Samstag, 26. Februar 2011

Hausmeister des Denkens

Wenn wirklich alle Fragen dieser Welt geklärt sind, wenn wir es geschafft haben, die bald sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten durchzufüttern, Krebs, AIDS und was die Pandorabüchse noch an Gemeinheiten zu bieten hat, zu besiegen, wenn wir es geschafft haben, dass Juden, Muslime, Christen und alle Anderen, die in irgendeiner Form an das Gute glauben, einander lachend in den Armen liegen, wenn die Völker dieser Welt sich endlich gegenseitig lieben gelernt haben, dann - und keine Sekunde früher - werde ich mich ernsthaft mit dem Thema politisch korrekter Sprache beschäftigen. Bis dahin werden sich deren Protagonisten mit der einen Frage von mir begnügen müssen:

Seid ihr eigentlich vollkommen bescheuert?

Vor dreißig Jahren habe ich verstanden, dass die Anrede "Neger" diskriminierend ist. Thema abgehakt. Vor zwanzig Jahren habe ich verstanden, dass es einige Frauen vorziehen, in grammatisch korrekter Form angesprochen zu werden, insbesondere dann, wenn sie sich zusammen mit Männern in einer Gruppe befinden. Soll mir recht sein, so lange niemand von mir verlangt, dieses grenzenlos alberne Binnen-I zu schreiben, sondern ich nach Belieben mal die männliche, mal die weibliche Form wählen darf. Ja, ich merke schon, das hätten einige gern anders. Was aber den neuesten Modetrend in Sachen sprachlicher Gleichberechtigung anbelangt, frage ich mich nicht mehr, ob deren Protagonisten den letzten Rest Verstand verloren haben, ich bin fest überzeugt davon. Es heißt nicht mehr "Schreiberinnen und Schreiber" oder "Schreiber/-innen" oder "SchreiberInnen", sondern "Schreiber_innen", mit einer kleinen Pause zwischen dem Wortstamm und der weiblichen Form. Grund: Es gäbe ja nicht nur Frauen und Männer, sondern auch Frauen, die sich als Männer fühlen, Männer, die sich als Frauen fühlen, Homosexuelle, Transsexuelle, Menschen, die sich noch nicht ganz sicher sind, was sie sein wollen, Andere wiederum, die ihre Operation noch nicht ganz abgeschlossen haben und irgendwo auf dem Weg vom einen zum anderen Geschlecht sind. All diese Leute werden aufs Verwerflichste diskriminiert, wenn man nur zwei der zillionen denkbaren Geschlechter anspricht, weswegen der politisch korrekte Mensch jetzt diese bewusste kleine Pause einlegt und damit allen zuhörenden Wesen die Gelegenheit bietet, sich das ihnen Passende zu denken.

Denken. Wenn's denn so einfach wäre.


Wo der politisch korrekte Sprachverwurstler gerade dabei ist, geht es der diskriminierenden Anrede von Menschen dunklerer Hautfarbe endlich an den Kragen. "Farbiger" darf man nämlich auch nicht mehr sagen, weil das angeblich "irgendwie bunt" klingt und deswegen lächerlich wirkt. "Schwarz" ist auch böse, weil viele dieser Menschen eben nicht schwarz sind, sondern deutlich heller. Nein, die einzig korrekte Anrede dieser Leute lautet - Kunstpause:

Piplofkallä.

Bitte was?

Piplofkallä.

Sagt wer?

Na, sie selbst.

Und wer sind "sie"?

Was soll die dumme Frage? Natürlich diejenigen, die man früher niederträchtigerweise "Farbige" oder "Schwarze" genannt hat, und denen es jetzt so viel besser geht, seitdem wir sie mit dem von Martin Luther und Frantz Fanon geprägten Begriff benennen.

Ach so, jetzt verstehe ich erst, das ist Englisch. "People of Color" - was noch einmal was genau übersetzt heißt?

"Leute von Farbe."

Also "Farbige"?

Um Himmels Willen nein, natürlich nicht, das ist ja rassistisch.

Weißt du, wie ich die Leute nenne?

Na?

Menschen.

Menschen?

Menschen, denn genau das sind sie, oder willst du das bestreiten?

