicht ungebetenen Besuch in meiner Stadt - einer Stadt, in der ich mich bislang frei bewegen durfte, in der ich mein Haus betreten durfte, wann ich es wollte und wo ich in meiner Wohnung anstellen durfte, was ich für richtig hielt, so lange die anderen Mieter sich nicht darüber beschwerten. Nun aber verwandelt sich meine Stadt in ein Gefangenenlager. Es gibt Kontrollpunkte. Ich muss mich ausweisen. Fußgängerunterführungen werden ohne erkennbaren Grund gesperrt, angeblich, um die Besuchermassen zu kanalisieren. Ich weiß nicht, ob Ihre hirnlosen Sicherheitsleute schon einmal am langen Samstag hier waren. Da ist ungefähr doppelt so viel los, und niemand sperrt dafür irgendetwas ab. Nicht einmal ans Fenster meiner Wohnung darf ich treten - nur weil Sie sich hier herumtreiben und ich es offenbar nicht wert bin, Ihr heiliges Antlitz zu schauen.

Im Mittelalter, jener Zeit also, in der Sie und Ihre Partei offenbar weiterhin beheimatet sind, da gab es Herrscher, vor denen man sich zu Boden werfen musste und nicht aufschauen durfte, wenn sie durch die Straßen zogen. Für ein paar Jahre sah es so aus, als hätte sich in dieser Hinsicht etwas geändert. Da setzte die herrschende Kaste auf Volksnähe, genoss das Bad in der Menge. Ab und zu blitzt von dieser Haltung noch etwas auf - bei Wahlen zum Beispiel, den wenigen Anlässen, zu denen Sie den Eindruck erwecken müssen, als hegten Sie Interesse an Ihrem Volk. Kaum aber haben Sie die nötigen Stimmen für Ihre Mehrheit zusammen, zeigen Sie Ihre wahre Haltung. Heiligendamm ist nur ein Beispiel, das herrschaftliche Gepränge zum Tag der deutschen Einheit ein weiteres.

Tag der deutschen Einheit - wissen Sie noch, wie die zustande kam? Damals haben sich Millionen nicht um Ausgangssperren, Polizeikontrollen, Mauern und Zäune geschert. Sie haben eine Regierung gestürzt, die sich in Wandlitz vom Volk abkapselte. Dass Sie genau diesen Tag mit Sperrzäunen, Polizeikontrollen, Scharfschützen und einer vom Volk abgesonderten Regierung begehen werden, zeigt einen Humor, den ich Ihnen offen gesagt nicht zugetraut hätte.

Sie betonen immer wieder, wir befänden uns in einem Rechtsstaat. Was ist das für ein Rechtsstaat, in dem ich damit rechnen muss, dass mir maskierte Menschen die Tür eintreten, weil ich es wage, in meiner eigenen Wohnung ans Fenster zu gehen um zu sehen, wer mir mit einer weit aufgedrehten Lautsprecheranlage die Feiertagsruhe stört? Das werden übrigens Sie sein, wenn Sie Ihre Rede halten.

Bitte verschonen Sie mich mit dem Gequatsche, hier ginge es um die Sicherheit. Ich will diesen Blödsinn nicht mehr hören. Seit zehn Jahren beseitigt eine Allianz aus Sicherheitsfetischisten und Demokratiegegnern unser unter großen Opfern entstandenes System aus Menschen- und Bürgerrechten. Anlässlich Ihres Besuchs heißt es, Ihr Leben sei in Gefahr. Meine Güte, schon seit der Antike kommt es immer wieder vor, dass Regierungsmitglieder umgebracht werden. Das ist schlimm, aber eben auch Teil Ihres Berufs. Offenbar lässt sich das Risiko für Personen des öffentlichen Lebens seit Jahrtausenden nicht auf null senken, und mir stellt sich die Frage, ob der betriebene Aufwand zum Schutz Ihres Lebens in einem Verhältnis zu den hierfür betriebenen Grundrechtsverletzungen steht. Sind die Polizeihundertschaften, die Sie hier aufmarschieren lassen, tatsächlich nur zu Ihrem Schutz da? Lassen sich diese durchtrainierten, gepanzerten und perfekt bewaffneten Einheiten nicht auch großartig dazu nutzen, die Ihnen zujubelnden Volksmassen so zu formen, dass sie eine störungsfreie Kulisse für Ihren Auftritt bilden? Geht es wirklich nur darum, Attentäter fernzuhalten? Wird Ihre Garde der Versuchung widerstehen, Träger von Protestplakaten in Gewahrsam zu nehmen und die Wohnungen von Leuten, die das Anarchie-A ins Fenster hängen, nicht mit einem freundlichen Besuch beehren? Es wäre nicht das erste Mal, dass Sicherheitskräfte bereits jeden als terrorverdächtig einstufen, der optisch nicht ins Bild passt.

Ich kann ja verstehen, dass Sie an Ihrem Leben hängen. Ich kann nachvollziehen, dass Ihr Tod mehr Beachtung fände als beispielsweise meiner und dass man deswegen auch ein wenig Aufwand zu Ihrem Schutz betreiben möchte. Was mich massiv stört, ist das alberne Gepränge, das um ihren Besuch veranstaltet wird, dieses peinliche Zurschaustellen von Macht. Mit Verlaub, Ihr Amt wurde nicht einmal direkt vom Volk bestimmt. Welchen Grund hätte ich, Ihnen mehr Respekt entgegen zu bringen als irgendeinem anderem Menschen?

Die Bewohner Mitteleuropas haben im Verlauf der Jahrhunderte und vieler Kriege die Erfahrung gesammelt, welche Folgen Machtmissbrauch hat, doch statt daraus ein tief sitzendes Misstrauen gegen Hierarchien zu entwickeln, knallt der Preuße immer noch mit den Hacken und nimmt Haltung an, wenn er auf jemanden stößt, der vermeintlich mehr darstellt als er selbst. Wie viel Millionen müssen denn noch verrecken, bis die Menschen merken, dass man Leuten umso mehr auf die Finger schauen und gelegentlich auch hauen muss, je mehr Macht man ihnen zugesteht? Hierarchien sind Konstrukte, um Entscheidungen in großen Gemeinschaften zu beschleunigen. Egal, wie viele Titel jemand trägt, egal, welche Insignien ihn schmücken, er bleibt immer noch ein Mensch und sollte wie einer behandelt werden.

Wie schon gesagt: Ich habe nichts gegen Sie persönlich. Ich unterstelle Ihnen sogar, dass Sie privat ein sehr angenehmer Mensch sind. Wenn Sie Zeit und Lust haben, gucken Sie ruhig einmal bei mir vorbei, und wenn Sie rechtzeitig Bescheid sagen, sorge ich sogar für etwas Leckeres zum Essen. Wir brauchen nicht einmal über Politik zu reden, es gibt viele andere Dinge, über die man sich unterhalten kann. Eins aber muss klar sein: Wir reden als Gleiche miteinander, als freie Bürger dieses Landes. Ihre Aufgabe ist es, das Land zu regieren. Dafür bezahle ich Sie. Ich trachte nicht nach Ihrem Leben, im Gegenteil: Ich füttere Sie sogar durch. Dabei verlange ich nicht mehr von Ihnen, als dass Sie mich nicht wie einen Terrorverdächtigen behandeln. Als Teilnehmer eines Volksfests wären sie mir herzlich willkommen, als abgeschottete Eminenzen sind Sie es nicht.

Wissen Sie übrigens, wen ich gestern fast umgerannt hätte? Den Außenminister, ich meine den echten, den Genscher. Der hat 23 Jahre lang in verschiedenen Ämtern Geschichte geschrieben, zum Teil sogar Weltgeschichte. Mit seinen Entscheidungen hat er sich nicht  nur Freunde geschaffen. Im Lauf der Jahre sammelt sich da schon etwas an. Wissen Sie, wieviele dunkelgrüne, sturmhaubentragende Pistoleros er um sich herum hatte?

Keinen einzigen.

Dienstag, 20. September 2011

Buchkritik: Zielperson außer Kontrolle

Die McBrown Advertising GmbH, ein mittelständisches Werbeunternehmen aus Düsseldorf, befindet sich finanziell auf der Kippe, als sie sich an der Ausschreibung für ein europäisches Großprojekt beteiligt: Die EU plant eine allumfassende europäische Datenbank und will das nicht ganz ununmstrittene Vorhaben dem Volk als möglichst segensreiche Erfindung vermittelt wissen. Für McBrown steht viel auf dem Spiel. Entweder bekommt man den Auftrag oder es drohen massive Entlassungen. Das Ausschreibungsverfahren läuft zunächst gut, dann aber sieht es ganz danach aus, als bedienten sich die Mitbewerber unlauterer Mittel, weswegen McBrown sich seinerseits entschließt, dem Entscheidungsprozess mit unauffälligen finanziellen Zuwendungen auf die Sprünge zu helfen. Die Firma schickt dazu ihren Geschäftsführer Tom Simon nach Brüssel, der dort zusammen mit dem für seine zwielichtigen Geschäftspraktiken bekannten Anwalt Dr. John die Bestechungsverhandlungen führen soll. Auch hier scheinen sich die Dinge anfangs wie gewünscht zu entwickeln, schließlich aber platzt auch dieser Deal, und eine andere Firma bekommt völlig überraschend den Auftrag. Wütend stürmt Simon in Johns Kanzlei und findet den Anwalt erschossen vor. Alles deutet auf Mord hin. Entsetzt will Simon noch schnell die Akte beiseite schaffen, in der neben seinem auch andere Bestechungsfälle aufgelistet sind, aber der Tresor, in dem der Ordner sich befinden sollte, ist bereits leergeräumt. In diesem Moment betritt auch schon die Polizei das Büro und verhaftet Simon wegen Mordverdachts.

