Montag, 30. September 2013

Buchkritik: Little Brother

Marcus ist so, wie man sich einen US-amerikanischen Mittelschichtteenager vorstellt: Intelligent, ein wenig aufsässig, computeraffin und mit einem leichten Hang zu ungewöhnlichen Hobbies. Alle Zeichen stehen darauf, dass, hat er einmal die Klippen der Pubertät umschifft, ihm ein relativ angenehmes Leben in irgendeinem Bürojob bevorsteht. Marcus hat allen Grund, seinem Land zu vertrauen, wurde es doch praktisch für Leute wie ihn geschaffen.

Dieses Vertrauen endet schlagartig, als Marcus und seine Freunde sich zufällig in der Nähe eines Terroranschlags aufhalten und vom Department of Homeland Security aufgegriffen werden. Marcus weiß, wie ein rechtsstaatliches Verfahren aussieht, und weil ihm die verhörenden Beamten dumm kommen, beharrt er auf Einhaltung genau dieser Rechte. Das war ein Fehler.

Tagelang wird Marcus an einem unbekannten Ort festgehalten, verhört und gefoltert. Die Unschuldsvermutung gilt hier nicht mehr, das Recht auf einen Anwalt sowieso nicht. Wenn Marcus unschuldig wäre, argumentieren seine Entführer, könnte er ihnen doch alles über sich und seine Freunde erzählen. Insbesondere könnte er den Zugriffscode zu seinem Telefon herausrücken, damit das DHS nachsehen kann, was er so treibt. Marcus hat tatsächlich nichts zu verbergen, wenigstens nichts, was über klassische Jugendsünden hinaus ginge. Es passt ihm nur nicht, dass er als Unschuldiger seine intimsten Geheimnisse preisgeben soll. Doch schnell wird klar: Der einzige Weg aus dem Gefängnis führt über seine Telefon-PIN. Offiziell ist er verschollen, und das DHS kann diesen Zustand beliebig lang fortsetzen. Nach Tagen der Folter und Demütigung bricht Marcus schließlich zusammen und gibt die gewünschten Informationen.

Er wird freigelassen. Seine Daten beweisen zwar, dass er ein harmloser Junge ist, aber sie beweisen eben nicht, dass er kein Terrorist ist. Das DHS stellt klar: Er ist nur auf Probe aus dem Gefängnis und unter ständiger Beobachtung. Redet er über die vergangenen Tage oder wird in irgendeiner Weise auffällig, wird er erneut verschwinden, diesmal für immer.

Wieder draußen - "frei" kann man den Zustand nicht nennen - trifft Marcus wieder auf seine Freunde, die wesentlich früher zusammenbrachen. Nur Darryl, der beim Tumult nach dem Anschlag schwer verletzt und ebenfalls verschleppt wurde, taucht nicht wieder auf. Niemand weiß, wohin er verschwand.

Marcus reicht es. Das ist nicht das Land, dem er vertraut hat. Hier verschwinden spurlos Menschen, Gesetze gelten nicht mehr, statt dessen werden mittelalterliche Methoden angewandt, die sich inzwischen nicht nur als unmenschlich, sondern sogar kontraproduktiv herausgestellt haben. Schlimmer noch: Die Meisten begrüßen diese Maßnahmen sogar, denn es ist in Zeiten des Terrors völlig angemessen, ein ganzes Volk in Kollektivgefangenschaft zu nehmen, um eine Handvoll Terroristen zu schnappen. Bevor die unsere Verfassung abschaffen, schaffen wir sie lieber selber ab.

Marcus beschließt seinen privaten Rachefeldzug gegen das DHS. Dazu braucht er Verbündete. Er muss sich den Überwachungsmaßnahmen entziehen. Doch wie stellt man das an, wenn selbst der eigene Laptop mit einem Keylogger versehen wurde? Der Ausweg besteht in einer X-Box, deren ursprüngliches Betriebssystem gegen ein besonders gehärtetes Linux ausgetauscht wurde und auf der die wichtigsten kryptografischen Werkzeuge installiert sind.

"Little Brother" liest sich wie eine 400 Seiten lange Cryptoparty. Festplattenverschlüsselung, Tor, Chatverschlüsselung, asymmetrische Mailverschlüsselung, Keysigning - alles kommt vor, ohne dass die Geschichte zu nerdlastig ist. Doctorow beschreibt genau die Beweggründe, warum sich viele zur Zeit mit Kryptografie beschäftigen - zur Verteidigung ihrer Freiheitsrechte, als Notwehr gegen ein komplett aus dem Ruder gelaufenes Überwachungssystem, das die Terrorhysterie längst nur noch als Vorwand benutzt, um ein ganzes Volk nach Auffälligkeiten und Abweichlern durchmustern und sie beseitigen zu können.