Nein, selbstverständlich nicht, aber der Ausdruck passt doch nicht, also schon, aber ich meine, irgendwie muss ich doch, ich meine, also ich muss doch sagen, dass die, naja, also dass deren Haut...

Das heißt also, dass in deinem kleinen verquarzten Rassistenschädel die Hautfarbe der Leute irgendeine besondere Rolle spielt? Möglicherweise bist du noch nicht weit genug, aber ich schon. Ich arbeite für einen der größten Arbeitgeber der Welt. Ich habe es mit Indern, Pakistanern, Malayen, Chinesen, Japanern, Niederländern, Tschechen, Letten, Slowaken, Ukrainern, Kubanern, US-Amerikanern, Mexikanern, Südafrikanern, Kongolesen, Iranern, Türken und noch einem Haufen anderer Menschen zu tun, deren Nationalität mir gerade nicht einfällt. Glaubst du etwa, ich könnte es mir auch nur im Ansatz leisten, Rassist zu sein? Glaubst du etwa, bei diesem Sammelsurium von Herkunftsländern eigne sich die Hautfarbe noch als Unterscheidungsmerkmal? Ich unterscheide zwischen Managern und Leuten mit Ahnung, zwischen Entwicklern und verantwortungsvoll Handelnden, zwischen Leuten, die mir sympathisch sind und denen vom  Marketing, aber dein naseweißes Leute-mit-Farbe-Gewäsch hilft mir nicht weiter. Geh spielen und komm wieder, wenn Du eine Sprache sprichst, die nicht dazu da ist, wie ein Pfau vor Anderen herzustolzieren und zu zeigen, wie wahnsinnig intellektuell man doch ist, sondern eine Sprache, mit der sich Menschen verständigen.

Es sind die Hausmeister des Denkens, die sich mit Cordhut und Gummistiefeln angetan über ihre klägliche Existenz hinwegtrösten, indem sie ein Verbotsschild nach dem anderen aufhängen. Man kann das Treppenhaus gar nicht sauber genug gewischt, die Schuhe nicht zu sorgfältig das Fahrrad niemals zu ordentlich abgestellt haben, als dass es nicht irgendetwas daran zu nölen gäbe. Wenn man schon auf ganzer Linie versagt hat, im wirklichen Leben etwas zu verbessern, so verwendet man jetzt die ganze Energie auf Scheinprobleme, und da sich damit auch jede Menge Geld scheffeln lässt, schreibt man am Besten dazu ein Buch. Was dem rechten Spießer das Buch eines abgehalfterten Bundesbankers, ist dem linken Spießer das Buch "Deutschland Schwarz Weiß" von Noah Sow. Da der linke Spießer die Selbstkasteiung liebt, schreibt Sow in ihrem Buch auch weniger über den ohnehin einschlägig bekannten Feind, sondern haut munter auf den Leser des Buches ein, der ja ein ganz besonders Schlimmer ist. Was? Sie leugnen? Typisches Zeichen für Rassismus.

Wer in Geschichte aufgepasst hat, erinnert sich vielleicht noch an die Hexenprozesse. Gestand die Angeklagte, war die Sache sowieso klar, stritt sie ab, war dies ein weiteres Indiz für ihre Hexerei. Einen ähnlichen Trick wendet Sow an, indem sie jeden möglichen Einwand gegen ihre Thesen als besonders perfiden Hinweis wertet, wie tief verwurzelt der Rassismus im eigenen Denken ist. Die Masche funktioniert perfekt und hat den angenehmen Nebeneffekt, dass der sich frisch geläutert fühlende linke Spießer unbedingt und ungefragt seinem Umfeld erzählen muss, wie selbstentlarvend das Buch doch sei, und man solle es sich unbedingt selbst kaufen. Setzt sich der Angesprochene zur Wehr, kann er sicher sein, das Buch bei nächster Gelegenheit geschenkt zu bekommen. Wer auch immer dafür zahlt: Sow verkauft ein weiteres Exemplar.