Die Lage ist denkbar schlecht. Allzu viel kann Simon naheliegenderweise nicht erzählen. Auf der anderen Seite hat die Polizei auch keine stichhaltigen Beweise gegen ihn in der Hand und muss ihn zunächst laufen lassen. Unter Verstoß gegen die Polizeiauflagen reist Simon wieder nach Deutschland und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Offenbar kommt er dabei einigen in die Quere. Seine Firma entlässt ihn, er wird entführt und gefoltert, und natürlich zeigen sich die deutschen sowie die belgischen Behörden nicht gerade erbaut über die Flucht aus Brüssel. Langsam findet Simon heraus, was hinter der Sache steckt: Nicht nur eine europäische Großdatenbank soll aufgebaut werden. Es geht um die Totalerfassung aller EU-Bürger. Mit neu entwickelten Ortungschips, die man den Menschen injiziert, soll es möglich werden, jederzeit den Aufenthaltsort beliebiger Personen festzustellen. Für die Herstellerfirma, die europäische Politiker mit Überwachungsfetisch als ihre Marionetten missbraucht, steht ein traumhaftes Geschäft in Aussicht, das sie sich unter keinen Umständen verderben lassen will. Simon muss davon ausgehen, dass seine Umgebung verwanzt ist und jeder seiner Schritte überwacht wird. Möglicherweise hat man ihm auch einen Prototyp des Überwachungschips eingepflanzt, so dass er bei seinen Nachforschungen doppelt auf der Hut sein muss.

Jetzt können Sie sich vielleicht auch vorstellen, warum ich in diesem Blog auf einmal über Krimis schreibe. Das Genre an sich interessiert mich zwar nicht besonders, aber wenn es um meine Lieblingsthemen Datenschutz und Überwachungsstaat geht, kann ich ja ruhig etwas flexibel sein.

Es mag nun daran liegen, dass ich mich mit Krimis nicht besonders auskenne, aber speziell an diesem Buch stören mich mehrere Dinge: Der Schreibstil wirkt merkwürdig uninspiriert. Beim Lesen hatte ich immer wieder den Eindruck, als hätte der Teilnehmer eines VHS-Kurses für kreatives Schreiben den Auftrag bekommen, eine Kriminalgeschichte zu schreiben, die im Rheinland spielt, deren Hauptfigur irgendeinen Spleen hat und in der es um Datenschutz geht. So zählt der Autor brav mit der Präzision eines Routenplaners Straßen und Plätze in Bonn auf, aber man fragt sich: wieso? Was tragen diese Schilderungen zur Handlung bei? Man muss Dan Brown nicht mögen, aber wenn er die Figuren seiner Thriller durch Rom rennen lässt, dann lässt er sie so spezifische Dinge erleben, dass man unmöglich durch Austauschen einiger Bezeichnungen alles beispielsweise nach London verlegen könnte. Bei "Zielperson außer Kontrolle" ist dies keine Schwierigkeit. Ob man Bonn, Köln, Düsseldorf oder irgendeine andere Stadt in der Nähe der belgischen Grenze gewählt hätte - mit der Textverarbeitung die Straßennamen austauschen und die Passagen mit pflichtschuldigen Schwärmereien zu Bonn durch analoge Zeilen über eine andere Stadt ersetzen - schon spielt die Geschichte woanders, ohne dass es jemandem auffällt. Ebenso sinnentleert erscheinen mir die Passagen, in denen es ums Essen geht. Mit der gleichen seelenlosen Präzision, mit der die Infrastruktur Bonns beschrieben wird, finden sich Schilderungen des Essens, das die Akteure des Buches gerade zu sich nehmen, zubereiten oder schmerzlich vermissen, und wieder stellt sich die Frage, was das Ganze soll. Falls es darum geht, einer Szene mehr Atmosphäre zu verleihen, wäre es möglicherweise günstig, die Schilderungen nicht mit der emotionalen Beteiligung eines Kochbuchs zu schreiben.

Leider sind es genau diese Schwächen, welche die Lektüre des sehr gut recherchierten Krimis erschweren. Auf der reinen Sachebene ist das Buch nämlich tadellos. Man merkt immer wieder, dass sich der Autor sowohl gründlich mit deutschen und europäischen Sicherheitsgesetzen beschäftigt hat als auch genau weiß, welche Überwachungstechniken derzeit möglich sind. Als Techniker kenne ich die Momente des Fremdschämens, die ich immer dann erlebe, wenn jemand offenkundigen Unsinn schreibt. Diese Momente blieben erfreulicherweise bei "Zielperson außer Kontrolle" aus. Besonders gelungen sind die Passagen, in denen es darum geht, wie der Überwachungsstaat und seine Techniken in den Köpfen der Leute etabliert werden. Diese Stellen könnte man auch ohne weiteres in Flugblättern des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung finden.

Das ist auch der Grund, warum ich trotz des mir nicht sonderlich gefallenden Schreibstils der Meinung bin, man sollte zumindest in das Buch hineinsehen, um festzustellen, ob man es mag: Gute Sachbücher, in denen Spezialisten ihre Meinung über die Gefahren des Überwachungsstaats schildern, gibt es reichlich. Was fehlt, sind Geschichten, die man einem netzpolitisch eher Desinteressierten hinlegen und ihm sagen kann, in diesem Buch bekäme er neben einer netten Erzählung auch noch einige Kernthemen der Datenschützer präsentiert. "Zielperson außer Kontrolle" ist ein Beispiel, wie so etwas aussehen kann.

Wolfgang Kinnebrock, "Zielperson außer Kontrolle", Droste, 10 €

Buchkritik: Nerd Attack!

Erinnerungsbücher haben viel mit dem Betrachten vergilbter Fotoalben gemein: Ein Haufen mehr oder minder würdelos ergrauter Menschen gleichen Alters versammelt sich um den abgegriffenen Folianten, zeigt mit einstmals gelenkigen Fingern auf verschiedene Bilder, quiekt "ja, genau so war's, weißt du noch damals?" und schwelgt in Erinnerungen, die aufgrund des menschlichen Triebs, jede noch so widerliche Erfahrung in der Rückschau romantisch zu verklären, unglaublich toll, witzig und romantisch erscheinen. "Generation Golf" dürfte zu den ersten Büchern gehören, die mit lockerem Schreibstil, einem Schuss Selbstironie und einigen klugen Gedanken die perfekte Mischung für die zwischen 1965 und 1975 Geborenen boten, ihrer eigentlich doch recht faden Jugend so etwas wie Bedeutung abzugewinnen. Einige Autoren versuchten sich im Fahrwasser dieses Buchs an Erinnerungsbüchern anderer Generationen, erreichten aber meist nicht die Eleganz des Originals.

All diesen Büchern ist ein weiteres Merkmal gemein: Gehört man der dort beschriebenen Generation an, wirkt jedes noch so langweilige Detail ungemein bedeutend und witzig - eine Auffassung, die von Außenstehenden praktisch nie geteilt wird. Es ist eine Binsenweisheit, aber sie sei an dieser Stelle wiederholt, weil sie sich offenbar nicht ausreichend herumgesprochen hat: Jeder findet die eigene Jugend wahnsinnig wichtig, aber auch nur deshalb, weil er nun einmal definitionsgemäß durch diese Zeit geprägt wurde. Nüchtern betrachtet ist jedes Jahr auf seine Weise spannend oder langweilig, und ob Hitler oder die Beatles für die Entwicklung der Menschheit von größerer Bedeutung waren, wird in kommenden Jahrhunderten immer wieder neu entschieden. In Bezug auf Erinnerungsbücher heißt dies: So lange nicht klar wird, auf welche Weise die darin beschriebene Generation die Welt verändert, halten sie den Narziss bei Laune, bleiben aber sonst bedeutungslos.

"Nerd Attack!" von Christian Stöcker beantwortet die Frage, welche globale Veränderung es beschreibt, sehr deutlich: Es geht um die Nerds, die Anfang der 80er ihr Erweckungserlebnis auf dem C64 hatten, knapp 20 Jahre eine digitale Kultur aufbauten und seit einigen Jahren sich nicht nur in ihrem eigenen Biotop tummeln, sondern inzwischen auch die analoge Welt verädern wollen. Hier wird auch klar, warum das Buch nicht nur für die darin Beschriebenen eine interessante Lektüre ist. Wer verstehen will, wie diese merkwürdigen Aktivisten denken, die in Form der Piratenpartei, dem CCC oder dem AK Vorratsdatenspeicherung gerade die Politik in Unruhe versetzen, findet in "Nerd Attack!" die Antwort. Stöcker schreibt aus Sicht eines Computerenthusiasten, der zwar viel Begeisterung entwickelt, allerdings nie in der allerersten Reihe mitspielt. Er will sich nicht als 1337h4x0R herausstellen, sondern vielmehr die Haltung vermitteln, den das Gros der "Generation C64" umtreibt. So gelingt ihm ein ausgesprochen gut lesbarer und bis in die Details sauber dargestellter Abriss der Anfänge, als man sich mit einer Kombination aus zusammengespartem Taschengeld und phantasiereich den Eltern entlockten Sponsorengeldern voller Stolz den 8-Bit-Homecomputer von Commodore mit unfassbaren 64 KB RAM an den Fernseher anschloss, bis hin zur Gegenwart, in der die zwischenzeitlich deutlich in die Jahre Gekommenen aus ihrer Hingabe für die Computer auch politische Konsequenzen gezogen haben und sich dafür einsetzen, dass ihre digitale Gesellschaft nicht von Internetausdruckern zerstört wird.

Die Kluft zwischen den mit Computern Aufgewachsenen und dem überwiegend noch im Analogzeitalter verhafteten politischen Würdenträgern ist der rote Faden in Stöckers Buch und erklärt auch, warum es weit mehr ist als die selige Erinnerung eines C-64-Veterans an seine wilde Jugend. "Nerd Attack!" beschreibt, wie Jugendliche zunächst einfach aus Geldmangel Spiele illegal kopierten, später ein Sport daraus wurde und schließlich sich das Bewusstsein festigte, dass ein Urheberrecht, das von fest an einen bestimmten Datenträgern gekoppelten Werken ausgeht - mit anderen Worten: Fotos, Schallplatten, Filmen -, in einer Welt des beliebigen Vervielfältigens und Zitierens vollkommen absurd wird. Früher war klar, dass man nicht einfach die Negative eines Fotos stehlen und sie als die eigenen ausgeben durfte. Heute aber versteht kein Mensch mehr, warum man nicht ein für alle im Internet sichtbares Foto von einer Bockwurst mit Kartoffelsalat nicht in sein privat betriebenes Kochrezepteblog kopieren darf, ohne gleich Post vom Abmahnanwalt zu bekommen. Ähnlich ist es mit der Diskussionskultur im Internet. Natürlich ist es ärgerlich, wenn in Heiseforum irgendwelche sozial entkoppelten Denkverweigerer darüber diskutieren, ob Steve Jobs der neue Jesus oder Hitler ist, aber die Antwort kann nicht darin bestehen, dass eine im Wahlkampfrausch befindliche Familienministerin eine Zensurinfrastruktur etabliert, die sich nicht nur gegen allgemein als verwerflich anerkannte Inhalte einsetzen lässt, sondern vor allem geeignet ist, die Blockwartphantasien von SPD und Union eines ordentlichen, eines sauberen, eines handzahmen Netzes wahr werden zu lassen.