Achtung Spoiler - Achtung Spoiler - Achtung Spoiler

Natürlich schafft es Marcus am Ende, sein Ziel wenigstens teilweise zu erreichen, aber er schafft es nicht allein mit technischen Mitteln, sondern indem er an die Öffentlichkeit tritt. Das von ihm gesponnene Vertrauensnetz erweist sich als unterwandert. Seine Gegner wissen schon seit langer Zeit Bescheid und warten nur auf den geeigneten Moment zum Zuschlagen. Der ganze technische Aufwand bot zwar einen gewissen Schutz, aber wenn man die Gesellschaft ändern will, reicht es nicht, ab und zu mit Tor zu surfen.

Spoiler Ende - Spoiler Ende -Spoiler Ende

Es ist lange her, dass ich ein Buch so inspirierend fand. Wenn mich etwas vom Lesen abhielt, war es allenfalls der Drang, am Rechner mit den im Roman angesprochenen Kryptotools herumzuspielen. Doctorow hat für sein Buch sehr gut recherchiert, und die wenigen Details, an denen er technisch nicht ganz korrekt ist, gehen ohne weiteres als künstlerische Freiheit durch. Beängstigenderweise beschreibt er auch die gesellschaftlichen Verhältnisse sehr genau und überspitzt sie nur geringfügig. Er schildert genau, mit welchen Argumenten nicht nur in den USA die Verfassung ausgehebelt wird und schreibt auch, warum diese Argumente völliger Unsinn sind, warum Freiheit und Sicherheit keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen.

Wenn euch irgendwann Zweifel kommen, warum ihr diesen ganzen Kryptokram veranstaltet, wenn ihr euch fragt, ob ihr es nicht übertreibt und euer Aktivismus eigentlich völliger Blödsinn ist - lest dieses Buch.

Cory Doctorow: Little Brother, ISBN: 0765319853http://craphound.com/littlebrother/download/

Samstag, 28. September 2013

Mimimi

"Meine Güte, dieser Wikipediaartikel ist ja der letzte Dreck. Dazu fällt mir ja gar nichts mehr ein."

- "Schade, denn wenn mich nicht alles täuscht, hast du das Thema, um das es da geht, studiert, warum verbesserst du den Artikel nicht. Genau dafür ist die Editierfunktion da."

[nachäffend] "Genau dazu ist die Editierfunktion da - hast du gesehen, wie lange die brauchen, bis so ein Artikel freigegeben wird?"

- "Naja, das ist ein Freiwilligenprojekt. Wenn du willst, dass da was voran geht, musst du schon selbst aktiv werden. Hast du mal das Team angeschrieben, gefragt, was da los ist und deine Hilfe angeboten?"

"Ach was, seit der Relevanzdebatte habe ich die Wikipedia eh abgeschrieben."

Liest sie aber dennoch, wahrscheinlich nur, um sich darüber aufzuregen.

Der oben beschriebene Dialog verkörpert für mich alles, was die Netzkultur an Kläglichkeit zu bieten hat. Rumjammern, sich in der Rolle der einsamen Denkerin gefallen, aber bloß nichts unternehmen, um den Zustand zu ändern. Das zeigt sich bei Banalitäten wie Wikipediaartikeln, aber auch bei größeren Dingen wie beispielsweise der vergangenen Wahl.

Was bitte hat sich großartig geändert? Die CDU ist an der Macht. Meine Güte, das ist sie seit den frühen Achtzigern, sieht man von dem kurzen Schröder-Intermezzo einmal ab, und das unterschied sich auch nicht so besonders von den anderen Jahren. Wir sind wieder einmal in der Opposition. Oh wie schlimm. Ich wähle seit 30 Jahren Parteien, die es bestenfalls in die Opposition schaffen, wenn es überhaupt bis ins Parlament langt. Die Egoistin in mir sagt: schade; die Demokratin sagt: na gut, so sehen halt Mehrheitsentscheidungen aus.

Dass in einer Demokratie grundsätzlich die Mehrheit das Sagen hat, scheinen viele aus der Netzbewegung ohnehin nicht so ganz begriffen zu haben. Natürlich ist es nicht falsch, wenn auch Minderheiten gewisse Rechte zugestanden werden, aber das heißt nicht, dass dies immer und überall der Fall sein muss. Mitunter ist die Demokratie ein Ozeanriese, der in eine bestimmte Richtung steuert, und man kann nicht immer ein Stück für diejenigen absägen, die woanders hinwollen.

