Samstag, 28. Januar 2012

Friedrich im Nebel

Es mag meinem fortschreitenden Alter geschuldet sein, dass ich immer ungnädiger auf Leute reagiere, die eine Frage mit irgendwelchem themenfremden Geschwafel beantworten, glauben, man sei zu blöd, das zu bemerken und dann auch noch pampig reagieren, wenn man sie dezent darauf hinweist, man könne sich durchaus noch an die eigene Frage erinnern und bekäme sie gerne beantwortet. Innenminister Hans-Peter Friedrich leistete sich am 25.1. im Deutschlandfunk ein Paradebeispiel dafür, wie man die Zeit seiner Zuhörer mit sinnlosem Gelalle verschwendet. Ich erlaube mir, das Gespräch ein wenig anzusehen.
Peter Kapern: Herr Friedrich, wie gefährlich ist Gregor Gysi oder Petra Pau, die Vizepräsidentin des Bundestages, für Deutschland?
Na, was erwartet man da? Genau, "sehr", "gar nicht", "einigermaßen" - irgendein Attribut, das die von diesen beiden Politikern ausgehende Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung beschreibt. Statt dessen holt der Bundesschwafelminister zu einer Geschichte des Verfassungsschutzes der letzten 17 Jahre aus:


Friedrich: Also Die Linke wird seit 1995 beobachtet, also inzwischen schon über 16 Jahre. Insofern ist die Aufregung, die jetzt da künstlich erzeugt wird, nicht verständlich. Der Verfassungsschutz ist ein Nachrichtendienst, der berichten soll darüber, ob es irgendwo im Land Bestrebungen gibt, die freiheitliche Ordnung zu beseitigen, Informationen darüber zu sammeln, auszuwerten, und das macht der Verfassungsschutz, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das in meiner Verantwortung steht, und dazu gehört auch - und dazu gibt es auch eine umfangreiche Rechtsprechung - die Partei der Linken, die beobachtet wird, weil es eben Anlass zu der Sorge gibt, dass es da solche Bestrebungen gibt.
Nun gehört Peter Kapern nicht gerade zu den Leuten, die nicht mitbekommen, wenn man sie veralbert und hakt nach. Ein weiteres Mal setzt Friedrich an, die Frage zu ignorieren, ein drittes Mal beharrt Kapern daruf, der Minister möge gnädiglich beim Thema bleiben, und endlich bekommt er nach einer weiteren Ladung Gemeinplätze etwas, das einer Antwort wenigstens näher kommt:

Friedrich: Es werden sozusagen [sozusagen? Werden sie nun beobachtet oder nicht? PB] Funktionsträger beobachtet von Organisationen, von Strukturen, und der Nachrichtendienst informiert dann die Öffentlichkeit über den Verfassungsschutzbericht über das, was sich da tut in diesen Organisationen, in diesen Parteien. Es gibt Anhaltspunkte, dass Die Linke als Partei in Teilen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung arbeitet und auch die Programmatik entsprechend ist, und man will beobachten, ob es dort eine sozusagen [nochmal sozusagen. Gibt es nun die Verschlimmerung oder nicht? PB] Verschlimmerung der Situation gibt, ob es eine Verschärfung gibt oder nicht. Das ist Aufgabe des Verfassungsschutzes, um die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Es geht nicht um die Gefährlichkeit von Personen [Dieser eine Satz ist die eigentliche Antwort. PB]; das ist sowieso ein Irrtum. Dem Verfassungsschutz geht es nicht um Personen, sondern um Strukturen und Organisationen, die unserer Rechtsordnung gefährlich werden können.
Die Leserinnen mögen mir verzeihen, dass ich so penetrant auf dem "sozusagen" herumreite, aber der Einsatz dieses Wortes ist verräterisch. "Sozusagen" ist eine Distanzierung - das, was im gedruckten Text mit Anführungszeichen geschieht, um eine dem Sprecher zu hart erscheinende Aussage abzuschwächen. Nun frage ich mich, was es an der Tatsache, dass Gysi und Pau Funktionsträger der Linken sind, abzuschwächen gibt. Heißt das, so ein Haufen wie die Linken ist sowieso keine richtige Partei, und damit könne man ihre Funktionsträger auch nicht ernst nehmen? Ein derart schwaches Demokratieverständnis möchte ich Friedrich nicht unterstellen. Es bleibt eine zweite Interpretationsmöglichkeit des "sozusagen", eine Wendung, die Friedrichs Amtsvorgänger Schäuble auch gern verwendete: "Wie wir (oder die) Experten sagen." Das benutzt man immer, um eine Distanz zwischen Hörer und Sprecher zu schaffen. Achtung, jetzt kommt eine Fachvokabel, das versteht ihr jetzt nicht ganz, aber es gibt Experten, die kümmern sich für euch darum, also keine Angst, jetzt kommt das Wort: "Funktionsträger"