Die Kluft geht quer durch alle politischen Lager. Vor allem bei den ehemaligen Volksparteien, aber auch bei Teilen der FDP (falls da noch was zu teilen ist), der Linkspartei und den Grünen herrscht ein Bild vom Internet, das stark von einer Konsumentenhaltung wie bei Radio und Fernsehen geprägt ist. Man hat zwar begriffen, dass man auch irgendwie etwas schreiben kann - Facebook und manchmal auch Twitter sind ein Begriff -, aber als stolze Vertreter des Dichter-und-Denker-Volks erwartet man natürlich Hochliteratur von den Autoren, keine Beschreibung des Stuhlgangs oder der Frühstücksbrötchen. Dass Relevanz im Auge des Betrachters entsteht und dass es tatsächlich Leute gibt, die sich dafür interessieren, in welchem ICE Alvar Freude gerade unterwegs ist, verstehen die selbsternannten Verteidiger der Kultur nicht. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn diese Leute einfach ihre Finger vom Netz ließen. Statt dessen erlassen sie Gesetze, die bei Druckerzeugnissen und Rundfunksendungen noch einen Sinn ergaben, bei einem zeitzonen- und länderübergreifendem Netz aber, in dem die Nachrichten von den Nutzern selbst geschrieben werden, bestenfalls deplatziert wirken, schlimmstenfalls sogar das Funktionieren dieses Netzes gefährden. Die Nerds haben sich das eine Zeitlang angesehen und sich nichts dabei gedacht; zu absurd waren die Ansätze, zu leicht waren sie zu umgehen. Inzwischen aber hat sich die Lage verschärft. Die Vorratsdatenspeicherung ist zwar verboten, wird aber weiter durchgeführt. Die Internetzensur ist zwar als Gesetz vorerst gestoppt, die Infrastruktur ist aber vorhanden und wartet  nur auf einen Vorwand, um eingesetzt zu werden. Datenschutzverstöße sind an der Tagesordnung, und es drängt sich der Verdacht auf, der einzige Grund, dass nicht noch mehr publik wird, liegt darin, dass einige Firmen ihre Pannen besser vertuschen. Den Nerds platzt der Kragen, weswegen sie in die Politik drängen - nicht freiwillig, sondern weil sie keinen anderen Weg sehen, sich gegen die jahrzehntelange Ignoranz der Internetausdrucker zu wehren. Ob die Antwort nun Piratenpartei heißt oder ob die Generation C64 einfach verteilt in die verschiedenen Parteien einsickert und so ihren Themen mehr Gewicht verleiht, wird sich noch zeigen.

Netzpolitik kommt langsam in der gesellschaftlichen Mitte an. Vor 20 Jahren wusste kaum jemand, wer Steve Jobs ist. Heute lösen Gerüchte um seinen Gesundheitszustand Unruhen an der Börse aus und schaffen es bis in die Hauptnachrichten. Wahlsendungen lesen Twitterkommentare vor. Google und Facebook sind immer wieder eine Tagesschaumeldung wert. Das ist auch das Fazit von "Nerd Attack!". Wer wissen will, wie es dazu kam und wie die Netzkultur der Gegenwart aussieht, sollte dieses Buch lesen.

Nerds, die ein bisschen Nabelschau betreiben wollen, kommen natürlich auch auch ihre Kosten.

Chrstian Stöcker, "Nerd Attack! - Eine Geschichte der digitalen Welt vom C64 bis zu Twitter und Facebook", DVA, 15 €

Donnerstag, 15. September 2011

Chinesische Lehrstunde

Die Watschen mag ein Bluff sein, aber sie offenbart viel: China unterbreitet Europa  und den USA ein Angebot, das bei Firmen einer Übernahme gleich käme: Wir pumpen massiv Geld in eure marode Bude, dafür gelten ab dann unsere Regeln. Garniert wird das Ganze noch mit der von oben herab erteilten Ermahnung, gefälligst die Grundregeln der Volkswirtschaft zu lernen und wenigstens nicht wie völlige Kretins mit Geld umzugehen. Lehrstunden in Wirtschaft - erteilt von Kommunisten, den Anhängern jenes Wirtschaftssystems also, das im Westen als hoffnungslose Fehlkonstruktion angesehen wird. Wie reagieren die europäischen Wirtschaftsgenies auf diese kaum noch steigerungsfähige Demütigung? Wie halb verhungerte Hunde, denen man einen Knochen vorwirft: Großartige Idee, guck mal, wir können weiter wie verrückt Geld verbrennen, unseren auf ganzer Linie gescheiterten Börsenzockern weiterhin ganze Wirtschaftssysteme zum Ruinieren übergeben, und im Gegenzug müssen wir uns nur in völlige Abhängigkeit von China begeben. Kommt, lasst uns gleich unseren Managern, die das Geschäft einfädeln, ein paar Millionen als Provision geben.

Ich habe Heroinabhängige auf Entzug gesehen, die rationaler und mit längerer Perspektive handelten. Was die Wirtschaftsprofis offenbar in erster Linie sehen, ist der nächste Schuss in Form einer Investitionszusage. In ihrer Gier sind sie bereit, dafür alles zu geben und überhören dabei die Aufforderung, endlich die Spielcasinomentalität zu beenden und wieder solide zu wirtschaften. Zweitens übersehen sie, dass die Macht, vor der sie sich so eifrig zu prostituieren bereit sind,  einer komplett anderen Vorstellung von Wirtschaft und Politik anhängt, und dass man dafür wohl auch einen demokratischen Preis wird zahlen müssen - beispielsweise im Zugeständnis, dass der Dialog mit der Opposition durchaus auch einmal vom Geschützturm eines Panzers aus geführt werden kann und dass ein bisschen Zensur doch allenfalls zu einem harmonischeren Miteinander beiträgt. Ich kann mir  einige Bundestagsabgeordnete vorstellen, die sich dieser Auffassung anschlössen.

Selbst wenn wir einmal annähmen, dass China nicht den Westen vor sich hertriebe - wer hat eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, China betriebe eine solide Wirtschaft? Dieser Staat lebt genau so auf Pump wie alle anderen Staaten auch, und allein die gewaltigen Reserven, die das noch Land hat, sorgen dafür, dass dies nicht sofort auffällt. Tatsächlich betreibt China die gleiche auf Expansion gerichtete Wirtschaftspolitik wie der von ihr so gescholtene westliche Kapitalismus und nimmt dabei maximale ökologische und menschliche Opfer in Kauf. Das Land ist groß, so dass man durchaus mal einige hundert Quadratkilometer verseuchen kann, ohne dass sich jemand daran stört, und selbst wenn dies geschehen sollte: Was sind schon eine Millionen Menschen, wenn man 1.3 Milliarden hat? 



Es deutet vieles darauf hin, das China im Begriff ist, die USA als dominierende Macht abzulösen. Allein schon die Dimensionen des Landes und die Straffheit seiner Organisation bieten ideale Voraussetzungen. Auf der anderen Seite verbrennt auch China nur ein Strohfeuer - größer als alle anderen Strohfeuer dieses Planeten und damit eindrucksvoller, aber ich sehe noch keinen Ansatz, wie es weiter gehen soll, wenn man mit atemberaubendem Tempo alle Rücklagen aufgebraucht hat. Dann hat man vielleicht die größten und modernsten Fabriken, aber nichts, was man darin verarbeiten, nichts, womit man sie betreiben könnte. Ist es wirklich das, was wir als leuchtendes Vorbild für eine funktionierende Wirtschaft annehmen wollen? Das westliche Modell mag versagt haben, möglicherweise ist es Zeit, es abzulösen. Das europäische Strohfeuer durch das chinesische abzulösen, das allein deswegen noch brennt, weil es später gezündet wurde, scheint mir keine sinnvolle Strategie zu sein.

Sonntag, 14. August 2011

Pupsikaka

Vier Jahre, ungefähr da dürfte es sein. In diesem Alter beginnen Kinder das Spiel mit den sprachlichen Verboten. Dass man bestimmte Worte nicht sagen darf und dass es dafür Ärger gibt, haben sie inzwischen gelernt. Umso interessanter ist es, wenn man sich unter seinesgleichen, also anderen Vierjährigen, befindet, einander zu zeigen, wie ungeheuer mutig man ist, wie kreativ und witzig man sich über die Verbote der Eltern hinwegsetzt. Einer fängt an: "Du Pupsi." Gekicher. Doch da ist noch was drin. "Pupsikaka", kontert ein Anderer. Noch mehr Gekicher. Aber das war noch längst nicht alles. "Pupsikakapups", legt einer drauf. Allgemeines Gepruste. Doch der König der Kleinkindcomedy ist noch nicht gekrönt. Sie glauben gar nicht, zu welchen Ausflügen in die Welt der Substantivungetümer so ein vierjähriges Gehirn fähig ist.

Doch, Sie wissen es natürlich, denn das Netz wimmelt nur so von Vierjährigen - zumindest solchen, die geistig dieses Alter niemals verlassen haben. Viele von ihnen halten sich für Politiker und diskutieren deswegen lautstark die Belange dieser Welt.  Dabei schrecken sie wie ihre großen Vorbilder vor keiner Niveauunterschreitung zurück. Der Punkt, an dem mit Wucht das untere Ende der Skala erreicht ist, wurde vom US-amerikanischen Juristen Mike Godwin als der Moment identifiziert, in dem der erste Diskussionsteilnehmer Nazivergleiche zieht, etwa solche: "Du verteidigst hier ein Gesetz, das schon unter den Nazis täglich Anwendung fand." (Gemeint ist die Gravitation.) "Du zitierst Hitler" (der nämlich auch gelegentlich "guten Tag" gesagt hat). Man kann natürlich auch gleich mit dem Nazivergleich in die Debatte einsteigen, indem man beispielsweise von "Datenschutz-Nazis" spricht und sich dann lauthals beklagt, dass die Leute auf die eigene feinsinnige Argumentation nicht eingehen, sondern eine Metadebatte führen wollen. Ich finde es auch immer komisch, dass Leute, die ich mit Dreck beschmeiße, so kleingeistig darauf bestehen, dass ich ihre Kleidung reinige, dabei wollte ich mit ihnen doch über ganz andere Dinge reden. Warum stellen die sich so spießig an?