"Wieder sei einer Schwarzen Frau dank, die ihr Wissen und ihre Erkenntnisse den Weißen zur Verfügung stellt, um eine positive Veränderung zu ermöglichen." - so lautet eine vor linker Selbstgefälligkeit triefende Amazon-Kundenrezension. Genau so sieht er nämlich aus, der linke Rassismus: Der weiße Mann kriegt's nicht auf die Reihe, deswegen muss die schwarze (Migrationshintergrund, damit per se von der Gesellschaft benachteiligt und automatisch im Recht) Frau (seit Jahrtausenden wegen ihrer Weisheit von patriarchalen Strukturen brutalstmöglich unterdrückt und damit noch viel mehr im Recht) die Sache richten. Das ist die gleiche dümmliche Denke, die hinter der Behauptung steht, weiße Menschen könnten keinen Blues spielen und schwarze Menschen hätten Musik im Blut. Geht es irgendwann einmal in eure kleinen Rassistenschädel rein, dass Doofheit und mangelnde Musikalität weder von Y-Chromosomen, noch von Hautpigmenten abhängen? Wann begreift ihr es, dass das Klischee vom "Blues-Neger" genau die Art von Diskriminierung ist, die solche Menschen von einer Karriere als klassischer Komponist aussperrt? Eine Frau, die ständig in die Ecke der versonnen grinsenden weisen Kräuterfrau gedrängt wird, hat immense Schwierigkeiten, wenn sie Autoschlosserin, Boxerin, Schreinerin oder Physikerin werden möchte. Auch angeblich positive Diskriminierung zwingt Menschen in Rollenbilder.

Der in meinen Augen intelligenteste Satz zum Thema ethnische Vorurteile stammt von Gunnery Sergeant Hartman aus dem Film "Full Metal Jacket": "Rassistische Bigotterie gibt’s hier nicht! Ich kenne keine Vorurteile gegen Nigger, Jidden, Spaghettis, Latinos… Hier seid ihr alle zusammen gleich wertlos!" Es mag nettere Wege geben, dies auszudrücken, aber der Ansatz stimmt.

Bös blamiertes blaues Blut

Der Nahe Osten brennt. Tunesien: Diktator gestürzt, Situation unklar, interessiert aber auch keinen. Ägypten: Diktator gestürzt, Situation unklar, interessiert uns aber viel mehr, weil der verkürzte Seeweg durch den Suezkanal billiges Öl bedeutet und weil wir uns unter diesem Land wenigstens etwas vorstellen können - sei es auch nur die Cheops-Pyramide. Libyen - das Land, von dem inzwischen auch der letzte Bildungsverweigerer begriffen hat, dass wir es jahrzehntelang falsch aussprachen: Diktator im Sturz begriffen, Situation unklar, interessiert mich persönlich noch am meisten, weil Gaddafi, mein persönlicher Lieblingsdiktator, von dem ich immer erwartete, dass er sich als Helge Schneider im Urlaub entpuppt, der einzige Tyrann war, der den USA noch so richtig übel auf den Wecker ging. Sich vor die UN-Vollversammlung stellen und stundenlang wüst auf die USA einpöbeln, bis deren Vertreter zutiefst entnervt den Raum verlassen - das brachte allenfalls noch Fidel Castro. Das Tolle daran: Es passierte ihm nichts. Irgendwann in den Achtzigern hatte er den Bogen etwas überspannt, einige Terroristen zu offensichtlich unterstützt und daraufhin von ein paar US-Kampfjets Tripolis bombardiert bekommen, aber abgesehen davon konnte Gaddafi munter herumpöbeln, ohne dass es ernsthaft Ärger gab. Na gut, sein Abgang verläuft etwas sehr blutig, aber bis zu diesem Zeitpunkt galt Gaddafi doch bei uns im Prinzip als der lustige Verrückte aus dem Erdölstaat.