Das zweite "sozusagen" taucht beim Wort "Verschlimmerung" auf. Hier neige ich zur Interpretation,  Friedrich wisse selbst, dass kein Mensch ernsthaft glaubt, die Linke gefährde stärker als zuvor die Grundfesten unserer Werteordnung, aber er muss nun einmal rechtfertigen, warum er der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages hinterher spioniert, also behauptet er halt, die Lage verschlimmere sich.

Spannend ist freilich auch der eigentliche Kernsatz: Es geht nicht um Personen, sondern um Strukturen. Friedrich kommt in seiner nächsten - nennen wir es großzügig "Antwort" noch einmal darauf zurück, indem er zwei Gerichtsurteile heranzieht: Strukturen lassen sich so schwer beobachten, also beobachtet man die Menschen in diesen Strukturen, mithin auch Abgeordnete. Mit anderen Worten: Natürlich durchwühlen wir die Mülltonnen der Leute, aber wir meinen es nicht so.

Kapern ist nicht gerade für Zimperlichkeit bekannt, und deshalb fragt er, warum es die Verfassung gefährdet, wenn die Linke mit Syrien und Kuba kuschelt, aber keiner ein Problem darin sah, als die CSU Diktaturen in Südafrika und Chile hofierte. Ich erspare ihnen jetzt die volle Länge der Friedrichschen Rechtfertigungsorgie und kürze sie auf den zentralen Satz:

Es gibt nicht irgendwie Einzelne, irgendwelche Ausreißer und Sympathiebekundungen von irgendjemandem zu irgendwas, sondern es ist ein strukturelles Problem der Linken
Wir erinnern uns: Seit den Siebzigern heißt es immer wieder, der Linksterrorismus, der sei ja sowas von organisiert und gefährlich. Rechtsterrorismus hingegen gäbe es gar nicht, das seien - na? - Einzelfälle, genau. Wie in Zwickau.

Auf die nächste Frage Kaperns, ob unter diesen Umständen nicht gleich die gesamte Bundestagsfraktion beobachtet werden müsste, geht Friedrich erneut nicht ein und liefert lieber ein Kurzreferat über Entscheidungsfindungsprozesse im Verfassungsschutz. Kapern fragt weiter. Es fiele auf, dass die Mehrheit der beobachteten Linken-Bundestagsabgeordneten Ostdeutsche wären, also genau dem Teil der Linken entsprächen, dem allgemein eine sehr pragmatische Politik nachgesagt wird. Noch einmal bricht Friedrich in einen 78 Worte langen Wust des Nichtssagens aus, der auf zwei Worte zusammengefasst einfach lautet: "Kein Kommentar." Na gut, eigentlich lautet die Aussage: "Kein Kommentar, und es ist eine Frechheit, dass Sie das überhaupt erfahren haben." Doch lassen wir den Minister sich selbst blamieren:

Also ich muss jetzt vorausschicken, dass all die Informationen, die da an die Öffentlichkeit gekommen sind, unter strafrechtlich relevanten Vorgängen an die Öffentlichkeit gegangen sind. All diese Informationen und Berichte, die einem Kontrollgremium im Deutschen Bundestag unter der Einstufung "geheim" übermittelt werden, sind an die Presse weitergegeben worden. Allein das ist schon strafrechtlich relevant und Sie verstehen, dass ich einzelne Kommentierungen zu solchen Behauptungen, wer da wo und wann überwacht, beobachtet oder sonst was wird, nicht geben kann.
Den Gipfel erreicht das Interview, nachdem Kapern einen O-Ton Gysis einspielt, in dem dieser fragt, wie es denn angehen könne, dass der Verfassungsschutz bei einer Beobachtung angeblich nur auf öffentlich zugängliche Informationen zugreift, in der ihm vorliegenden Kopie seiner Akte aber weite Passagen komplett geschwärzt sind. Ein Zeitungsartikel mit einem von ihm selbst gegebenen Interview könne ja wohl kaum so geheim sein, dass er seine eigenen Worte nicht lesen dürfte. Darauf Friedrich:


Friedrich: Also da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Beispielsweise ist denkbar, dass man Überwachungsmethoden anwendet, um die Vorbereitung von gewalttätigen Demonstrationen oder Aktionen zu überwachen und plötzlich auf der Bildfläche ein Mitglied der Linken auftaucht, oder sie überwachen eine ausländische Guerilla-Organisation in Deutschland und plötzlich taucht auf der Bildfläche ein Linker auf. Dann hätte man das natürlich automatisch zwangsläufig erfasst. Es ist natürlich auch denkbar, dass solche Aktenbestandteile durch Informationen der Länder angeliefert werden, und dann schmeißt man die natürlich nicht weg, sondern dann werden die zu den Akten genommen, aber dann auch entsprechend geschwärzt, wie das Herr Gysi geschildert hat.
Zugegebenermaßen musste ich die Passage mehrfach lesen, um zu begreifen, worauf der Minister hinaus will. Wichtig ist hier das Wort "Überwachungsmethoden". Wenige Sekunden zuvor hatte er noch erklärt:


Es gibt eine klare Anweisung schon eines meiner Vorgänger, dass es keine Überwachung der Linken gibt, sondern eine Beobachtung.


Aber jetzt geht es auf einmal doch um Überwachung - selbstverständlich rein zufällig. Interessant ist hier die Argumentation: Wir überwachen schon allerhand, und wenn der Gysi auftaucht, schalten wir seinetwegen natürlich nicht ab (was ich sogar noch nachvollziehen kann), sondern dann hat er halt Pech, und wir packen brav alles, was wir auf diese Weise über ihn erfahren, mit zu seiner Akte - nicht nur in die Akte derer, die eigentlich überwacht werden sollten. Oder genauer: Wir nutzen primär öffentliche Quellen, aber wenn wir mit Überwachungstechnik an Informationen kommen, sagen wir auch nicht nein, wäre doch schade darum.


Doch Friedrich legt noch nach:


Es ist übrigens ein Vorgang schon aus dem Jahr 2008, ist mir bekannt, also seitdem weiß Herr Gysi das alles schon. Es wird jetzt alles hochgezogen, weil man offensichtlich einen günstigen Moment glaubt, wo man sich als die Partei der Linken einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz entziehen kann. Aber das wird hier nicht gelingen, denn es ist notwendig, dass diese Partei, die in Teilen wie gesagt eine Beseitigung unserer Ordnung anstrebt, auch weiter in der Beobachtung des Verfassungsschutzes bleibt.
Die Argumentation hatten wir ganz am Anfang schon einmal. Der Verfassungsschutz bricht die Verfassung, zu deren Schutz er eigentlich eingerichtet wurde, schon seit Jahrzehnten, deshalb ist das OK, und wir sollten mit dieser Praxis fortfahren. Das sagt Friedrich natürlich nicht so direkt, sondern wundert sich, warum die Sache jetzt auf einmal so hochgekocht wird. Es kann sein, dass es in Bayern keine Tageszeitungen gibt, aber im zivilisierten Rest des Landes gibt es diese sinnreiche Einrichtung schon seit langem, und jeder Absolvent einer Grundschulausbildung kann dort schon seit Jahrzehnten nachlesen, dass die Linke sich befremdet darüber zeigt, wie der Verfassungsschutz mit ihr umgeht. Das hat nur über Jahrzehnte niemanden interessiert. Nachdem sich aber herausstellte, dass der Verfassungsschutz lange Jahre hindurch die NPD durchgefüttert hat und den Rechtsterrorismus verniedlichte, stellte man sich - in meinen Augen zu recht - die Frage, ob der Fokus wirklich gut gewählt war und ob man nicht politisch etwas objektiver zu sein versuchen soll. Dass in diesem Zusammenhang die Beobachtung der Linken kritisch hinterfragt wird, braucht jemanden, der im Gegensatz zum Innenminister regelmäßig Nachrichten liest, nicht zu wundern.