Weil die Nazinummer schon seit Jahrzehnten ausgelutscht ist. Spätestens, seit Kohl Gorbatschow mit Goebbels und Brandt Geißler mit Goebbels verglich, sollte klar sein, dass selbst betrunkene Schimpansen kurz vor der Bewusstlosigkeit solche Vergleiche anstellen können und dass der Nazivergleich den Vergleicher mehr disqualifiziert als den Verglichenen. Vor über 40 Jahren haben die 68er mit dem Versuch angefangen, den politischen Gegner zu diskreditieren, indem sie ihm geistige Verwandschaft mit Nationalsozialisten vorwarfen. Damals mag diese Strategie auch noch funktioniert haben, weil sich das Land mit einem komplett verdrängten Dritten Reich zu beschäftigen hatte, heute aber wird jeder Schüler mindestens zwei- bis dreimal in seiner Schullaufbahn mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts getrietzt. Wissen Sie, wie die auf das Thema Nazis reagieren? Mit Gähnen.

Nazivergleiche wurden so unfassbar oft von so unfassbar dummen Menschen auf so unfassbar dumme Weise gezogen, dass man sich beim Rückgriff auf den rhetorischen Holzhammer in sehr schlechte Gesellschaft begibt. Wenn einem Komiker nichts mehr einfällt, greift er zu Sexwitzchen. So gesehen sind Nazivergleiche die Sexwitzchen des Politikers. Ich wurde über Jahrzehnte aus nahezu allen politischen Lagern als Nazi bezeichnet - weil ich für Computer war, weil ich gegen die zu leichtsinnige Nutzung von Computern war, weil ich für Gleichberechtigung eintrat, weil ich gegen Gleichberechtigung mit der Brechstange war, weil ich für Ausländerintegration war, weil ich Schwierigkeiten bei der Integration sah. Könnt ihr Dummköpfe euch endlich einmal auf eine einheitliche Definition für "Nazi" einigen und nicht einfach alles so bezeichnen, was außerhalb  eures verkrusteten Weltbilds agiert? Merkt ihr nicht, dass euer Geschrei ähnlich wie in der Geschichte ist, in der jemand einmal unnütz "Feuer!" schrie? Ich warte nur auf den Moment, in dem jemand, den ihr als XYZ-Nazi bezichtigt, ganz entspannt zurücklächelt und sagt: "Na, wenn sie für XYZ waren, kann bei denen wohl nicht alles schlecht gewesen sein."

Keiner braucht zu befürchten, dass durch platte Vergleiche die Geschichte verharmlost wird. Das ist bereits geschehen, seit Guido Knopp mit Dokumentationen wie "Hitlers Müslischalen - sie fütterten den Führer" das Dritte Reich endgültig zur fetzigen Abendunterhaltung formte. Umgekehrt sollten die Nazivergleicher sich nicht in Heldenpose werfen, weil sie vermeintlich ein Tabu verletzen und damit eine längst überfällige Debatte anstoßen. Das einzige Tabu, das hier verletzt wird, besteht darin, das Auditorium zu langweilen. Keiner braucht zu glauben, mit seinen Nazivergleichen eine längst überfällige Debatte anzustoßen. Die einzige Debatte, die zu führen sich lohnt, ist die über die Frage, ob "Meinungsfreiheit" heißt, dass jeder eine Meinung haben darf, nicht dass er sie haben muss und allen mitteilen soll.

Provoziert mich, regt mich an durch neuartige Gedanken, durch interessante argumentative Wendungen, durch pfiffige Argumentationen. Hebelt meine Position aus, weist mir Inkonsistenzen in meiner Haltung nach. Ich behaupte nicht, endgültige Wahrheiten zu kennen. Aber bitte lasst euer infantiles Nazivergleichsgewäsch dort, wo ihr es her habt: im Schülerkabarett.

Sonntag, 7. August 2011

Pleased to meet you - hope you guess my name

Gegen den Namen in meinem Ausweis habe ich nichts, sieht man einmal davon ab, dass er für Deutschsprachige komisch buchstabiert wird. Dass ich hier unter einem zugegebenermaßen etwas sperrigen Namen schreibe, hat mehrere Gründe, und da gerade bei Google Plus wieder die Klarnamendebatte tobt, nehme ich dies zum Anlass, eine Lanze für Pseudonyme zu brechen.

Als ich noch ein Kind war, wusste kein Mensch, dass man Computer überhaupt vernetzen kann, geschweige denn, dass es ein Internet gibt. Wer mit einer größeren Menge Menschen reden wollte, ging in die nächstgelegene Schankwirtschaft, wo man ihn im Zweifelsfall schon kannte. Man hatte vielleicht Spitznamen, aber natürlich konnte jeder, der es wissen wollte, den richtigen Namen erfahren. Das, was einer Netzkommunikation noch am nächsten kam, war der Amateurfunk, und hier kannte man einander unter seiner amtlichen Funkerkennung. Die Einzigen, die damals halbwegs anonym kommunizierten und sich biszweilen bizarr anmutende Namen gaben, waren die CB-Funker. Die Jüngeren unter Ihnen werden  vielleicht die Wiederholungen amerikanischer Truckerspielfilme aus den Siebzigern kennen. Die übergewichtigen, unrasierten Rednecks, deren einziger Trost für ihr verkorkstes Leben darin bestand, sich den Titel "Könige der Landstraße" verliehen zu haben, waren dann auch sinnstiftend für eine ganze Horde sozial Herausgeforderter in deutschen Plattenbauten, die ihren Kummer, es im Gegensatz zu ihren Filmvorbildern nicht einmal zu einem LKW-Führerschein gebracht zu haben, zu kompensieren versuchten, indem sie sich beispielsweise "Loverboy69" oder "Turbomike" nannten und den Äther mit Inhalten füllten, gegen die 4chan wie das Literarische Quartett wirkt.

So sahen sie aus, die Chatrooms des Analogzeitalters, nur mit dem Unterschied, dass sich das gesprochende Wort versendete und keine Institution alles für die Ewigkeit archivierte. Die ganze CB-Funker-Kultur war mir komplett fremd. Das Einzige, was bei mir hängen blieb, war: Die Turbomikes und Loverboys kommen dem, was man sich unter einem kompletten Verlierer vorstellt, schon sehr nah.

Dann erschienen die Homecomputer. Die meisten von uns benutzten sie zum Spielen und Programmieren, und damit tauchte die Frage auf, wie man an Software herankommt. Bei Preisen, die locker das Taschengeld ganzer Monate verschlangen, war an legale Beschaffung von Programmen nicht zu denken, also kopierte man sie sich - wohl wissend, dass dies strafbar war. Genau hier lag aber auch der Reiz. Das Entfernen eines Kopierschutzes galt je nach Komplexität als bewundernswerte Leistung, und wer sein Umfeld immer mit der neuesten Ware versorgen konnte, genoss hohes Ansehen. Ein gewisses Risiko war freilich dabei, und je öffentlicher man den Tausch betrieb, desto mehr musste man fürchten, Ärger zu bekommen. Also legten wir uns Pseudonyme zu und benutzten Postlagerkarten zum Softwareversand. Dass man sich untereinander nur unter irgendwelchen Kürzeln kannte, war durchaus üblich.

Die ewige Kopiererei wurde natürlich auf die Dauer lästig. Parallel dazu entwickelte sich ein immer größerer Markt an frei programmierter Software. Diese in der Regel recht kleinen Programme auf Disketten auszutauschen, war technisch zwar möglich, aber oft genug hatten die eigenen Bekannten das gerade Gesuchte nicht zur Hand. Dafür gab es Mailboxen, die von einem Bündel Enthusiasten betrieben nicht nur viel Software boten, sondern auch den Computer in ein Kommuniktionsterminal verwandelten. Auf einmal war es möglich, mit wildfremden Leuten irgendwo auf der Welt zu reden. In dieser Welt trat allerdings ein Wertewandel ein. Pseudonyme waren auf einmal überhaupt nicht gern gesehen, und man musste mit dem Mailboxbetreiber längere Diskussionen überstehen, wollte man seinen Tarnmantel behalten.

Als in den 90ern das Usenet immer populärer wurde, gewann die Diskussion an Schärfe. Wer nicht unter seinem Klarnamen schrieb, war bei vielen Diskussionsteilnehmern sofort unten durch. Das Usenet wurde von den Meisten als eine Art ausgelagerte Realität angesehen, und genau, wie es in der Realität zum guten Ton gehörte, einander mit echtem Namen anzusprechen, wollte man auch im Netz wissen, mit wem man sich gerade unterhält. Die Diskussion nahm bisweilen bizarre Züge an, ging es doch vielen  Leuten allein darum, offensichtliche Pseudonyme nicht mehr lesen zu müssen. Ob Tatjana Borowski tatsächlich die war, die sie zu sein vorgab, war egal, Hauptsache, man hatte das Gefühl eines schön gepflegten Potemkimschen Dorfes.

Die Argumente haben sich seitdem nicht wesentlich geändert. Was sich geändert hat, ist meine Haltung. War ich früher ein vehementer Befürworter der Klarnamen, plädiere ich heute für ein Recht auf Pseudonymität. Warum?

