Man kann über das, was Wikileaks veröffentlicht, geteilter Meinung sein. Man mag mag über die menschlichen Qualitäten der Köpfe hinter dieser Plattform geteilter Meinung sein. Wenn mich aber etwas davon überzeugt, dass Wikileaks - aller berechtigten Kritik zum Trotz - unbedingt verteidigt werden muss, dann ist es die klägliche, schmierige und an billige Mystery-Reißer erinnernde Art, mit der die heruntergelassenen Hosen erwischten Regierungen das Whistleblower-Portal gerade bekämpfen. Ein DDOS-Angriff gegen die Site nimmt der Provider zum Anlass, Wikileaks gleich komplett abzuklemmen, die Schweizer Banken, die beim Verwalten der herausgebrochenen Goldplomben vergaster Juden und von Steuerhinterziehermillionen sehr entspannt agieren, bekommen einen Formalfimmel, als es um die Eröffnung eines Wikileaks-Kontos geht, Kreditkartenfirmen sind zwar weiterhin bereit, die Mordbrenner vom Ku-Klux-Klan zu finanzieren, aber bei Informationsfreiheit hört der Spaß dann doch auf, und als Krönung taucht zufällig in genau dem Moment ein Vergewaltigungsvorwurf auf, in dem diverse Regierungen den Kopf Assanges am liebsten auf einer Lanze aufgespießt sehen wollen.
Leute, das hat schon kein Geschmäckle mehr, das hat ausgemachten Geschmack und zwar schlechten. Wenn ihr schon steuerlich subventioniert mein Demokratieempfinden beleidigt, dann doch bitte wenigstens wie Profis.
Welchen Wert sehe ich in einer Plattform, die es mir schriftlich gibt, dass mein Außenminister eine komplette Fehlbesetzung ist (als wenn ich Wikileaks bräuchte, um das zu wissen)? Mehrere. Erstens geht die Botschaft an die Geheimniskrämerregimes dieses Planeten: Passt auf euren Kram besser auf. Wenn ihr wirklich wollt, dass eure Dossiers nicht in alle Welt hinaus gepustet werden, wäre es eine gute Idee, wenn nicht die halbe Nation auf diese Daten Zugriff hat.
Die zweite Botschaft an diese Regimes lautet: Eine viel bessere Strategie, als ständig seinen Müll unter den Teppich zu kehren, besteht darin, diesen Müll gar nicht erst entstehen zu lassen. Irgendwer in eurem Umfeld hat immer genug Geltungsdrang oder Gewissen, um unter dem Schutz der Anonymität diesen Schmutz wieder hervor zu kramen. Für mich als staatlich geprüften Pazifisten ist der Skandal weniger, dass Krieg ein blutiges Verbrechen ist. Das weiß ich seit Jahrzehnten. Der Skandal ist vielmehr, dass vom Volk gewählte Regierungen es nicht einmal für nötig halten, dies vor ihrem Volk zuzugeben und uns statt dessen vorlügen, Krieg sei für unsere Soldaten fast ein Kuraufenthalt.
Wissen ist Macht. Wissen ist ein Herrschaftsinstrument. Wissen ist ein Gunstbeweis. Wenn die Regierung Sie für wert erachtet, lässs sie ein kleines Informationsbrosamen von ihrem Tisch herabfallen. Ich bestreite nicht, dass es bestimmte Informationen gibt, die entweder niemanden etwas angehen oder auch tatsächlich eine Gefahr darstellen. Ich bestreite aber, dass ein Großteil des zur Zeit von Regierungen als geheim klassifizierten Materials diese Einstufung zu recht trägt.
Es ist keine Schande, gelegentlich Mist zu bauen. Wir sind alle Menschen. Ich verspreche Ihnen: Wenn ein Regierungssprecher sich gelegentlich vor die Presse setzt und einfach zugibt, dass man eine bestimmte Situation falsch eingeschätzt hat, bleibt das Volk gelassen. Gar nicht gelassen reagiert ein Volk, das immer wieder erfährt, wie man es zu belügen versucht und im Fall eines offenkundig gewordenen Versagens häppchenweise gerade nur das zugibt, was gerade bekannt wurde.
Vertrauen ist das A und O einer demokratisch gewählten Regierung. Wenn das Volk davon ausgehen muss, dass die Regierung nur deswegen gerade so glücklich lächelt, weil sie den nächsten großen Trümmer gerade noch unter der Decke halten kann, besitzt sie keine Legitimation mehr.
Ebenso wichtig wie Vertauen ist in einer Demokratie Information. Das Volk hat das Recht und die Pflicht, über das Agieren der Regierung möglichst genau informiert zu sein. Andernfalls kann es keine qualifizierte Wahlentscheidung treffen. Wie soll ich wissen, was ich wähle, wenn ich davon ausgehen muss, dass die Kandidaten mir wesentliche Informationen vorenthalten?