Der Nahe Osten brennt also, aber worüber tippen sich die deutschen Journalisten besonders die Finger wund? Über einen abgehalfterten Adligen, der sich an die Reste seiner politischen Karriere klammert wie Dagobert Duck an seinen Glückskreuzer. Auch ich muss zu meiner Schande gestehen, die nordafrikanische Dominoralley zwar interessiert, aber relativ unaufgeregt zu verfolgen. Warum? Weil ich in diesem Punkt inzwischen Optimist bin. Offenbar haben die Leute  begriffen, wie man mit Despoten umgeht, die ihr Volk knechten. Dabei ist es völlig egal, was der Westen von der Sache hält, ob er wie in Tunesien gar nicht mitbekommt, dass überhaupt etwas passiert, ob er wie in Ägypten zu bremsen versucht, weil es ihm nicht um Demokratie, sondern in erster Linie um berechenbare Staatschefs geht, oder ob er wie in Libyen kräftig mitschimpft, weil er sich von Gaddafi nicht weiter auf der Nase herumtanzen lassen will. Die Völker Nordafrikas erledigen ihre Diktaturen ganz hervorragend allein, auch ohne westliche Einmischung. Entsprechend wenig Grund zur Sorge besteht aus meiner Sicht. Umso mehr Grund zur Sorge bereitet mir die Realitätsverleugnung, mit der ein - in meinen Augen - des Betrugs überführter Minister die einzig mögliche Konsequenz seines Handelns zu ignorieren versucht.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Als Guttenberg das Amt des Kriegsministers - die Freiheit, als staatlich beglaubigter Pazifist diesen Posten nach dem zu benennen, was meiner Meinung nach seinen Kern bedeutet, nehme ich mir - von seinem in epischer Breite gescheiterten Vorgänger übernahm, konnte er eigentlich nur punkten. Selbst, als er im Kunduz-Skandal ohne genauere Prüfung der Sachlage seine Soldaten in Schutz nahm und dafür reichlich Kritik erntete, fand ich dieses Vorgehen richtig. Ein guter Vorgesetzter hält erst einmal blind zu seinen Leuten und prüft danach, ob die Anschuldigungen berechtigt sind. Auch als Guttenberg anfing, im Zusammenhang mit Afghanistan von "Krieg" zu sprechen, empfand ich Anerkennung. Kriege zu führen, ist schon schlimm genug. Dies auch noch zu leugnen versuchen, ist menschenverachtend. Dinge beim Namen zu nennen, ändert zwar an den Tatsachen nichts, aber es ist wenigstens ehrlich und zeugt von Respekt denen gegenüber, zu denen man ehrlich ist.

Ehrlichkeit - dieses Attribut hätte Guttenbergs Markenzeichen werden können. Statt dessen verlegte sich das eitle Blaublut immer mehr auf effekthascherische Auftritte und immer weniger auf das harte Tagesgeschäft. Dabei gehört beides zusammen: Wer sein Handwerk sauber erledigt, darf auch gern den Ruhm dafür einstreichen. Ärgerlich wird es nur, wenn man Andere für sich arbeiten lässt und dies als eigene Leistung ausgibt.

Merkels Einwand, sie habe Guttenberg nicht wegen seines akademischen Titels der Rechtswissenschaften zum Minister ernannt, mag korrekt sein. Offensichtlich sind die Fähigkeiten, die man zur Erlangung des Dr. jur. besitzen müsste, für das Amt des Kriegsministers nicht zwingend nötig, aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass hier selbst für einen gutwilligen Beobachter der Eindruck entsteht, Guttenberg habe am vergangenen Wochenende erstmals - wenn überhaupt - in seine eigene Doktorarbeit geblickt. Es geht darum, dass der adlige Minister auf seine gewohnt nassforsche Art zunächst alles abstritt und dann, als sich der Eindruck verfestigte, selbst das Vorwort seiner Arbeit könne aus der Zeitung kopiert worden sein, großzügig vorläufig auf seinen Doktortitel verzichtete - in völliger Verkennung der Tatsache, dass dies gar nicht möglich ist, weil dieser Titel verliehen und gegebenenfalls wieder aberkannt wird. Darauf verzichten kann man ebenso wenig, wie man auf die Masern verzichten kann. Den Gipfel der Dummdreistigkeit erreichte Guttenberg am 21.2. in Kelkheim auf einer CDU-Veranstaltung, auf der er erklärte: "Und nach dieser Beschäftigung habe ich auch festgestellt, wie richtig es war, dass ich am Freitag gesagt habe, dass ich den Doktortitel nicht führen werde." Achten Sie auf die Wortwahl. Es war nicht etwa falsch, diese papierbasierte Raubkopie mit dem eigenen Namen versehen und als wissenschaftliche Arbeit eingereicht zu haben, es war richtig, gnädigerweise auf den daraufhin verliehenen Titel zu verzichten. So fälscht man Geschichte. So stilisiert man Täter zu Opfern.