Weil sich das Netz gewandelt hat und weil ich es inzwischen besser zu verstehen meine. Die hinter Klarnamen stehende Absicht war damals wie heute Abgrenzung - Abgrenzung nach unten, gegen die Spielkinder, die das Netz nicht so erwachsen behandelten wie die Profis. Damals wollte man sich gegen den Pöbel von Metronet und AOL, später von T-Online, zur Wehr setzen, Leuten, die nicht aus dem edlen akademischen Umfeld ihren Weg ins Netz gebahnt hatten, sondern nur mit einer CD und genügend Kleingeld ausgestattet ihre Rechner ans Netz klemmten, völlig unbeleckt in diverse Foren stürmten und dort die elitäre Gemütlichkeit störten. Wir Alumni waren aus ganz anderem Holz geschnitzt. Bei uns hatte eine gewisse Vorsortierung allein schon deswegen stattgefunden, weil man ein Abitur haben musste, optimalerweise eine Naturwissenschaft betrieb und auf diesem Weg an die heiß ersehnte Genehmigung kam, eines der Terminals im Rechenzentrum zu benutzen. Wer dann seine ersten Schritte ins Netz unternahm, wurde meistens von einem der Einwohner an die Hand genommen und in die wichtigsten Benimmregeln eingeweiht. Nur wer diesen Initiationsritus durchlebt hatte, war würdig genug, in den Foren überhaupt beachtet zu werden. Die von den kommerziellen Betreibern massenweise hereinströmenden, alle Regeln missachtenden Unruhestifter wurden mit etwa der gleichen gelassenen Herzlichkeit empfangen wie Wasserwerfer auf einer S21-Demonstration.

Mit der Kommerzialisierung des Netzes hat sich dieser Popanz zum Glück erledigt. Das Netz ist die Masse derer, die sich daran beteiligen, und da steuert eben nicht jeder auf einen akademischen Abschluss zu. Die Menschen haben erkannt, dass Kommunikation an sich einen Wert darstellt, und wie im realen Leben sortiert sich auch im Netz alles zurecht. Wer gern unter sich bleiben möchte, kann dies weiterhin. Auf Cooler_Kevin95 und KPSChiller treffe ich selten. Dafür aber habe ich padeluun, Erdeist, Neonfee und viele andere Leute getroffen, deren Realnamen ich bis heute nicht kenne, aber auch nicht kennen brauche. Ihre selbstgewählten Namen sagen viel mehr über sie aus als die in ihrer Geburtsurkunde. Was sie zu erzählen haben, ist viel interessanter als die Frage, was in ihrem Personalausweis steht.

Pseudonyme sind die Tarnkappen des kleinen Mannes. Offensichtlich ist dies beim Whistleblowing, dann also, wenn ein Angehöriger einer Organisation deren Missstände aufdeckt, aus Angst vor Repressalien aber im Verborgenen bleibt. Man könnte nun argumentieren, dass so wenig Rückgrat ein schwaches Zeichen ist und dass derartige Versteckspiele die Unterdrückungsgesellschaft nur weiter vorantreiben. Auf der anderen Seite ist eine anonym veröffentlichte Untat immer noch mehr wert als eine komplett verschwiegene, und zweitens gleicht Pseudonymität wenigstens einen Teil des Machtungleichgewichts aus, das zwischen Führungsetage und Angestellten eines Unternehmens herrscht. Die öffentliche Achtung, für die gute Sache meine berufliche Existenz ruiniert zu haben, bezahlt nicht die Raten auf mein Haus.

Der Satz wird oft zitiert, weil er es so schön auf den Punkt bringt: Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist. Gemeint ist das Spiel mit den Identitäten, und das ist genau die Stelle, an der die Strategie, das Netz als elektrifizierte Realität anzusehen, nicht mehr funktioniert. Die Idee, nach Belieben verschiedene Rollen zu spielen, gibt es im Leben vor dem Bildschirm nur im Ansatz. Natürlich kann ich in den verschiedenen Freundeskreisen jeweils leicht unterschiedlich auftreten, aber das klappt auch nur, wenn man diese Kreise schön voneinander getrennt hält, und vor allem ist man an physische Realitäten gebunden. Wenn mir mein Image in einer Gruppe irgendwann nicht mehr gefällt, kann ich nicht einfach eine neue Rolle überstülpen und gucken, ob mir diese Rolle besser passt. Im Internet hingegen kann ich mich in verschiedenen sozialen Kontexten bewegen, ohne dass mich jemand dabei verfolgen kann. Ich darf in einer Rolle Meinungen äußern, die zu haben mir in einer anderen Rolle verwehrt wird. Ich kann Zustände zur Diskussion stellen, ohne erst eine lange Erklärung liefern zu müssen, das Kritik und Loyalität keine Widersprüche darstellen.

An dem Tag, als Google Plus seine Tore für den Pöbel öffnete, dürfte ich zu den Ersten Angehörigen des Plebs gehört haben, die hereinströmten, um die neuen Wunder des Suchmaschinengiganten zu bestaunen. Natürlich tat ich das, was zu den ersten Taten eines Neuankömmlings in einem sozialen Netz gehört: Man sieht sich um, wer schon da ist und abonniert dessen Nachrichtenstrom. Eine der ersten Nachrichten, die ich las, war nicht etwa: "Schön, dass ihr alle da seid, lasst uns zusammen herumexperimentieren", sondern: "Im Moment kommen Tausende von Nachrichten rein, dass mich irgendwelche Leute in ihren Circle aufgenommen haben. Wenn ich jemanden nicht kenne und der Betreffende kein interessantes und aussagekräftiges Profil hat, landet er gleich im Circle 'Mülleimer'." Gleich dahinter kam ein Beitrag, der sich damit beschäftigte, dass Google pseudonyme Zugänge sperrt und dass dies eine gute Sache sei, verbunden mit einer Fünf-Punkte-Liste, wie sich die Neuankömmlinge gefälligst zu verhalten hätten. Kurz: Affenfelsen im Kölner Zoo, und der Boss zeigt erst einmal den Anderen, wie toll er zur Fortpflanzung geeignet ist. Seht her, wie wichtig ich bin, alle wollen was von mir, und um meine Wichtigkeit zu unterstreichen, zeige ich allen Anderen, wie unwichtig sie sind. Damit eins klar ist: Der ganze Affenfelsen hier, das ist ganz allein meiner, den hab ich selbst hierher gestellt, und jetzt hört alles auf mein Kommando.

Der Tonfall kam mir so bekannt vor, und in der Tat klang es damals, Ende der 80er, genau so, als ich meine ersten Schritte ins Usenet unternahm, nur dass damals der Tonfall sogar noch halbwegs gerechtfertigt war, weil das Netz damals wirklich von einer Handvoll Enthusiasten aufgebaut und verwaltet wurde. Diese Zeiten sind jedoch längst vorbei. Die Planwagen der Pioniere sind zum Stillstand gekommen, die heldenhaften Vorstöße in unbekanntes Terrain gibt es kaum noch. Statt dessen haben sich Städte und Gemeinden gebildet. Längst geht es nicht mehr ums blanke Überleben, sondern darum, welche Art von Zusammenleben wir gerne hätten. Viele von uns sind damals aus der alten Welt übergesiedelt, weil wir den Mief der Städte satt hatten, weil wir uns nicht mehr von irgendwelchen Lehensherren knechten, nicht von einem König herumkommandieren lassen wollten. Wir wollten endlich einmal statt "du musst" ein "du darfst" hören. Das gilt insbesondere für die elementare Frage, was Andere von mir wissen sollen. Ich möchte die Freiheit haben, allen alles über mich sagen zu dürfen, nicht den Zwang, alles sagen zu müssen. Natürlich gibt es in anonymen Netzen eine gewisse Tendenz, über die Stränge zu schlagen, weil man kaum Konsequenzen zu befürchten hat, aber genau das ist nun einmal Freiheit. Eine Gesellschaft, in der die Menschen freiwillig gegenseitig Rücksicht nehmen und tolerieren, dass einige Unsinn bauen, ist mir viel lieber als eine Gesellschaft, in der die Menschen aus Furcht vor Strafen sich an Gesetze halten und es nicht verhindern können, dass einige Verbrecher das System umgehen.

Im Netz schreibe ich unter mindestens vier verschiedenen Identitäten. Keine dieser Identitäten ruft zu kriminellen Handlungen, Menschenverachtung oder Terrorismus auf. Jede dieser Identitäten setzt sich auf leicht unterschiedliche Weise dafür ein, dass Menschen vernünftig und in Freiheit miteinander leben können. Das soll gerne weiter so bleiben.

Samstag, 30. Juli 2011

Instrumentalisierung des Leids

Extreme Taten wie die Morde von Utøya führen zu sehr emotionalen Reaktionen. Das ist in gewisser Weise sogar ein gutes Zeichen, weil es andeutet, dass uns menschliches Leid immer noch berührt. Auf der anderen Seite sollten wir aufpassen, in der Emotion nicht die Relationen aus den Augen zu verlieren.


Das Verbrechen war noch gar nicht richtig vorüber, da meinten die Nachrichtenmedien schon, erste Erklärungen liefern zu müssen, und natürlich kamen viele sehr schnell mit dem Erzbösewicht, der seit dem 11.9.2001 in den Köpfen der westlichen Kulturen herumgeistert: dem Muselmann. Natürlich mussten es Islamisten sein, andere Leute sind auf dieser Welt ja gar nicht in der Lage, jemanden zu töten. Dummerweise stellte sich schon kurz darauf heraus, dass der Täter kein Moslem war. Also musste eine neue Erklärung her. Wenn der Muselmann ausscheidet, bleibt eigentlich nur noch der andere Erzbösewicht übrig: der Nazi. Das passte schon sehr viel besser, fand sich doch reihenweise Material, das auf einen rechtsradikalen Hintergrund schließen lässt.


An dieser Stelle hätte man innehalten und die Fakten stehen lassen können. Aber nein, aus Einzelereignissen muss ja unbedingt ein großer Trend herausgelesen werden. Die Attentäter von New York waren ja auch nicht einfach Dreckskerle, die mit geringem Aufwand möglichst viel Menschen umbringen wollten, es war der "islamistische Terror". Breivik ist nicht einfach ein niederträchtiger Lump, der mit völlig irrsinnigen Vorstellungen ein von Sozialdemokraten organisiertes Ferienlager ermordete, sondern er leitet den "rechtsradikalen Terror" ein.


Wenn wir so etwas glauben, haben die Terroristen ihr Ziel erreicht.