Das Interview wendet sich wieder der Frage zu, warum die Linke beobachtet wird, und noch einmal kramt Friedrich das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts hervor, das die Beobachtung Bodo Ramelows für rechtens erklärte. Möglicherweise muss man dem Innenminister aber hier die Frage stellen, die er der Bundesjustizministerin stellt: Kennen Sie das Urteil überhaupt? Da steht nämlich nur drin, dass man beobachten darf, nicht, dass man es muss. Zwar wurde Teilen der Linken bescheinigt, verfassungsfeindliche Tendenzen zu haben, aber Vorgaben über Umfang der Beobachtungsmaßnahmen finden sich im Urteil nicht. Es gäbe also durchaus die Möglichkeit, aus gegebenem Anlass zu prüfen, ob der gewählte Personenkreis in einem sinnvollen Verhältnis zum erhofften Erkenntnisgewinn steht. "Weil wir's können" ist in meinen Augen keine Antwort auf die Frage, warum man Petra Pau bespitzelt.


Doch es geht mir gar nicht so sehr um die Linke. Mir geht es um das am Rand der Erträglichkeit balancierende Worthülsenabsondern politischer Würdenträger. Ich empfinde es als Beleidigung, wenn uns die Friedrichs und Wulffs dieses Landes unterstellen, das gleiche geistige Niveau wie sie zu besitzen. Es ist natürlich völlig in Ordnung, wenn jemand in einem Interview zusätzlich zur Antwort auf eine Frage noch ein paar Informationen liefert, die das Einordnen erleichtern, aber was man im Moment immer häufiger bekommt, sind die Zusatzinformationen, nicht das eigentlich Gewünschte. Das ist etwa so, als schicke Apple Ihnen den coolen Ei-Fohn-Karton - mit Kabeln, Kopfhörer, SIM-Karte, Handbuch, Knackfolie - aber kein Telefon.


Bei Apple kann man wenigstens noch umtauschen.

Neue Betrugsmasche: Deutsche Gewinngemeinschaft

Da in meinem Bekanntenkreis gerade eine neue Betrugsmasche umgeht, möge mir die geneigte Leserschaft verzeihen, wenn der übliche Plauderton in diesem Posting ausbleibt und einfach nur eine Beschreibung der Geschehnisse folgt.

Die Masche ist genauso simpel wie penetrant: Unter einer (in den mir bekannten Fällen) Frankfurter Telefonnummer meldet sich eine Mitarbeiterin einer "Deutschen Gewinngemeinschaft" (der Name variiert auch gern) und erzählt etwas von irgendeinem Vertrag den man mit einem österreichischen Anbieter geschlossen haben soll und dessen Gebühren jetzt fällig werden. Ersatzweise könne man diesen Vertrag in ein Zeitschriftenabo umwandeln und werde dann in ein Löschprogramm übernommen.

Oder so. Selbst wenn ich mir mehr Mühe gäbe, die Geschichte zu rekonstruieren, sie gewänne nicht an logischer Konsistenz. Interessant ist, dass die Mitarbeiter offenbar teilweise in Besitz von Kontodaten der Angerufenen sind. Woher sie die Daten haben, ist nicht klar, einige Quellen sprechen von einem Leck, aus dem die Informationen aus einem Webshop in dubiose Kanäle gesickert sind. Auf jeden Fall spielen Kontonummern eine zentrale Rolle, denn die Anrufer sind darauf aus, dem Angegriffenen auf jeden Fall diese Information zu entlocken.

Da die ganze Geschichte nun selbst naiven Naturen reichlich wirr erscheint - was hat Lottospielen mit Zeitschriftenabos gemein? -, legen die Betrüger gern sprachlich noch etwas drauf. Das geht so weit, dass der Mitarbeiter ankündigt, er werde jetzt sofort vom Konto abbuchen, egal ob der Kontoinhaber zustimmt oder nicht. Im Netz gehen Berichte herum, dass die Buchung im Einzelfall sogar stattfand. Reagiert die Angegriffene gar noch misstrauisch und legt auf, kann man sicher sein: Die nächste Wochen steht das Telefon nicht still. Aufs Band spricht die Gewinngemeinschaft jedoch nie.