Es ist beschämend - für die rechtswissenschaftliche Fakultät der Uni Bayreuth, deren Prüfungskommission ein Zettelwerk, das allenfalls als Seminararbeit noch akzeptabel wäre, offenbar ungeprüft als Doktorarbeit durchwinkte und sich so dem Verdacht aussetzt, sich von Titeln, Ämtern oder anderen Verlockungen in ihrer wissenschaftlichen Neutralität beeinflussen zu lassen. Was sollen die vielen Menschen denken, die an dieser Universität für ihren Doktortitel geschuftet und ihn vollkommen zu Recht erlangt haben? Was ist jetzt ein "summa cum laude" dieser Hochschule noch wert?

Es ist beschämend - für einen ruhmessüchtigen Minister, der gute Chancen hat, mit dieser Nummer durchzukommen, der trotz der vollkommenen Demontage seiner wissenschaftlichen Reputation und seines damit verbundenen Herumlavierens meint, seine Glaubwürdigkeit als einer der wichtigsten Minister der Bundesrepublik Deutschland bliebe davon unberührt, der negiert, schauspielert, mit großer Geste nur das offensichtlich Nachgewiesene zugibt - und sich dabei auch noch als Vorbild sieht. Wer soll diesem Minister denn noch glauben, wenn er über die Lage der von ihm befehligten Soldaten spricht? Schlimmer noch: Hier geht es nicht um abstrakte wissenschaftliche Betrachtungen, hier geht es um Menschenleben. Wen setzt Guttenberg gerade aufs Spiel, um seine Karriere in Schwung zu halten?

Es ist beschämend - für die Mehrheit der Deutschen, deren Denkvermögen schlagartig auf die Stammhirnfunktionen zurückfällt, wenn irgendwo ein melodiöser Adelstitel, schön gestriegelte Haare, ein makelloses Lächeln und ein paar knackige Sprüche auftauchen. Sie haben eine Ursula von der Leyen geliebt, als sie mit einer Mischung aus Viertelwahrheiten und zusammenfabulierten Statistiken ein Zensurgesetz durchpeitschte, sie lieben Freiherr zu Guttenberg, der nach wie vor das wahre Ausmaß seines Versagens nicht begreifen kann oder will. Von "Hexenjagd", "Kesseltreiben" oder "Hetze" ist die Rede. Dass der Pöpel die Stirn besitzt, die Ehre blauen Bluts in Frage zu stellen - das gehört sich nicht, auch nicht in einer Republik. Was mich daran besonders erschüttert: Selbst im akademischen Umfeld gibt es Menschen, die einfach nicht verstehen, was an Guttenbergs Doktorarbeit falsch ist. Ich habe mit Studenten diskutiert, die mir sagten, bei ihnen sei es auch so, dass sie möglichst viele Quellen zusammentragen müssen, weil sonst ihre Arbeiten nichts wert sind. Deswegen an dieser Stelle auch noch einmal für Bätschlä-Studenten: Es war nicht etwa ein Fehler, für die Arbeit reichlich verschiedene Quellen herangezogen zu haben. Es war ein Fehler, die Quellen nicht exakt gekennzeichnet zu haben. Grund hierfür ist übrigens weniger die verletzte Eitelkeit der Verfasser oder - wie von im Vor-Internetzeitalter festsitzenden Bundestagsabgeordneten immer wieder beklagt - der "Diebstahl geistigen Eigentums", sondern viel mehr die Möglichkeit, den Originalgedanken nachlesen und prüfen zu können, wie er zustande kam und in welchem Zusammenhang er geäußert wurde. Dies ist umso wichtiger, als es Kern einer Doktorarbeit ist, eine neue wissenschaftliche Erkenntnis so genau wie möglich herzuleiten. Wissenschaftliches Arbeiten besteht vor allem im Erzeugen reproduzierbarer Ergebnisse. Bei Geisteswissenschaften heißt dies, eine getroffene Schlussfolgerung komplett auf Axiome und Definitionen zurückführen zu können. Da man in einer Doktorarbeit nicht jede Gedankenkette bis zurück zur Grundvorlesung hinschreiben kann, muss man abkürzen, dann aber auch klar benennen, worin die Abkürzung besteht.