Glaubt nicht, ich wäre über das Wahlergebnis glücklich, aber ich weiß, dass Jammern hier nicht hilft. Ja, es ist befremdlich, wenn eine zweistellige Prozentzahl der abgegebenen gültigen Stimmen keine Entsprechung in Parlamentssitzen findet, aber dann gleich herumzukrakeelen, das sei "verfassungswidrig", ist wieder eine typische Netzreaktion: außer einer Folge "Alexander Hold" gesehen zu haben, keine juristischen Kenntnisse, aber den Leuten erzählen, was angeblich im Gesetz steht. Man kann ja vom Bundesverfassungsgericht halten, was man will, aber deren Urteile haben Substanz. Zwar hat in den vergangenen Jahren immer mal wieder jemand eine Verfassungsklage gegen die Fünf-Prozent-Hürde gefordert, tatsächlich durchgezogen wurde die Klage aber nur bei Kommunal- und Europawahlen. Wenn die Sache so sonnenklar ist, warum hat dann noch niemand etwas unternommen? Komischerweise finden die meisten, die über diese böse Klausel schimpfen, nichts Schlimmes daran, dass die FDP und die AfD an ihr gescheitert sind.

Besonders beliebt sind Kommentare, die sich darüber echauffieren, wie unglaublich dumm die Wählerinnen doch sind. Im Umkehrschluss soll das natürlich andeuten, dass die Verfasserin unglaublich klug ist, denn sie hat nicht die CDU gewählt. Klugheit gilt in einer Szene, die Statussymbolen wie großen Autos oder teuren Kleidern immer schon kritisch gegenüber stand, besonders viel. Arm darf man sein, aber dumm?

Das Volk ist also dumm, nur weil es nicht die Parteien gewählt hat, welche die intellektuelle Netzelite für sie auserkor. Ich verrate euch ein kleines Geheimnis: Die Mehrheit der Wählerinnen hält uns für völlige Idioten, weil wir irgendwelchen Spinnerparteien hinterher rennen. Klug und dumm sind in der Politik schwer objektivierbare Begriffe.

Schade finde ich vor allem eins: dass die CDU keine Minderheitsregierung bilden kann. Damit könnte sie Geschichte schreiben. Eine Kanzlerin, die das Wagnis eingeht, für ihre Vorhaben im Parlament nach Mehrheiten suchen zu müssen. Eine Opposition, die zwar ordentlich Gegendruck erzeugt, aber bei guten Vorschlägen auch die Größe hat, zuzustimmen, auch wenn die Idee von der falschen Partei kommt. Dummerweise ist der Bundestag viel zu sehr im Lagerdenken erstarrt, als dass er die für das Vorhaben nötige Flexibilität aufbrächte.

Statt dessen läuft alles auf eine große Koalition hin. Die SPD ist viel zu machthungrig, als dass sie dieser Versuchung lang widerstehen könnte. Die Parteispitze schafft gerade Tatsachen, so dass der angebliche Mitgliederentscheid praktisch keine andere Chance hat, als dem zuzustimmen, weil alles Andere die Partei ruinierte.

Freilich ruiniert auch die große Koalition die SPD. Sie hat sich schon einmal vorführen lassen, und ich sehe keine Köpfe in der Führungsriege, die es bei einer Neuauflage anders angehen ließen als zuvor. Auf wie viel Prozent will sich die SPD eigentlich noch zurechtstutzen lassen, bis sie begreift, dass Regierungssessel kein Selbstzweck sind? Diesem Irrtum ist der vorherige Koalitionspartner der CDU auch schon erlegen.

Zurück zur Frage, wo hier die Netzbewegung ins Spiel kommt. Wir können uns natürlich weiter auf das verlegen, was wir ganz toll können: daneben stehen und jammern. Wir könnten uns aber auch auf ein Grundprinzip unserer Verfassung besinnen: Alle Macht geht vom Volke aus. Demokratie lebt von Einmischung. Dazu müssen wir nicht in eine der noch großen Parteien eintreten. Es reicht, wenn wir uns Gehör verschaffen, wenn wir die Leute in diesen Parteien ansprechen, von denen wir uns etwas erhoffen. Nur weil jemand in der meiner Ansicht nach falschen Partei sitzt, muss er nicht völlig für meine Sache verloren sein. So etwas nennt sich Lobbyarbeit.

Manche werden bei diesem Wort zusammenzucken, aber das Wort hat zu unrecht einen so schlechten Leumund. Lobbyarbeit heißt in erster Linie, mit den Leuten zu reden, sie mit Informationen und Argumenten zu versorgen. Ich glaube nicht, dass Netzpolitik für die nächsten Jahre komplett vom Tisch ist. Wir dürfen einfach nicht erwarten, dass sie sich darauf beschränkt, dass wir einmal im Jahr in Berlin ein paar Plakate im Kreis herum tragen.