Warum aber sollten Informanten lieber zu Wikileaks gehen als zu denen, deren Aufgabe zum Teil über Jahrhunderte darin bestand, investigativ zu arbeiten: den Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen? Zum einen, weil es kaum noch Zeitungen gibt, die personal-, zeit- und kostenintensiv recherchieren. Weil es einfacher sowie billiger ist und ohnehin kaum einer den Unterschied merkt, klicken sich viele Journalisten ein wenig durchs Internet, rufen im Extremfall noch jemanden an und schreiben dann schnell ihren Artikel. Wer sich gelegentlich das Vergnügen gönnt, mehrere verschiedene Zeitungen des gleichen Tages zu lesen, stellt oft befremdet fest, wie stark sich einige Artikel inhaltlich ähneln. Gerade bei Themen, die zu verstehen sehr viel Arbeit voraussetzt, ist die Versuchung groß, sich das Verstehen zu sparen und einen gut klingenden Beitrag der Konkurrenz in leicht abgewandelter Form zu übernehmen. So kann es geschehen, dass offenkundiger Blödsinn einmal quer durch das Mediengestrüpp wuchert, ohne dass auch nur ein Mensch auf die Idee gekommen wäre, die Behauptungen zu hinterfragen.
Andererseits gebieten selbst die investigativen Medien über ein äußerst knappes Gut: Sendezeit oder Spaltenplatz. Sie müssen also zwangsläufig filtern. Dabei fallen fast zwangsläufig Nachrichten weg, die nur wenige Menschen interessieren. Im nächsten Schritt ist die Versuchung groß, sperrige und zäh zu vermittelnde Themen zu überspringen, dann will man es sich möglicherweise mit dem Politiker, der immer wieder für Stellungnahmen und Inneineinsichten seiner Partei zur Verfügung stand, nicht verscherzen, und zu guter Letzt gilt die Sorge auch den Werbekunden, die möglicherweise beleidigt abspringen könnten. Es gibt also viele ehrenwerte und auch einige zweifelhafte Motive, warum bestimmte Nachrichten es nie in die großen Medien schaffen.
Wikileaks hingegen hat Speicherplatz im Überfluss. Ob da ein paar tausend Seiten mehr oder weniger eingestellt werden, ist aus technischer Sicht nicht weiter wichtig. Damit haben aber eben auch Dokumente eine Chance, deren Bedeutung relativ begrenzt ist, aber die Betroffenen dennoch davon erfahren sollten.
Die derzeitige Taktik von Wikileaks, dennoch mit den klassischen Medien zusammenzuarbeiten und exklusiv Informationen an bestimmte Nachrichtenmagazine zu leiten, mag in diesem Zusammenhang befremden, dennoch kann dieses Vorgehen sinnvoll sein. Die meisten Menschen beziehen ihre Nachrichten gern in aufbereiteter Form. Entsprechend erreicht eine Meldung des "Guardian" mehr Empfänger als wenn sie von Wikileaks käme. Es liegt also nahe, die Geschichten zunächst den klassischen Medien anzubieten und sie erst bei Desinteresse direkt auf die Plattform zu stellen. Ich weiß nicht, ob bei den Verhandlungen mit den Zeitungen Geld fließt, aber da eine Whistleblower-Infrastruktur mit Kosten verbunden ist, halte ich das nicht für falsch.
Aus dem Versuch, Wikileaks endgültig kalt zu stellen, kann man mehrere Schlüsse ziehen. Der erste ist: Die Plattform muss sich breiter verteilen und vor allem global synchronisieren können. Es reicht nicht aus, dass nach dem Abschalten der Hauptseite an allen Ecken der Welt Abzüge des Originalinhalts zu finden waren. Es muss auch eine Möglichkeit geben, diesen Kopien neue Dokumente zuzuführen und diese Dokumente auf alle anderen Kopien zu verteilen. Sonst kann es sein, dass man ein bestimmtes Dokument sucht, nach einiger Zeit dann herausfindet, auf welcher Wikileaks-Kopie dieses Dokument vorliegt, diese Kopie aber nicht aufrufen kann, weil sie bereits gesperrt wurde. Dass einige Wikileaks-Aktivisten bereits vor Monaten im Streit das Projekt verließen und nun ihre eigene Plattform aufbauen, ist aus meiner Sicht eher eine gute als eine schlechte Nachricht. Es ist gefährlich, wenn es den einen zentralen Kopf gibt, der die Sache voran treibt. Meinerwegen müssen sich die verschiedenen Whistleblower-Seiten untereinander nicht mögen - so lange sie wenigstens insofern kooperieren, dass sie ihr Material untereinander verteilen, gefällt mir eine Medusa, bei der sofort Köpfe nachwachsen, wenn man einen abschlägt.