Dann nämlich verlieren wir unsere Fähigkeit, Risiken vernünftig abzuschätzen. Menschen müssen nur spektakulär genug ums Leben kommen, um bei uns das Gefühl aufkommen zu lassen, hier handle es sich um eine Bedrohung, die viel realer ist als die tatsächlichen Gefahren. Erinnern Sie sich noch an das Zugunglück in Eschede? Die 101 Toten und 88 Verletzten, die an diesem Tag von dieser Katastrophe betroffen waren, verdeckten die Tatsache, dass in der gleichen Woche ungefähr die gleiche Zahl Menschen in Verkehrsunfälle auf deutschen Straßen verwickelt ware - ohne dass jemand forderte, Autos abzuschaffen oder nur noch im Schritttempo zu fahren. Zwar kenne ich Sie nicht, kann Ihnen aber mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, woran Sie sterben werden: Kreislauferkrankungen oder Krebs, und je länger Sie dem widerpsrechen, desto wahrscheinlicher werde ich Recht haben. Allein im Jahr 2007 waren es über eine halbe Millionen Menschen in Deutschland, die auf diese Weise starben. "Das ist ja auch was Anderes", werden Sie sagen. "Das hier sind natürliche Todesursachen. So schlimm es auch ist, sie sind nüchtern betrachtet unvermeidlich." Das sind Tote eines Terroranschlags auch - zumindest, wenn wir in einer freien Welt leben wollen.


Erklärungen, wie es zu einem Attentat kommen kann, gibt es rückblickend viele. Die banalste ist: Der Täter hatte Zugang zu Waffen. Nun haben wir aber in dieser Hinsicht schon eines der schärfsten Gesetze der Welt. So lange es einen breiten Konsens gibt, der bestimmten Berufs- oder Risikogruppen Waffenbesitz gestattet, wird es immer möglich sein, unbefugt an ein Gewehr zu kommen. Wir können nicht vor jede Schule, jeden Kindergarten, jedes Jugendzentrum Vereinzelungsschleusen mit Metalldetektoren stellen, und selbst wenn - dann stürmt der Amokläufer eben den Schulbus oder rennt durch eine Fußgängerzone.


Selbst die bei solchen Gelegenheiten immer wieder gescholtenen Schützenvereine eignen sich nur bedingt als vemeintliche Brutstätte des Terrors. Schützenvereine sind tendenziell unglaublich spießige Einrichtungen, und wer keinen Unterschied zwischen dem Schießen auf eine Pappscheibe und der Ermordung von Menschen sieht, sollte ernsthaft erwägen, die Bundeswehr zu verbieten.


Wenn man schon die Mittel nicht verhindern kann, dann vielleicht die Geisteshaltung, die zur Tat führte. Was hat der Täter denn vor dem Mord so alles getrieben? Aha, er hat Ballerspiele gespielt, er hat sich im Internet auf fragwürdigen Seiten herumgetrieben, er hat Horrorvideos geguckt. Wissen Sie, was geschätzte 102 Prozent aller Jugendlichen in ihrer Freizeit anstellen? Genau das hier Geschilderte, und ich behaupte, dass dies Erfahrungen sind, die man in einem bestimmten Alter sogar sammeln sollte. Wer den Popkultur-Bildungskanon der Jugendlichen verbieten will, wünscht sich insgeheim in eine Zeit zurück, in der Jungs in Matrosenanzügen Holzreifen über die Straßen rollen ließen und Mädchen in Rüschenkleidern ihre Puppenküche versorgten. Gucken Sie übrigens mal in die Geschichtsbücher, welchen Generationen wir die letzten beiden Weltkriege zu verdanken haben. Das waren nicht die mit dem Internetzugang.


Bleibt die Weltanschauung. War der Attentäter Moslem, dann droht uns der islamistische, war er Kommunist, droht uns der linke, war er Nazi, der rechte Terror. Man möge mich einen Kleingeist zeihen, aber für eine vernünftige Aussage über eine Messreihe brauche ich mehrere Werte, und ein einzelner Anschlag, sei er noch so ideologisch fundiert, begründet keine Aussage über einen Trend. Selbst mögliche Trittbrettfahrer reichen nicht aus, um eine Aussage über eine Serie treffen zu können. Die RAF-Morde - das war eine Reihe von Anschlägen, da kann man von linksradikalem Terror sprechen. Die brennenden Asylbewerberheime Anfang der 90er, die Skinheadübergriffe auf Ausländer - das waren thematisch gruppierbare Ereignisse. Breiviks Morde sind zwar aufsehenerregend und sorgfältig inszeniert, aber weit davon entfernt, dass man von der "Rückkehr des Terrors" oder gar dem "9/11 Norwegens" sprechen könnte. Es mag ja sein, dass viele Menschen die Geisteshaltung Breiviks teilen, aber so lange ein Unterschied zwischen Denken und Handeln besteht, muss man diesen Unterschied auch in der Antwort darauf berücksichtigen. "Nationalsozialismus ist keine Haltung, sie ist ein Verbrechen" plappert der Linke gern vor sich hin und glaubt, damit sei die Diskussion erledigt. Das ist sie leider nicht, denn unbeantwortet bleibt die Frage, wann denn ein zulässiger rechter Gedanke in ein rechtes Gedankenverbrechen übergeht und wie man sich eine Welt vorstellt, in der man alle Leute, die das Falsche denken, identifizieren und bestrafen kann.


Genau so platt, wie es vorher gegen den Islam, den Koran und gegen die Hassprediger ging, so geht es jetzt gegen den Rechtsextremismus und den Leuten, denen man bei dieser Gelegenheit immer schon eins auswischen wollte, namentlich Sarrazin und Broder. Breivik hat sich in seinem Manifest offenbar positiv über die beiden geäußert, und das passt nur zu gut ins linke Feindbild.


Man muss allerdings aufpassen, welchen Wert die Aussage hat, jemand habe jemand anderen zitiert. Ich halte von Broder sehr wenig. Für mich ist er ein selbstverliebter, relexionsunfähiger und rechthaberischer Schreiber unterer Qualität, der auf Verschwörungstheoretikerniveau jede Kritik an seiner Person als Bestätigung versteht - immerhin wurden alle großen Geister zu ihrer Zeit scharf angegriffen. Die Schülerzeitungspolemik, die er sich selbst gern herausnimmt, verbittet er sich selbstverständlich, wenn er selbst angegriffen wird, denn dann geht es auf einmal nicht mehr um seine Person, sondern um die große Sache, die er für seine persönliche Eitelkeit missbraucht.

Nun wird Broder also von einem Mörder zitiert. Was sagt uns das? Hätte er aus dem "Götterfunken" zitiert, wäre Beethoven dann ein Wegbereiter des Rechtsradikalismus? Erwächst dem Pennälergeschreibsel eines viertklassigen Spiegel-Autors irgendein Wert, weil es in den Aufzeichnungen eines Mörders auftaucht? Broder zum geistigen Vater der Morde von Oslo zu stilisieren, bedeutet, seinen Worten eine Macht zuzuerkennen, die sie einfach nicht besitzen. Der Spiegel hat schon längst seine Meinungsführerschaft im linksliberalen Spektrum eingebüßt. In den 80ern konnte man vielleicht noch am Montag sagen, was Deutschlands Linke die nächsten sieben Tage denken wird, aber inzwischen kann man sich mit sehr wenig Aufwand aus sehr vielen Quellen versorgen, so dass der Einfluss des einst so mächtigen Blatts erheblich geschrumpft ist. Entsprechend sieht es mit der Reichweite Broders aus. Als er in den 90ern noch aufgeregt für den Krieg gegen den Irak trommelte, konnte er die politische Debatte in Deutschland damit noch entscheidend prägen. Heute sucht man sich  politische Kommentare gezielt im Netz zusammen, und wer Brodes Hysterie nicht lesen mag, muss nicht wie einst im Spiegel über die entsprechenden Seiten hinwegblättern, sondern klickt sein Blog einfach nicht an.



Das Schlagwort der "geistigen Brandstiftung" zieht bei solchen Gelegenheiten ihre Runde durch die Blogs, aber ich halte diesen Begriff für unangemessen, weil er die Motive Broders und Sarrazins falsch einschätzt. Beide schreiben fremdenfeindliche Texte, aber sie wollen damit nicht zum Mord an Teilnehmern eines sozialdemokratischen Ferienlagers aufrufen, sondern zweierlei: Geld einnehmen und provozieren, die Frage ist nur, was ihnen wichtiger ist. Sie wissen, dass Deutschlands Linke in weiten Teilen funktioniert wie ein vor dem Supermarkt angeleinter Dackel: Harmlos, aber zuverlässig loskläffend, wenn man ihn ärgert. Deswegen haben Broder und Sarrazin einen Riesenspaß, vor dem Dackel herumzuhampeln und zuzusehen, wie der Kleine wütend lossprintet, um sich nach einem Meter fast mit seiner Leine zu strangulieren. Besonders amüsiert sie es, dass nicht nur ihre Befürworter ihre Bücher kaufen, sondern vor allem ihre poltischen Gegner, die sich an den Texten kräftig abarbeiten wollen. Glauben Sie mir, den beiden ist völlig egal, warum man ihren Büchern zu Rekordverkäufen verhilft, so lange die Einnahmen stimmen.


Ab und zu treiben sie es etwas zu bunt, und dann kann es passieren, dass der zur Weißglut aufgestachelte Dackel am Hosenbein zupft oder die Hand zwickt. Das wiederum ist ein willkommener Anlass, die zerrissene Hose und den blutenden Zeigefinger mit großer Märthyrergeste herumzuzeigen und sich von seinen Freunden bestätigen zu lassen, diese Dackel seien aber auch eine ganz besonders schlimme Plage, gegen die unbedingt etwas unternommen gehöre - wie man schon immer gefordert habe.


Eine Passage, die einem halbwegs vernünftig denkenden Menschen Rechtfertigung zum Mord an Kindern gibt, deren Eltern sich möglicherweise für Ausländerintegration einsetzen, wird man in Broders Schriften vergeblich suchen. Wer behauptet, von Broders selbstverliebten Tiraden im Spiegel ginge eine derart hypnotische Kraft aus, dass Breivik als praktisch willenlose Marionette nicht anders konnte, als dem Folge zu leisten, spricht den Mörder  von Schuld frei und begibt sich auf die diffuse Suche nach Hintermännern, um künftige Verbrechen weit im Vorfeld zu verhindern - also irgendwo im spekulativen Gestrüpp der dummes Gewäsch zwangläufig mit einschließenden freien Meinungsäußerung.