Sonntag, 22. September 2013

Netzpolitik bleibt in der APO

Gestern hatte mich ein Freund noch gewarnt: "Pass auf, wenn viele Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, schafft die CDU die parlamentarische absolute Mehrheit." Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Eintrag schreibe, ist diese absolute Mehrheit wahr geworden. Erstmals seit 1957.

Eigentlich hätten wir es wissen können. Wie sahen denn die Optionen aus? Abgesehen davon, dass der Opposition außer Witzen über die Handhaltung der Kanzlerin und der Bezeichnung "Mutti" schon fast bemitleidenswert wenig einfiel, braucht sich niemand zu wundern, warum sich die CDU in einem historisch dämlichen Wahlkampf durchsetzen konnte: Die SPD hatte ihrer Vorliebe für dicke, alte Macker nachgegeben und ein Politfossil ins Rennen geschickt, das vor allem durch trampelhaftes Benehmen bestach. Inhaltlich hob sich diese Partei nur durch diffuse Ankündigungen ab, dass mit ihr alles irgendwie gerechter werde. Offen blieb freilich die Frage, wie eine Partei, welche die zentralen Figuren der großen Koalition ins Rennen schickt, auf einmal ihr Herz für Menschenrechte und Sozialstaat erkannt haben soll. Unter diesen Umständen sind die drei hinzugewonnenen Prozentpunkte sogar noch ein echter Erfolg. Ehrlicherweise müsste die SPD sogar für das Ergebnis dankbar sein. Weder schwarz-rot, noch rot-rot-grün hätte sie überlebt.

Die FDP hatte außer der Bundesjustizministerin keinen Aktivposten zu bieten. Selbst die naseweisesten Sprüche ihres Vorsitzenden konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Partei seit Jahren ihren einzigen Existenzgrund darin sah, ins Parlament zu kommen, um dort - was noch einmal zu machen? Das wusste niemand so recht.

Den Grünen muss man wenigstens die ehrliche Ankündigung zugestehen, dass es mit ihnen in der Regierung teuer wird. Enorm explodierende Energiekosten als Gegenkonzept zu wahnsinnig explodierenden Energiekosten waren aber offenbar selbst eingefleischten Grünwählern nicht überzeugend zu vermitteln.

Die Linke war die einzige Partei, die während des Wahlkampfs wenigstens andeutungsweise Inhalte auf ihre Plakate druckte. Es blieb freilich die Frage, wie diese edlen Ziele umgesetzt werden sollen. Bei mir blieb vor allem der Eindruck einer brav Parolen abspulenden, insgesamt aber eher ratlosen Partei.

Die AfD scheitert aus dem Stand heraus knapp am Einzug in den Bundestag. Diese Zahl ist interessant, zeigt sie doch, dass eine reine Protestpartei realistische Erfolgschancen hat. Wesentlich mehr als D-Mark-Romantik und die schon fast niedliche Illusion, sich im Zeitalter der Globalisierung wirtschaftlich vom Rest der Welt entkoppeln zu können, hatte die Partei nicht zu bieten. Wie immer, wenn man einen unliebsamen Gegner loswerden will, wurde versucht, die AfD als Nazis abzustempeln, aber die Masche verfängt natürlich nur bei Leuten, die aus was gegen Nazis haben. Außerdem musste man sich nur die Krawallbrüder von den Republikanern und der NPD ansehen, um zu wissen, dass die AfD anders daher kommt. Eleganter. Mit Haupt- und Nebensätzen. Da muss man schon etwas mehr in peto haben als Antifaparolen aus der Mottenkiste. Möglicherweise besiegelt das knappe Scheitern auch das Ende dieser Partei, aber das ist meiner Meinung nach noch nicht gesagt. Ich schreibe sie vorest noch nicht ab.

Kommen wir zu den Piraten. Groß waren die Hoffnungen der vergangenen Jahre, dass Netzpolitik endlich allgemein gesellschaftliche Relevanz erlangt haben könnte, dass wir endlich den Weg aus den Hackerspaces in die analoge Welt geschafft hätten. In gewisser Hinsicht ist es auch gelungen - technisch gesehen. Selbst die konservativsten Knochen haben inzwischen I-Pads und Smartphones, um darauf ihr Social-Media-Profil zu pflegen. Leider haben sie dabei nicht die Vorstellungen übernommen, die wir mit dieser Technik verbinden. Für sie ist das Netz weiterhin wie eine Mischung aus Telefon, Fernsehen und Zeitung, und entsprechend wollen sie darin Sendezeiten, Inhaltskontrolle und das Verbot, voneinander abzuschreiben. Das Netz als Teil der Persönlichkeit, als Lebensraum gibt es für sie nicht. Wenn sie twittern, sind es Sätze wie "Auf dem Weg zur Fraktionsgeschäftssitzung. Debatte über Drucksache 24/11-13 wird interessant" oder anderer inhaltsleerer Blödsinn, den ihre PR-Zombies als total Web 2.0 ansehen. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als könnten die Piraten in diese Welt einbrechen, aber sie sind gescheitert. Gründe gibt es mehrere:

Der Mythos der "Ein-Themen-Partei": Groß war das Gejammer. Wie kann eine Partei nur so lau mit nur einem Thema, nämlich der Netzpolitik daher kommen? Schon vor vier Jahren habe ich geschrieben: Na und? Die FDP konnte über Jahre hinweg nur das Wort "Steuersenkung" stammeln und kam damit durch. Die AfD hat außer "D-Mark" praktisch nichts zu bieten und schafft es fast in den Bundestag. Doch wie reagieren die Piraten? Statt die Nerven zu behalten und sich auf das eine Thema, das sie wirklich können, zu konzentrieren, wenden sie viel Zeit und Energie auf ein "Vollprogramm" auf - ein wild zusammengestoppeltes Konglomerat irgendwelcher mehr oder weniger ausgegorener Positionen, unlesbar und uninteressant, aber ein gefundenes Fressen für alle, die sich über die Piraten immer schon einmal totlachen wollten.

Transparenz: Größte Stärke und gleichzeitig größte Schwäche der Piraten war es immer, alles öffentlich zu leben. Alle sollten sehen, wie die Partei Beschlüsse fasst. Das Ganze hat nur zwei Nachteile. Der eine ist nicht weiter schlimm: Es interessiert niemanden. Der viel entscheidendere Nachteil: Während sich die Piraten öffentlich wie die Kesselflicker stritten, erweckten alle anderen Parteien ein vergleichsweise geschlossenes Bild. Intern sah es bei ihnen auch nicht besser aus, aber sie hielten ihre Streitigkeiten wie die ganzen Jahre zuvor streng unter Verschluss.

In der Summe führte es dazu, dass sich nicht nur zu jedem im Vollprogramm vertretenen Nischenthema irgendwo in der Partei jemand fand, der dazu etwas sagen konnte, sondern dass die offene Informationspolitik dazu führte, dass er es auch tatsächlich sagte. Selten war das von Vorteil. Die Medien liebten eine Zeit lang diesen unerschöpflichen Interviewpool, und die Öffentlichkeits- und Karrieresüchtigen, die in den zwischenzeitlich zweistelligen Wahlergebnissen großartige Aussichten für eine politische Laufbahn sahen, ließen keine Chance aus, ihr dummes Gewäsch in jedes Mikrofon zu erbrechen, das die Journalistinnen nicht rechtzeitig wegzogen. Eines aber übersahen sie: Öffentlichkeit heißt nicht, zwangsläufig von allen geliebt zu werden. Es kann auch heißen, dass man Kritik einstecken muss, und darin waren die Piraten leider nie besonders gut. Tauchte irgendwo ein Artikel auf, der es auch nur wagte, neben den Lobeshymnen ganz vorsichtig auf die eine oder andere Schwäche hinzuweisen, dann konnte das noch so konstruktiv und freundlich geschrieben sein - die Kommentare ereiferten sich, als hätte der Autor mit einer Kettensäge eine komplette Grundschule niedergemetzelt. Kritik wurde nicht als Chance, sondern als Häresie betrachtet, und entsprechend versiegte die Diskussionskultur in und um die Piraten schnell in hysterischem Gekreische. Hoffentlich hört mich jemand und schreibt einen Artikel über mich.

Hinzu kamen einige ungeschickte Aktionen von Parteimitgliedern, welche die Grenze zwischen ihrer allgemein netzpolizischen und der Parteiarbeit nicht sauber gezogen bekamen. Oft handelten sie mit den besten Absichten, aber in der Netzbewegung kam es so an, als versuche die Partei, sie zu vereinnahmen. Besonders beispielhaft zeigte sich das am "Fahnenstreit", äußerlich gesehen einer Lappalie, die sich über Jahre hinzog und um die Frage drehte, ob und wie viele Parteifahnen auf Demonstrationen angemessen sind. Für die Piraten ging es darum "Präsenz zu zeigen", für die Netzbewegung darum, dass ihre Demonstrationen als parteiunabhängige Veranstaltung wahrgenommen werden. "Was können wir denn dafür, dass wir nun einmal den größten Teil eurer Bewegung stellen?" fragten die Piraten. "Ihr seid gar nicht so viele", entgegnete die Netzbewegung. "Ihr seid nur diejenigen, die mit den meisten Fahnen aufkreuzen. Der Rest von uns trägt diese Fetzen nicht und wird trotzdem mit zu euch gezählt." - "Ist denn das schlimm?" fragten die Piraten. "Ja", sagte die Netzbewegung. "und zwar dann, wenn wir nicht mehr als unabhängige Institution, sondern nur noch als euer Anhängel wahrgenommen werden. Damit vergrault ihr die Leute, die anderen Parteien angehören." - "Aber wir sind doch euer parlamentarischer Arm."