Nah mit diesem Thema verwand ist der zweite Schluss: Wir haben zugelassen, dass dem Netz Redundanz verloren ging. Wir haben erlaubt, dass wenige große Akteure Schlüsselpositionen im Netz bezogen und die Infrastruktur zentralisierten. Deswegen reicht es, einige wenige Kreditkartenfirmen und Internetbezahldienste auf Linie zu bringen, um den Geldfluss zu Wikileaks zu unterbrechen. Wer Inhalte zum Verschwinden bringen will, muss nur dafür sorgen, dass sie bei Google keine Treffer bekommen, bei Facebook keine Fanseite geschaltet und bei Twitter der Hashtag nicht gefunden wird. Ich habe wie üblich kein Patentrezept, sondern nur eine Anregung. Lasst uns die Unbequemlichkeit in Kauf nehmen und uns wieder auf mehrere voneinander unabhängige Werkzeuge verlassen. Es ist beispielsweise gefährlich, dass die größten unser Bild vom Internet bestimmenden Suchmaschinen sämtlich von der gleichen Staatsregierung zu Fall gebracht werden können.
Die Frage, ob Wikileaks hätte veröffentlichen dürfen, was sie veröffentlicht haben, tritt im Moment in den Hintergrund, weil es um die viel grundsätzlichere Frage geht, wie man eine Plattform verteidigt, die es dem kleinen Rädchen ermöglicht, sich über die Funktion der großen Maschine zu beschweren, ohne dabei gleich Gefahr zu laufen, durch ein weniger laut quietschendes Bauteil ersetzt zu werden. Die Dossiers der US-Diplomaten über die Vertreter anderer Staaten liegen nach meinem Empfinden auf der Grenzlinie. Ihre Veröffentlichung verstellt ein wenig den Blick auf die Tatsache, dass andere Länder ebenfalls exakt solche Dossiers erstellen und dass diese keinen Deut freundlicher ausfallen. Ich finde es auch nicht weiter schlimm, wenn man untereinander Klartext spricht. Die Frage ist, ob irgendein Mehrwert davon ausgeht, solche zu recht nicht an die große Glocke gehängten Dokumente zu veröffentlichen. Auf der anderen Seite wurden im Zuge dieser Veröffentlichung auch viele andere Dateien publiziert, die man als politisch Interessierter ruhig kennen sollte.
Muss man unbedingt jede Sicherheitslücke ausnutzen, um Daten abzusaugen? Nein, wenn man Hackerethik ernst nimmt, nicht. Der CCC bringt es seit Jahrzehnten auf den Punkt: Öffentliche Daten nützen, private schützen. Auf der anderen Seite merke ich an, dass selbst die Bundesregierung bei der Einführung des neuen Personalausweises die Auffassung vertritt, es reiche, die bereitgestellte Hard- und Software halbwegs abzusichern; wenn der Nutzer seine lokale Maschine nicht im Griff habe, sei dies seine Schuld. Was ich damals bereits schrieb, behaupte ich weiterhin: Vielleicht hält man sich auf diese Weise formaljuristisch den Rücken frei, die Sicherheit erhöht man mit dieser Haltung nicht.
Was mich im Moment freut, ist einerseits die heftige Reaktion der Netzbewohner, andererseits das Echo in der Analogwelt. Im Rahmen ihrer Neutralitätspflicht berichten viele Medien überraschend positiv über die Proteste gegen die Versuche, Wikileaks zum Schweigen zu bringen. Offenbar haben die klassischen Nachrichtenkanäle begriffen, dass es nicht nur um eine lästige Whistleblower-Seite geht, sondern um die Arbeit des investigativen Journalismus an sich.
Noch mehr als die Reaktion der klassischen Medien freut mich jedoch die Haltung der mäßig an Netzthemscn interessierten Öffentlichkeit. Ich wurde in den vergangenen Tagen immer wieder auf Wikileaks angesprochen, und niemand interessierte sich dafür, ob die schwedischen Vorwürfe gegen Assange oder die DDOS-Angriffe gegen Paypal gerechtfertigt sind. Es ging vielmehr um die Frage, welchen Wert Whistleblower-Portale für die Demokratie darstellen, wo die Grenzen des Veröffentlichenswerten verlaufen und vor allem darum, ob die US-Regierung mit ihrem Kampf gegen Wikleaks ihre Kompetenzen nicht hemmungslos überschreitet. Dass die Leute endlich das Netz nicht nur als Tummelplatz von Kindervergewaltigern, Nazis und Bombenschmeißern zu sehen beginnen, ist einer der wichtigsten Fortschritte in der jetzt laufenden Diskussion.
Es bewegt sich was. Lasst es uns vorantreiben.