Das wiederum ist genau die Haltung, auf die Ordnungs- und Überwachungsfanatiker hinaus wollen: der Glaube, alles Böse ließe sich verhindern, wenn man nur früh genug eingriffe, die Idee, jede vom Konsens abweichende Meinung ginge irgendwann in Extremismus über, der zwangsläufig in Gewalt ende. Im Zweifelsfall sind diese Leute gar nicht einmal so unglücklich, dass die jüngsten Morde einen rechtsradikalen Hintergrund haben, weil die Linken bisher auf das Schreckgespenst des blutrünstigen Muselmanns nur begrenzt ansprangen. Jetzt aber kann man auch ihnen das Instrumentarium des modernen Überwachungsstaats als Heilsbringer verkaufen: Seht her, die Resetknöpfe fürs Internet, die Listen mit im Internet auffällig gewordenen Personen, die Vorratsdatenspeicherung, die Überwachungskameras, die Internetzensur - die sind zu nichts Anderem da, als euch vor dem braunen Mann zu retten, und haben wir erst einmal eine Gesellschaft geschaffen, in der nicht mehr partizipiert, sondern nur noch konsumiert wird, haben wir all diesen Gefahren, die durch die freie Rede entstehen, endgültig ein Ende bereitet.


Es gab in der ganzen Anti-Terror-Debatte der vergangenen Woche vor allem eine intelligente Äußerung, und die kam ausgerechnet vom Ministerpräsidenten des Landes, das gerade die Toten zweier Mordanschläge betrauert und bei dem hysterische Überreaktionen sogar noch am ehesten zu verstehen gewesen wären. Statt dessen erklärte Stoltenberg, die Antwort auf Gewalt bestünde nicht in Gegengewalt, sondern in noch mehr Demokratie und Offenheit.


Hut ab.

Samstag, 9. Juli 2011

Google - Plus oder Blase?

Vom Marketing her gesehen hat Google perfekte Arbeit geleistet. Vor elf Tagen erscheint auf Spiegel Online ein Artikel über den "Facebook-Rivalen". Ob die Kategorisierung stimmt, behandeln wir gleich, entscheidend ist: Die wahrscheinlich meistgelesene deutschsprachige Nachrichtenquelle im Internet lässt die beiden Stichworte "Google" und "Facebook" fallen - zwei Begriffe, die stets heftige Reaktionen und große Aufmerksamkeit bewirken. Für einen Großteil der Internetnutzer besteht "das Netz" ohnehin nur aus diesen beiden Anwendungen. Chat, E-Mail, Nachrichten und Homepage sind Facebook, und wenn man eine andere Seite im Netz ansteuern will, muss man ihren Namen in die Suchmaske von Google eingeben. Die Zeiten von Mail- und Chatclients sowie Bookmarks im Browser sind vorbei. Viele Menschen sind schon von zwei E-Mailadressen überfordert, wie kann man da von ihnen verlangen, sich mehr als zwei URLs zu merken?

Facebook ist fast ein Synonym für Internetkommunikation. Die Plattform hat weltweit beinahe 700 Millionen Mitglieder. Die Software war freilich nicht für solche Zahlen konzipiert, und so tauchten Sicherheitslücken auf, die man einer Hobbyanwendung auf einer Unihomepage noch nachsehen mag, aber wer ein Zehntel der Menschheit auf seinen Servern versammelt, hält deutlich brisantere Informationen in seinen Händen als die Frage, ob der Quarterback der Tigers mit einem Cheerleader ausgeht. Facebook hat es gleich mehrfach vermasselt, und selbst in Sachen Datenschutz eher entspannten Zeitgenossen ist aufgegangen, dass dahinter nicht nur ein paar laienhafte Codezeilen, sondern  Konzepte des Firmengründers stehen. Man mag sich weiterhin auf Facebook herumtreiben wollen, aber man muss sich im Klaren sein: Meine persönlichen Daten sind hier in denkbar schlechtesten Händen.

Nun sollte man nicht dem Irrtum verfallen, Google sei im Vergleich ein leuchtendes Vorbild. Wer es schafft, den sichtbaren Teil des Internets in einer Qualität zu katalogisieren, dass selbst Softwaregiganten wie Microsoft dem nichts entgegen zu setzen haben, weiß, wie man Daten verarbeitet. Ich behaupte, der einzige Grund, warum Google noch keinen Facebook-Skandal hatte, liegt einfach darin, dass Google bisslang einfach keine Daten dieser Art hat. Das soll sich ja bekanntlich jetzt ändern.

Auch Google hat in Datenschützerkreisen einen schlechten Leumund, wenngleich man hier - wie übrigens auch bei Facebook - aufpassen muss, wann man tatsächliche Lücken kritisiert und wann man einfach hysterisch herumzappelt. Ich versuche, halbwegs die Nerven zu behalten. Die unverlangt angelegten Suchprofile gefallen mir beispielsweise nicht, aber meine Hauswand finden Sie unverpixelt im Netz. Mein Eindruck mag mich täuschen, aber bei Google habe ich das Gefühl, dass dieses Unternehmen wenigstens klar sagt, wann es mit Daten auf bedenkliche Weise hantiert, während andere, die genau das Gleiche veranstalten, sich noch mehr hinter nebulösen AGB-Klauseln verstecken.

Der "Spiegel" schreibt also vom "Facebook-Konkurrenten", und die Netzgemeinde wird hellhörig. Google? Die mit der guten Suchmaschine, dem eleganten Maildienst und der kollaborativen Office-Suite, allerdings auch mit peinlichen Pleiten wie Buzz und Wave? Das ist etwa so, wie wenn im Fernsehzeitalter "Wetten Dass" gegen die "Superstars" am Samstagabend antraten. Egal, was man von den beiden Sendungen halten mag, allein, dass hier zwei Giganten aufeinander trafen, weckte Interesse. Selbst wenn man so wie ich Diensten wie Facebook mit komplettem Unverständnis begegnete, klickte man automatisch auf die neue Adresse von "Google Plus", einfach, um zu sehen, was da wohl sein mag.

Nichts.

Naja, nicht ganz nichts, nur die enttäuschende Ansage, der Dienst befände sich in einer sehr frühen Testphase, während der nur einige wenige ausgesuchte Testnutzer das Privileg besäßen, ein wenig herumspielen zu können. Ich gehörte offensichtlich nicht dazu. Weder meine Mailaktivitäten noch mein Blog haben genug Relevanz, um in der Liga deutscher Netzaktiver wie Michael Seemann, Martin Haase oder Kristian Köhntopp mithalten zu können. Statt dessen durfte ich als Zaungast staunend zusehen, wie sich die Welt auf Twitter und in diversen Artikeln über Stärken und Schwächen des Dienstes ausließ. Mein Kollegenkreis war natürlich auch längst schon da. "Ja, dann komm doch einfach mit zu Schiiplass, ich hab' dir doch schon 'ne Nachricht geschickt." - "Wie denn, du Spaßkeks? Ich versuche mindestens viermal am Tag, mich da einzuloggen, aber das Einzige, was ich sehe, ist die Nachricht, Gesindel wie mich ließe man erst dann rein, wenn selbst mein Dackel einen Zugang hat."

So gingen die Tage ins Land. Google hatte einige Aufmerksamkeit erregende Nachrichten platzieren können und die Tore zu ihrem Dienst genau so weit geöffnet, dass ständig irgendwer darüber redete, wie toll es denn da sei, man selbst aber nur das Testbild auswendig lernen und sich fragen durfte, ob die allgemeine Hysterie der Realität gerecht werde. Gestern in den späten Nachmittagsstunden war es dann soweit: Ein Kollege hinter mir quietschte ganz aufgeregt "Ich bin drin", mit zitternden Fingern klickte ich zum ungezählten Mal auf den Link und - da war es. Optisch etwas dürr, aber so ist Google eben. Als ich das nächste Mal vom Bildschirm aufblickte, dämmerte es draußen.

Nun muss ich zugeben, nicht jede Mode im Netz verstanden zu haben. Wozu man Mail und Chat braucht, war mir unmittelbar klar. Fürs Bloggen brauchte ich eine Weile, und auch jetzt muss ich ehrlicherweise sagen, dass der Menschheit nichts fehlt, wenn Leute wie ich keine überlangen Pamphlete zusammenklimpern können, aber ich habe meinen Spaß daran. Wenn es zufällig noch jemand liest, umso schöner. Da ich lange Zeit nur ISDN hatte, erschloss sich mir die Welt der Podcasts und Webvideos nur zögerlich, aber da so etwas im Prinzip eine Weiterentwicklung des Bloggens darstellt, konnte ich damit etwas anfangen. Wikis und Etherpads fand ich auf Anhieb großartig. Am längsten brauchte ich für Twitter. Warum, fragte ich mich, sollte irgendein Mensch mit mehr Verstand als eine Miesmuschel 140 Zeichen lange Nachrichten  absetzen und vor allem: Warum sollte irgendwer den Quatsch lesen wollen? Es kostete mich einige Zeit, um zu begreifen, dass man ja nicht gezwungen ist, Unsinn zu twittern, sondern dass man auch über relevante Dinge schreiben kann. 7000 Tweets und 200 sorgfältig gepflegte Follower später ist dieser Dienst für mich inzwischen eine wichtigere Nachrichtenquelle als Heise und Spiegel Online.

Was mir weiterhin fremd ist und auch meine Sicht auf Google Plus verzerrt, ist Facebook. Vielleicht liegt es an meiner ländlichen Herkunft, dass ich nie Wert darauf legte, besonders viele, sondern lieber wenige und dafür gute Freunde zu haben, und um mit denen in Kontakt zu bleiben, brauche ich keine Website, sondern ein Adressbuch, eine Telefonnummer, eine E-Mailadresse und allenfalls noch eine Chat- oder Twitter-Kennung. Ich weiß, vieles davon finde ich auch bei Facebook, aber wer so wie ich Absurditäten wie ein Post- und Fernmeldemonopol, noch verrückter: ein Zündholzmonopol erlebt hat, kennt die Gefahren, die eine solche Konzentration birgt. Auf der einen Seite bekommt man alles aus einer Hand, auf der anderen Seite bestimmt diese eine Hand auch die Regeln. Natürlich kann ich bei Facebook mit meinen Freunden auf viele Weisen Nachrichten austauschen, aber eben nur so, wie Facebook es zulässt. Wenn der Dienstleister auf einmal auf die Idee kommt, bestimmte Inhalte zu zensieren, bestimmte Personengruppen auszuschließen oder bestimmte Nachrichten zu einem Personendossier zusammenzufassen und diese an meine Krankenkasse, meinen Arbeitgeber oder an Nachrichtendienste weiter zu leiten, gibt es nichts, was ich dagegen unternehmen kann. Eine AGB-Änderung reicht. Je mehr  unterschiedliche Nachrichtenkanäle ich nutze, desto differenzierter kann ich auf solche Situationen eingehen.