Nein, das seid ihr nicht, zumindest nicht unbedingt. Wir freuen uns, wenn ihr unsere Interessen vertretet, aber wenn SPD, Grüne, FDP, Linke, ja vielleicht auch die CDU auf unsere Anliegen reagieren, freut uns das genau so. Streng genommen ist uns egal, wer im Parlament netzpolitische Positionen stärkt, so lange es überhaupt geschieht.

Ich bin gespannt, zu sehen, was jetzt passiert. Wie viele derjenigen, die von einer glänzenden Politkarriere, Fernsehauftritten und Titelgeschichten in den Zeitungen träumten, werden jetzt noch den Piraten die Treue halten? Wie viele Fahnenschwenkerinnen haben noch Spaß an ihrer Politclownerie, jetzt, da sie wissen, dass ihnen niemand zuschaut? Wie viele Empörungskünstlerinnen mit Adrenalinüberschuss werden sich jetzt noch in Forenkommentaren heilige Kriege liefern, wenn sie der Illusion beraubt wurden, alle Welt bewundere sie dafür? Oder kürzer: Wer bleibt den Piraten erhalten - die ehrlichen Aktivistinnen oder die Schwachköpfe? Werden die Piraten wieder zu Avant Garde oder verkommen sie zum Debattierclub für Nabelschaufetischistinnen?

Wichtigste Lehre: Unsere Filterblase ist nicht repräsentativ. Nicht einmal ansatzweise. Ähnlich wie die SPD-Anhängerinnen über Monate hinweg Rechenkunststücke weit abseits der mathematischen Logik veranstalteten und bei Auftritten Steinbrücks vom "nächsten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland" schwadronierten, kramten Piraten und mit ihnen Teile der Netzbewegung irgendwelche halbgaren Umfragen heraus und verkündeten, sie hätten bei 12-jährigen Schreinerstöchtern im östlichen Schwarzwald vormittags zwischen 9 und 11 Uhr einen Stimmanteil von 17 Prozent, der Einzug in den Bundestag sei mithin in greifbare Nähe gerückt. Verstärkt wurde dieser Irrglaube durch die umfangreiche Berichterstattung zum NSA-Skandal, die zwar erfreulicherweise zeigte, dass viele Journalistinnen die Tragweite der Enthüllungen genau verstanden hatten, in der Öffentlichkeit aber praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Spätestens nach dieser Wahl werden wir uns von der Illusion einer starken und für die große Politik relevanten Netzbewegung verabschieden müssen. Für den Traditionsrundmarsch "Freiheit statt Angst" in Berlin mögen zusammengelogene 20.000 Teilnehmerinnen vielleicht noch ein hübsches Bild abgeben, aber wenn die einzige objektiv messbare Meinungsumfrage namens Wahl uns schmerzhaft mit der Realität abgleicht, ist es vielleicht an der Zeit, das Träumen zu beenden und sich der Wahrheit zu widmen. Es ist auch Unsinn, darauf warten zu wollen, bis die junge Generation, bei der unsere Themen wenigstens noch etwas Relevanz haben, ins Wahlalter kommt. Leute, schaut euch die Altersstatistiken an. Dieses Land vergreist. Wir werden auf absehbare Zeit von alten Säcken regiert, für die das Internet bis zu ihrem Tod eine Sammlung von Röhren bleiben wird. Die paar nachwachsenden Teenager werden niemals ein Gegengewicht bilden können.

Eine ganz wichtige Lektion werden einige von uns noch lernen müssen. Die Wahlbeteiligung lag über 70 Prozent und ist im Vergleich zur letzten Wahl sogar leicht gestiegen. So etwas nennt sich demokratisch legitimiert. Wir können uns darüber unterhalten, ob die Bundesrepublik im Vergleich zu Weimar so weit stabilisiert ist, dass man die Fünf-Prozent-Hürde abschaffen kann, aber das hieße eben auch, dass neben den Piraten auch FDP und AfD im Bundestag sind. Das will dann auch wieder niemand. Demokratie heißt nicht, dass alles nach meiner Pfeife tanzt.