Was mich an der Geschichte verwirrt, ist die Plumpheit des Vorgehens. Ich hatte in den vergangenen Jahren den Eindruck, dass Betrüger immer professioneller und schwerer durchschaubar agieren. Hier aber geht die Deutsche Gewinngemeinschaft sogar noch aus wirtschaftlicher Sicht dumm vor. Wenn ich eine besonders plumpe Masche probiere, dann versuche ich, möglichst schnell möglichst viele Leute zu erreichen und hoffe, dass ein gewisser Prozentsatz auf Anhieb das Geld herausrückt. Tagelang immer wieder zu versuchen, ein und dieselbe Person anzugreifen, obwohl nach dem zehnten Anruf klar sein sollte, dass der Versuch gescheitert ist, spricht entweder für Betrüger auf Teenagerniveau oder einen sehr kleinen Adresspool und hohen Erfolgsdruck. Wer weiß, mit welchen Mitteln die Anrufer motiviert werden.

Zum Abschluss gibt es den üblichen Rat, unbekannten Anrufern mit kritischer Distanz zu begegnen, persönliche Informationen und damit auch Kontodaten nur an vertauenswürdige Stellen herauszugeben und bei besonders abenteuerlichen Forderungen freundlich schriftliche Belege zu verlangen. Grundsätzlich gilt: Je aggressiver das Gegenüber auftritt, desto geringer schätzt er seine Erfolgsaussichten ein.

Sonntag, 8. Januar 2012

Chaotisches Familientreffen zum Jahresende


"Der Congress ist sowas wie der Kirchentag für Discordianer", lautete ein Kommentar auf Twitter. Schön, wie man sich mit einem Satz gleichzeitig den Hass von Christen und Nerds zuziehen kann.

Das mag beiden Gruppen nicht gefallen, aber der Vergleich stimmt. Zwar zieht das mehrtägige Treffen zum Jahresende in Berlin nicht hundert-, sondern nur viertausend Besucher an, aber auf beiden Veranstaltungen stellt sich sofort das Gefühl ein, trotz aller zum Teil heftig ausgetragenen Gegensätze zusammenzugehören. Genau so, wie über christliche Witze außerhalb der Männerkrabbelgruppe kein Mensch lachen kann, mutet die für Nerds ausgesprochen lustige Toilettenbeschallung mit einem Rick-Astley-Titel aus den Abgründen der Achtziger für Außenstehende gelinde gesagt bizarr an.

Anspielungen und Humor prägen nicht nur die Musik auf den Toiletten, die übrigens auch die Katze in der Fensterbank, Trololo und Nyan Cat, bedauerlicherweise aber nicht "Jede Zelle meines Körpers ist glücklich" spielte. Natürlich lautete die Servicenummer der internen Telefonanlage 01189998819991197253, und wer mit Rosi telefonieren wollte, konnte selbstverständlich auch das.

Ein Kunststück, das dem Congress jedes Jahr aufs Neue gelingt, besteht darin, sich selbst ein Motto zu geben, unter dem sich auf einmal die ganze Veranstaltung magisch zusammenfügt. Diesmal lautete es "Behind Enemy Lines", und gerade in Verbindung mit dem letzten Motto "We Come in Peace" wird daraus eine bemerkenswerte Aussage. Sah man sich im Jahr 2010 noch im hoffnungsvollen Erstkontakt mit der Nicht-Nerd-Welt, hat sich inzwischen offenbar der Umgang gewandelt. Es geht um Macht, darum, die eigene Kultur vor staatlichen Übergriffen zu schützen und im Gegenzug in der Nicht-Nerd-Welt Einfluss zu gewinnen. Das Operieren hinter den feindlichen Linien bedeutet aus militärischer Sicht zweierlei: Einerseits können die eigenen Leute überrollt oder über Feindesgebiet abgeschossen worden sein, so dass sie unsere Hilfe benötigen, andererseits sind solche Situationen auf für den Feind gefährlich, weil er sich gegen Angriffe aus dieser Richtung nur schwer schützen kann. Der rote Faden, der sich also auf dem 28c3 durch die Veranstaltungen zog, waren die Fragen: Wir haben Hacker, die sich freiwillig oder unfreiwillig in eine Welt vorgewagt haben, die sie mit Befremden, Vorurteilen und insgesamt mit Bedingungen umgibt, in denen sie sich unwohl fühlen. Was können diese Leute erzählen? Wie kommen sie zurecht, welche Lücken haben sie aufgespürt, welche Aktionen durchgeführt? Ein mustergültiger Vortrag kam in diesem Zusammenhang von Aktivisten der Hedonistischen Internationalen, die anhand mehrerer Beispiele zeigten, wie sich politische Systeme hacken lassen. So gelang es unter anderem, eine Pro-Guttenberg-Demonstration in Berlin mit einer satirischen Gegenveranstaltung zu übernehmen. Das Ergebnis waren grandiose Bilder in den Nachrichten, angesichts derer sich selbst der größte Guttenberg-Fan fragen musste, ob er nicht vielleicht doch einer komplett blödsinnigen Idee nachrennt. A propos Guttenberg: Eine gewohnt entblößende Analyse der feindlichen Taktik lieferte Maha in seinem Vortrag über die Wortwahl des Nicht-mehr-Doktors-und-nicht-mehr-Ministers, als dieser. Noch glaubte. Sich. Mit gewundenen Formulierungen. Aus der Affäre. Ziehen zu können. Mir kam es damals schon seltsam vor, wie merkwürdig distanziert der Freiherr vom Sahnehäubchen seiner akademischen Karriere sprach. Maha lieferte die wissenschaftlichen Belege, die weitere Zweifel sähen, ob Deutschlands schönster Politiker auch nur eine Zeile dieses Machwerks verfasst hat.