Beim Thema "Abschreiben" tauchen offenbar bei vielen Bilder aus vierzig Jahre alten Hansi-Kraus-Filmen vor dem geistigen Auge auf. Es mag überraschen, aber zwischen dem Abkupfern bei einer Klassenarbeit und dem Plagiieren bei der Erlangung eines akademischen Titels bestehen Unterschiede. Wenn überkommene Ideen wie Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Fleiß und Eigenständigkeit bei Ihnen nicht ziehen, komme ich ganz platt mit Geld: Versuchen Sie einmal, mit einer guten Note in einer Lateinarbeit 10.000 € mehr Jahresgehalt bei ihrem Chef auszuhandeln. Probieren Sie das Gleiche mit einem Doktortitel.

Wer sich zum strahlenden Saubermann aufschwingt, muss sich an seinen eigenen Maßstäben beurteilen lassen. Wer sich anschickt, 80 Millionen Menschen zu regieren, wer die Macht hat, Soldaten in die Welt schicken, damit sie dort mit Waffengewalt die vorgeblichen westlichen Werte vertreten, sollte diese Werte wenigstens ansatzweise verkörpern und kein Schmierentheater veranstalten. Guttenberg verkörpert inzwischen nichts mehr als die Arroganz der Macht und scheint entschlossen, in kohlscher Manier die Sache auszusitzen. Wenn das alles ist, Herr Minister, was Sie zu bieten haben, dann erlaube ich mir, Ihnen in bester arabischer Manier den Schuh zu zeigen. Schuhrücktreten, Guttenberg.

Nachtrag: Nachdem das Potemkimsche Dorf in Ministergestalt mit großer Märthyrergeste den längst überfälligen Rücktritt vollzogen hat, 500.000 Facebooklicker in monarchistischer Denkblockade ihre Solidarität mit dem größten Erlöser seit Jesus von Nazareth bekundeten und die Union an einer Dolchstoßlegende arbeitet, die der des ersten Weltkriegs kaum nachsteht, möchte ich noch einmal präzisieren, warum man mit akademischen Abschlüssen nicht herumschleudern sollte wie mit Karnevalsorden: Ich möchte einen Bewerber wenigstens grob einschätzen können.

Wenn ich eine Mappe mit einem Abiturzeugnis vor mir liegen habe, weiß ich inzwischen allenfalls, dass der Kerl wenigstens bei seinen Abiklausuren halbwegs nüchtern war. Ein Diplom oder Master deutet an, dass sich der Betreffende immerhin auf seine Abschlussprüfungen einigermaßen vorbereitet und Nervenstärke bewiesen hat. Das besagt nicht viel, aber immerhin  habe ich einen Eindruck davon, wieviel Wissen sich dieser Mensch in kurzer Zeit aneignen und in geordneter Form wieder absondern kann. Beim Doktor weiß ich zumindest in den Naturwissenschaften, dass dieser Mensch drei Jahre lang hart arbeiten, ernsthaft forschen musste und dass dessen Arbeit die Wissenschaft wahrscheinlich keinen Millimeter voran bringt, aber etwas über die Fähigkeit des Autors verrät, sauber zu arbeiten und das auch aufzuschreiben. Das erworbene Fachwissen ist dabei nicht so wichtig, wirklich von Bedeutung ist die durch die Doktorarbeit unter Beweis gestellte Fähigkeit, komplexe Themen zu verstehen und darzustellen. Wenn man sich auf dieses Kriterium nicht mehr verlassen kann, wenn man nicht mehr sagen kann, ob ein Bewerber schlau oder einfach nur reich ist, fehlt ein wichtiges Kriterium, um von einem persönlich unbekannten Autor wenigstens grob einschätzen zu können, ob sein Text Hand und Fuß hat. Der Titel erspart dem Leser zwar die Recherche nicht, aber er schafft ein gewisses Grundvertrauen.