Der letzte Satz mag manche überraschen. Lest ihn zur Not ruhig noch einmal. Wenn mir irgendetwas nicht passt, dann ist das nicht automatisch sex-, fem-, rass-, fasch- oder sonstwieistische "Kackscheiße", sondern vielleicht ausnahmsweise mal berechtigt. Wenn die Regierung ein Gesetz beschließt, das mir nicht passt, ist es vielleicht ungerecht, nachteilhaft für mich oder einfach nur unsinnig, aber nicht automatisch verfassungswidrig. Die Feststellung, was in diesem Land verfassungswidrig ist und was nicht, treffen nicht du oder ich, sondern ein eigens dafür geschaffenes Gericht, das aus gutem Grund vom politischen Tagesgeschäft angekoppelt ist. Nur weil ich in der Minderheit bin, werde ich nicht automatisch unterdrückt, ausgegrenzt oder diskriminiert und muss deswegen unbedingt geschützt werden, sondern manchmal muss ich auch einfach einsehen, dass die Anderen in der Mehrheit sind.

Mittwoch, 18. September 2013

Nichtwähler-FAQ

Zum Thema Nichtwählen habe ich mich schon an anderer Stelle ausgelassen. Da aber regelmäßig zu Wahlen die gleichen selbsternannten Querdenkerinnen auftauchen und mit gewichtiger Stimme verkünden, warum sie als wahre Widerstandskämpferinnen gegen das korrupte System ganz mutig nicht zur Wahl gehen, habe ich mich entschieden, die häufigsten Argumente aufzugreifen und zu schreiben, was ich davon halte.

"Es ist meine freie Entscheidung, nicht wählen zu gehen."

Natürlich ist es das, genau so, wie es meine freie Entscheidung ist, dein Verhalten dumm zu finden. Wenn du einfach nicht wähltest und dafür den Rest der Zeit den Mund hieltest, hätten wir auch keine Schwierigkeiten miteinander. Statt dessen liegst du mir die ganze Zeit jammernd in den Ohren, alles sei so schlimm. Nun, du hattest die Gelegenheit, es zu ändern. Du hast sie nicht wahrgenommen. Geh mir nicht auf die Nerven.

Bitte, jetzt drück nicht auf die Tränendrüse und wein mir was vor, ich "diskriminiere", ja schlimmer noch "bashe" dich. Die Freiheit, alles zu tun, umfasst nicht die Pflicht der Umstehenden, jeden Schwachsinn zu bejublen. Freiheit heißt nicht zuletzt, für die Folgen seines Tuns gerade zu stehen, und das kann eben auch heißen, sich von mir auslachen lassen zu müssen.

"Es ändert sich ja doch nichts."

Zugegeben, die Parteien boten in den letzten Jahrzehnten reichlich Anlass zur Enttäuschung. Als Rot-Grün Ende des letzten Jahrhunderts Schwarz-Gelb ablöste, dachten wir, jetzt käme der große Generationenwechsel, alles werde gut. Statt dessen bestand eine der ersten Entscheidungen darin, sich aktiv an einem Krieg zu beteiligen. Kurz darauf beschloss die gleiche Regierung ein ganzes Bündel verfassungswidriger "Sicherheitsgesetze". Kurz vor Ende ihrer Regierungszeit schaffte sie dann noch den Sozialstaat ab. Die dann folgene schwarz-rote Koalition wollte eigentlich niemand. Deswegen verzeihen wir es ihr sogar fast, dass sie die Internetzensur beschloss. Vom derzeitigen schwarz-gelben Bündnis erwartete niemand allzu viel, allenfalls, dass ihre Politik aus einem Guss sein werde. Statt dessen besticht sie durch Peinlichkeiten, Abwarten, Zaudern und Konfusion in einer Form, welche die Ära Kohl als eine Zeit radikaler Entschlossenheit erscheinen lässt. Egal, wie die nächste Regierung aussehen wird - ich zweifle nicht eine Sekunde daran, dass sie es ähnlich vergeigen wird.

Also einpacken und nach hause gehen? Nein, denn so funktioniert Demokratie nicht.

Der letzte Satz hatte eine schöne Doppelbedeutung. Tatsächlich funktioniert Demokartie so nicht. Jetzt. In diesem Moment. Die Leute glauben, Demokratie sei eine Art Luxusrestaurant, das zu besuchen man sich alle vier Jahre leisten kann. Dann schaut man andächtig auf die Karte, wählt mit Kennermiene ein Gericht aus und hat es dann in exakt der Form zu genießen, wie es sich der Vier-Sterne-Koch im seinem Refugium gedacht hat.

Genau das ist Quatsch. Demokratie ist die schmierige Pommesbude an der Ecke. Der unrasierte Typ hinter dem Tresen ist keinen Deut besser oder schlechter als du, und wenn der mal wieder Pamp serviert, dann langst du kurz rüber und erzählst ihm deine Meinung. Mehr sogar: Zur Not schubst du ihn beiseite und kochst deinen eigenen Kram. Du musst nur genug Leute finden, die dein Zeug essen wollen. Vielleicht stellst du dich beim Kochen furchtbar an, vielleicht schmeckt dein Essen genau so grässlich wie das der Anderen, aber es ist dein Essen. Du sorgst dafür, dass es gelingt.