Auf der anderen Seite will ich gar nicht, dass mich jeder jederzeit finden kann. Mein Abijahrgang und ich haben uns seinerzeit gegenseitig gehasst, und wenn jetzt nach Jahrzehnten bilateralen Ignorierens ein ehemaliger Jahrgangskollege eine meiner sorgfältig gehüteten Mailadressen herausfindet und mich zu  einem Abi-Nachtreffen einlädt, frage ich mich ernsthaft, was er damit bezweckt. Sollen wir gegenseitig unsere erschlafften Gliedmaßen und ergrauten - so überhaupt noch vorhandenen - Haare bewundern? Sollen sich hundert ehemalige Individualisten, die seinerzeit auszogen, die Welt zu ändern, gegenseitig trösten, den Verlockungen des Spießertums nachgegeben zu haben? Ist es das, wobei mir Facebook helfen soll? Vergesst es.

Besonders gruselt es mir bei der Vorstellung, was die Typen aus meinem Bekanntenkreis, die bei Facebook herumlungern, mit meinen Daten anfangen, schlimmer noch: bereits angefangen haben. Als besondere Dienstleistung bietet Facebook an, dass man sein Adressbuch einfach hochlädt, und das geschieht mit einem Mausklick, ohne dass mich jemand fragt, ob ich das will. Ist mein Gesicht zufällig auf einem Partyfoto zu sehen, steht diese Information auf einmal auch bei Facebook - wieder einmal ohne mein Zutun, geschweige denn meiner Zustimmung. Künftig geht das Ganze automatisiert durch Gesichtserkennung, und dann kann jeder mit ein bisschen Programmierkenntnissen über mich ein Personenprofil zusammenstellen, gegen die meine Stasiakte ein nichtssagendes Schmierblatt ist. Es mag ja sein, dass viele Menschen damit keine Schwierigkeiten haben, aber unter anständigen Leuten fragt man sich gegenseitig, bevor man solche Sachen veranstaltet - was bei Facebook eindeutig nicht geschieht.

Jetzt gibt es also Google Plus, und als naiver Beobachter frage ich mich, wo der große Unterschied sein soll. Ähnlich wie bei Facebook habe ich eine Nachrichtenliste von Leuten, die ich beobachten möchte, kann dort kommentieren, "Like" heißt bei Google "+1", aber ansonsten treffe ich Bekanntes: Adressbücher kann ich wie bei Facebook importieren, und Gesichter auf Fotos kann ich markieren. Zusätzlich kann ich noch Videotelefonkonferenzen schalten, wobei ich wette, dass Facebook schnell nachziehen wird. Der einzige konzeptionelle Unterschied sind die verschiedenen Kreise, in die ich meine Bekannten einsortieren kann und die damit verbundene Möglichkeiten, bestimmte Nachrichten nicht mehr an die ganze Welt, sondern nur noch gezielt an bestimmte Kreise zu schicken. Nett sind auch die "Sparks", eine Art nach eigenen Kriterien gefilterter Nachrichtenstrom aus dem Netz. Ich habe meine Zweifel, dass diese beiden Kleinigkeiten zu einer Massenhaften Migration von Facebook zu Google Plus führen werden.

Das ist aber möglicherweise auch gar nicht die Intention. Sascha Lobo schätzt in einem sehr lesenswerten Artikel die Philosophie hinter dem neuen Dienst ein. In seinen Augen liegt der Schwerpunkt bei Facebook mehr auf dem Sozialen, bei Google mehr auf dem Medialen. Facebook frage: "Wer bist du?", Google hingegen: "Wofür interssierst du dich?" Er spricht von der unterschiedlichen DNS der beiden Dienste. Es kann sein, dass er damit - wie so oft - richtig liegt, aber um das biologische Bild weiter zu benutzen: Den Genotyp kann ich von außen nicht erkennen, nur den Phänotyp, und genau der sieht im Moment noch Facebook derart ähnlich, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie die Standardnutzer einen großen Unterschied sehen und darauf reagieren sollen.

Es bleibt für mich die Frage, ob Google das Zeug hat, Facebook gefährlich zu werden. Die Zahl von Nutzern, die vom laxen Datenschutz bei Facebook so sehr die Nase voll haben, dass sie selbst Google als einen sicheren Hafen ansehen, dürfte vernachlässigbar sein. Hat das Netz Platz für zwei Facebooks, numerisch gesehen ist dies ja offensichtlich möglich? Hier lautet meine These: Nein, prinzipbedingt kann es nur ein Facebook geben. Warum? Weil die Attraktivität derartiger sozialer Netze gerade darin besteht, dass man sich gegenseitig findet. Wenn ich interessante Leute suche, dann finde ich 700 Millionen davon bei Facebook. Parallel sind einige von ihnen auch bei Google vertreten, aber warum sollte ich ihnen dorthin folgen, wenn ich sie und viele andere schon bei Facebook habe? Der gesamte Wert eines sozialen Netzes hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, dort einen bestimmten Menschen zu finden, und die ist nun einmal bei Facebook signifikant höher als bei Google. So lange Google und Facebook nicht untereinander Daten austauschen - was aufgrund des Geschäftsmodells völlig absurd wäre - bin ich gezwungen, mich im gleichen Netz zu befinden, wo sich derjenige aufhält, dessen Nachrichten ich lesen möchte. Das ist wohl auch der Grund, warum AIM, MSN, Yahoo, GMX, Google, Yammer, ICQ und wie die ganzen Chat-Insellösungen auch immer heißen mögen, massiv an Bedeutung verloren haben: Die Leute wollen einfach nicht mit einem halben Dutzend Chatkonten  jonglieren, um mit den Leuten in den verschiedenen zueinander inkompatiblen Netzen in Kontakt bleiben zu können. Einmal Facebook - alles drin. Ich behaupte deshalb, dass Facebook durch Google etwa so gefährdet ist wie Windows durch Linux.

Ist wenigstens Twitter in Gefahr? Hier sehen die Zahlenverhältnisse schon ganz anders aus: In Deutschland bewegt sich die Zahl registrierter Nutzer irgendwo um 2 Millionen, von denen aber vielleicht ein Drittel den Dienst wirklich nutzt. Deutsche Facebook-Nutzer gibt es hingegen knapp 19 Millionen. Wenn ich mir jetzt überlege, dass ich mit meinen Tweets gerade einmal 200 Menschen erreiche, während jeder Mittelstufenschüler mit einer Facebooknachricht ein Vielfaches an Lesern informiert, werde ich, was die Einschätzung der eigenen Relevanz angeht, sehr bescheiden.

Lästerlich gesagt wird es kaum jemand merken, wenn Twitter auf einmal weg wäre. Das ist natürlich nicht wahr, aber das spartanische Konzept von Twitter vermag die wenigsten zu begeistern. Sascha Lobo stellt zu Recht fest, dass sich Twitter über Jahre nicht fortentwickelt hat, und betrachtet man die Sache selbstkritisch, ist Twitter ein Spielzeug für ein paar zottelige Nerds, aber kein Massenmedium. Bis jetzt ist ja nicht einmal klar, wie man mit diesem Dienst Geld verdienen will - zumindest nicht, ohne die ganzen datenschutzaffinen Computerzombies zu vergraulen. Vielen fällt es auch schwer, den Reiz der scheinbar antiquierten Nachrichtenbegrenzung auf 140 Zeichen zu verstehen. In der Tat ist es eine Kunst, so griffig und prägnant zu schreiben, dass man in den wenigen Bytes nicht nur sein Anliegen sondern vielleicht auch noch einen Link auf einen Artikel unterbringt. Wer schon einmal in einer Zeitungsredaktion gearbeitet hat, kennt die Mühe, die es bereitet, eine stundenlange Bundestagsdebatte ein einer Schlagzeile mit vielleicht fünf Worten unterzubringen. Ich kenne viele Redakteure, die an dieser Aufgabe scheitern.

Genau hier liegt der Reiz von Twitter. Egal, wieviel Blödsinn der Autor verzapft, nach 140 Zeichen ist Schluss. Wenn er es bis dahin nicht geschafft hat, mich zu interessieren, liest auch kein Mensch den Artikel, auf den er in der Regel velinkt. Man mag von der Bild-Zeitung halten, was man will, mit ihrem Slogan "Wer etwas zu sagen hat, braucht nicht viele Worte" traf sie einen wichtigen Punkt. Was war die wichtigste Aussage der Netzaktivisten im Jahr 2009? "Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen." - abgesetzt von 343max auf Twitter.

Google - und natürlich auch Facebook - können Twitter verdrängen, einfach weil zu wenigen Nutzern klar ist, warum im Zeitalter der Terabyteplatten eine Nachricht nicht einmal SMS-Größe haben darf. Die Leute wollen schwafeln, und den Zwang, sich beherrschen zu müssen, empfinden sie als Beleidigung ihres künstlerischen Schaffens. Wer etwas auf sich hält, hat ein Smartphone mit GSM-Flat, da kann man schreiben, bis der Akku leer ist. Für karge Dienste wie Twitter ist in einer solchen Welt kein Platz.

Google ist - vorsichtig gesagt - sehr groß. Wenn dieses Unternehmen sich anschickt, einen neuen Dienst anzubieten, muss man dies allein deswegen schon ernst nehmen, weil Google die Marktmacht und das Geld hat, diesen Dienst zu fördern. Auf der anderen Seite hat Google auch schon einige Male daneben gelegen, siehe beispielsweise Wave und Buzz - übrigens ein Twitter-Konkurrent. Die Welt nimmt Google nach wie vor überwiegend als Suchmaschine wahr, mögen die Fakten auch anders aussehen. Eine Konkurrenz für Facebook sehe ich hier nicht, dazu kommt Plus zu spät und bringt zu wenig Neues. Ich bin gespannt, ob und wenn ja welche Nische Plus finden wird. Einen bemerkenswerten Start hat er schon hingelegt, jetzt muss er zeigen, ob er sich, wenn sich die Aufregung legt, nicht zur Blase entwickelt.