Die schlimmste Bedrohung des Congress ist seine Beliebtheit, die ihn seit Jahrzehten immer weiter wachsen und jede seiner Behausungen irgendwann einmal zu klein sein lässt. Inzwischen hat er etwa 4.500 Besucherinnen und könnte ohne Schwierigkeiten doppelt so viele bekommen, wenn er für sie Platz hätte. Glücklicherweise muss man inzwischen nicht mehr auf Verdacht nach Berlin reisen und hoffen, dass man an der Kasse noch ein Ticket bekommt, sondern hat die Chance, im Internet die in zwei Schüben angebotenen Karten zu bekommen. Leider stößt auch dieses System schon jetzt an seine Grenzen, weil findige Köpfe Skripte geschrieben haben, die für sie die Bestellungen erledigen. Als Ergebnis sind die Tickets eine Viertelstunde nach Freigabe ausverkauft. Nun könnte man sagen, dass Leute, die fähig genug sind, diese Skripte zu schreiben, es auch verdient haben, auf den Congress zu gehen, auf der anderen Seite führt uns das zur Frage: Was will der Congress sein?

Auf der einen Seite ist es natürlich eine technische Veranstaltung, aber wer Hacking als rein technischen Prozess missversteht, blendet den wichtigsten Aspekt des Begriffs aus. Hacken ist in erster Linie eine Lebenseinstellung, die sich häufig in originellem Code, Modellbau, Robotertechnik und elegantem Umgehen von Sicherheitssystemen ausdrückt, aber ein genialer Hack ist es eben auch, am Abend der Berliner Abgeordnetenhauswahl zur FDP zu gehen, vor laufender Kamera bei Verkündigung des desaströsen Wahlergebnisses in begeisterten Jubel auszubrechen und den Reportern ins Mikrofon zu erklären, dieser großartige Erfolg sei der konsequenten und geradlinigen liberalen Politik zu verdanken. In meinen Augen gehören diese Leute mit dem gleichen Recht auf den Congress wie solche, die Verschlüsselungsroutinen von Mobiltelefonen aushebeln können.

Natürlich hängt die Frage, wer eine der begehrten Karten bekommt, nicht nur von den Scriptingfähigkeiten ab. Einige Tickets gehen an verdiente Helferinnen des Vorjahrs, und natürlich gibt es auch einige Leute, die auf den Congress einfach aus dem Grund gelassen werden, weil sie dort hingehören. Ein Tim Pritlove muss ganz bestimmt nicht in Sorge sein, aufs Gelände zu kommen. Er zahlt zwar den normalen Eintritt, aber an der Klickorgie im Vorfeld wird er sich nicht beteiligen müssen.

Der Congress wählt sich also seine Gäste aus, was ihm zumindest in Teilen den Charakter eines Familientreffens verleiht. Auf der einen Seite mag dies willkürlich erscheinen, vor allem für die Abgewiesenen, auf der anderen Seite liegt darin auch viel Charme. Einige Referenten und Veranstaltungen haben ihren festen Platz im Programm. Ohne Martin Haases Sezierungen politischer Phrasen, ohne das Hacker-Jeopardy und dessen ständig ausfallender Technik, ohne den Fnord-Jahresrückblick und die Security-Nightmares wäre der Congress nur eine Fachmesse unter vielen. Ähnlich ist es mit den Besuchern. Natürlich kennt man nicht jedes der über 4000 Gesichter, aber man kann nicht quer durch das Gebäude gehen, ohne ständig über Bekannte zu stolpern.

Die Aufgabe, den Congress auf die doppelte Teilnehmerzahl zu erweitern, wirft mehrere Schwierigkeiten auf. Erstens: Behält der Congress seine familiäre Atmosphäre, wenn er langsam auf die Zehntausender-Marke zusteuert? Zweitens: Wo und wann soll man so eine Veranstaltung stattfinden lassen? Das bcc bietet viele Vorteile und ist inzwischen so gut auf den Congress angepasst, dass Auf- und Abbau perfekt durchorganisiert sind und entsprechend schnell ablaufen. Leider wird es schon bei der jetzigen Veranstaltungsgröße mitunter arg eng, so dass man allenfalls überlegen könnte, den Congress an zwei Orten gleichzeitig stattfinden zu lassen. Gerade aber bei den vorhin genannten Traditionsvorträgen kann man davon ausgehen, dass der weit überwiegende Teil der Besucherinnen daran teilnehmen möchte, und dann ist es egal, welcher der zwei Austragungsorte hoffnungslos überfüllt sein wird. Alternativ könnte man das Sommercamp jährlich stattfinden lassen, was zumindest für lange Zeit sämtliche Platzfragen lösen dürfte. Auf der anderen Seite ist der Aufwand, eine Wiese für einige Tage in ein Rechenzentrum zu verwandeln, immens und übersteigt weit den des Congress. Darüber hinaus prägt gerade die seltsam im Leeren hängende Woche zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel die Stimmung des Congress. Es finden Jahresrückblicke statt. Selbst im turbulenten Berlin geht alles ein wenig gemächlicher. All dies wäre anders, verlegte man den Congress in den Sommer und auf einen ehemaligen Flugplatz.

Die Organisatoren sind nicht zu beneiden. Man kann nüchtern betrachtet nicht beim Alten bleiben, aber die sich bietenden Optionen bedeuten auf jeden Fall, dass sich der Congress auf markante Weise wird ändern müssen. Welche Entscheidung man auch trifft, sie wird Schmerzen bedeuten.

Ein klassisches "What the - ?" hatte der Congress diesmal auch zu bieten. Es deutete sich an, als eines Morgens im Saal 1 vor dem eigentlichen Referenten eine Frau ans Pult trat und verkündete, Rassismus und Sexismus hätten im CCC keinen Platz. Äh, ja, natürlich. Worüber unterhalten wir uns als Nächstes? Dass im Meer kein Platz für Trockenheit ist? Doch damit ist es natürlich nicht genug. Wenige Tage später steht im Eventblog eine ganz ähnliche Meldung, und wieder fragt man sich: What the - ? Der Hintergrund ist schnell erzählt: In einem Vortrag hatte der Referent Julian Assange als künftige Sicherheitsmaßnahme geraten, nicht mit schwedischen Frauen zu schlafen. Man kann sich das Video ansehen, es wird in meinen Augen völlig klar: Das war ein Witz, haha. Witze sind selten politisch korrekt. Das Spiel mit dem Tabu gehört dazu. Ich habe auf dem Congress schon viel schlimmere Dinge von mir gegeben, und keiner hat mich dafür kritisiert. Im Gegenteil, es gab sogar Applaus. Warum? Weil ich nicht über Frauen herzog, sondern über Religionen. Aha, das geht also.

Natürlich war der Schwedinnenwitz nicht das Einzige, worüber sich die selbsternannten Moralhüter in Rage redeten. Nein, ein Thor-Steinar-Hemd wurde auf dem Congress gesichtet. Nazis beim CCC!

Ist das so? Hat sich irgendwer vielleicht bemüht, mit dem Besitzer des Hemds zu sprechen? Meines Wissens sind es nämlich nicht Hemden, die Menschen ermorden, sondern allenfalls deren Träger. Das berühmte Out-of-the-Box-Denken, das die Hacker voller Stolz für sich reklamieren, hat in diesem Fall allerdings nicht funktioniert, denn beklagt wurde lediglich das Hemd, nicht etwa Äußerungen oder andere Taten. Was komplett übersehen wurde, ist ein Phänomen, das gerade in Hackerkreisen sehr beliebt ist: das Trollen, also die bewusste Provokation, die weniger den Provokateur als diejenigen bloßstellt, die darauf eingehen. Wer weiß, vielleicht wollte der Hemdenträger genau diesen Eklat hervorrufen? Aber nein, das herauszufinden lag unter der Würde der Polittaliban. Hauptsache, das Feindbild stimmt.

Verstehen Sie mich nicht falsch, wer will, mag sich gern die Frage stellen, ob Frauen im CCC diskriminiert werden, ob das alles andere als günstige Verpflegungsunternehmen vielleicht auch vegane Kost hätte anbieten sollen, ob der CCC sich auch klar genug gegen menschenfeindliche Ideologien positioniert. Ich meine jedoch: In Nerdkreisen geht es rauh zu. Es ist Teil dieser Kultur. Wer das ablehnt, sollte sich fragen, ob er in einer Nerdvereinigung richtig aufgehoben ist. Ich beschwere mich ja auch nicht, wenn ich im Ruderverein ab und zu mal nass werde. Es gibt zugegebenermaßen Hacker, die sich Frauen gegenüber befremdlich verhalten, aber soll man sie etwa deswegen aus dem Club ausschließen? Leute, der CCC ist ein Hackerclub, keine Friedensgruppe des evangelischen Gemeindezentrums.

Vielleicht steckt auch nur die Hedonistische Internationale hinter der ganzen Aufregung.

Doch weiter mit positiven Dingen. Ich hatte bei diesem Congress zufällig die Gelegenheit, das Engelsystem etwas genauer kennenzulernen. "Engel" ist der Begriff, mit dem die knapp 350 Freiwilligen bezeichnet werden, die den ganzen Congress über aufräumten, die Veranstaltungen aufzeichneten, die Technik betreuten und an der Kasse standen. Besonders merkwürdig mag erscheinen, dass sie dafür nicht einmal vergünstigten Eintritt bekamen, sondern vielleicht ein T-Shirt und ganz vielleicht ein Vorkaufsrecht auf die Karten zum nächsten Congress. Warum sollte jemand so dumm sein, da mitzuhelfen?

Weil dadurch der Congress erst wirklich gut wird. Man wandelt sich vom Teilnehmer zum Mitwirkenden. Es ist zwar nicht viel, was man beisteuert, aber man merkt schnell: Helfer werden gebraucht, und selbst wenn ich nur dumm herumstehe und gucke, dass die Leute ihr Eintrittsbändchen am Arm haben, ist es genau das, was die Veranstaltung am Leben hält. Frank Rieger hat es in seinem Abschlussvortrag schon angedeutet: Die Zahl der Engel steigt nicht im gleichen Maß wie die der Teilnehmer, was dazu führt, dass trotz der zunehmenden Arbeit im Verhältnis weniger Leute da sind, die sie erledigen. Ich rege mich zwar auch über die happigen Eintrittspreise auf, aber wenn ich mir ansehe, was andere Veranstaltungen dieser Qualität kosten, bin ich froh über die Schar Freiwilliger, denen wir es wahrscheinlich zu verdanken haben, dass die Ticketpreise noch zweistellig sind.

Der Congress war - wieder einmal - ein Jahreshöhepunkt, eine willkommene Erinnerung daran, dass es zwischen Harmoniemief zur Wintersonnenwende und Besäufnis zum Jahresende noch eine Welt mit vernünftigen Menschen gibt, Leute, die eine Bemerkung begreifen, wenn man sie noch nicht einmal halbwegs zuende geführt hat, Leute, die unter einer guten Party viel Mate und aufgeklappte Notebooks verstehen, Leute, die das Gedankenexperiment schätzen, die Fakten auch dann zur Kenntnis nehmen, wenn sie ihnen nicht ins Konzept passen, die Hierachien auf ihre Berechtigung hinterfragen, die größte Schwierigkeiten haben, einen anderen Stil als den ihren zu leben, nur weil gesellschaftliche Konverntionen es von ihnen verlangen. Ich danke den Menschen, die seit Jahrzehnten dafür sorgen, dass es diese Veranstaltung gibt sie am Leben halten.

Good luck behind enemy lines.