Demokratie lebt von ständiger Einmischung. Wenn du den Eindruck hast, dass sich ein Raumschiff Bundestag gebildet hat, in dem eine abgehobene Abgeordnetenkaste weit entfernt vom Volk herumschwebt und ihr eigenes Leben lebt, dann liegt es daran, dass du es zugelassen hast - dass über Jahrzehnte hinweg dir nichts als Jammern einfiel. Zum Glück muss das Raumschiff gelegentlich zum Proviantholen landen. Sorgen wir dafür, dass es diesmal am Boden bleibt.

"Ich werde ein Signal setzen."


Wer streut eigentlich immer wieder dieses blödsinnige Gerücht, ungültig abgegebene Stimmen könnten abends in den Balkengrafiken bei ARD und ZDF auftauchen, wenn nur genügend entsprechend ankreuzen? Leute, wollt ihr mir denn mit aller Gewalt beweisen, dass wirklich jeder Depp wählen gehen darf? Die Sitzverteilung berechnet sich nach den abgegebenen gültigen Stimmen. So lange es auch nur eine einzige davon gibt, kommen sinnvolle Werte heraus, und niemand merkt etwas. Ihr könnt auch gern ellenlange Ergüsse auf den Stimmzettel kritzeln, warum ihr alles doof findet. Glaubt ihr ernsthaft, das liest sich jemand durch? Wie stellt ihr euch die Auszählung vor? Meint ihr, wir säßen da im Kreis, jemand entfaltet feierlich den Stimmzettel, ruft: "Gaudete! Höret die Stimme des Volkssouveräns!", verliest das Votum, und ein Mönch mit Gänsekiel protokolliert andächtig das Ergebnis auf Pergament? Ich habe über Jahrzehnte im Wahllokal gesessen. Abends beim Auszählen wollten wir vor allem eins: heim. Wir haben zugesehen, so schnell wie möglich fehlerfrei auszuzählen. Da guckt keiner, welche Pamphlete irgendein Wichtigtuer verfasst hat. Da zählt nur eins: gültig oder nicht? Geschwafel gehört zur Kategorie "ungültig", wird zwar auch zahlenmäßig erfasst, hat aber keine Auswirkung aufs Wahlergebnis.

"Ich bin Anarchistin."

Heißt: Du lehnst die parlamentarische Demokratie prinzipiell als Instrument der Entscheidungsfindung ab und möchtest ein anderes System herbei führen. Du magst dich wundern, aber das respektiere ich. Genauer: Ich respektiere es, so lange du deine Revolution nicht aufs Wohnzimmer oder den monatlichen Debattierklub beschränkst, wo ihr euch gegenseitig euer Leid klagt, sondern dich friedlich für eine Änderung des Systems einsetzt. 

Dienstag, 17. September 2013

Kann ausnahmsweise einer an die Kinder denken?

Lieber Herr Trittin,

es gibt viele Gründe, Sie und Ihre Partei als politische Gegner zu betrachten: die Oberlehrermentalität, den Drang, Gesetze zu erlassen, wo Überzeugen angebracht wäre, der Krieg, den Sie geführt, die verfassungswidrigen Sicherheitsgesetze, die Sie beschlossen haben und, ja, natürlich auch dieses vollkommen idiotische Dosenpfand, das mich zwingt, Plastikmüll wie rohe Eier zum Pfandautomaten zu schleppen, der das Etikett wegen einer winzigen Falte nicht lesen kann oder gerade verstopft ist und dann, wenn er doch ausnahmsweise funktioniert, Sekunden später die mit höchster Sorgfalt dargebrachte Dose zermatscht. Ich könnte noch lange weiter aufzählen: die Quote, explodierende Energiekosten, Abbau des Gesundheitswesens, Hartz IV, die Internetzensur - alles Errungenschaften, die wir direkt Ihnen zu verdanken haben oder wenigstens von Ihnen mit beschlossen wurden. All dies kreide ich Ihnen - zu recht oder nicht - an, aber eines nicht: dass Sie vor 32 Jahren in Göttingen ein unfassbar dummes Wahlprogramm unterschrieben haben. Unfassbar dumm deshalb, weil es eine Passage zur Straffreiheit von Pädophilie enthielt, die heute kein empfindungsfähiges Wesen mehr so stehen ließe.

Das wissen Sie inzwischen selbst. Mehr als das: Sie gaben sogar eine unabhängige Studie in Auftrag und ließen es zu, dass eine Woche vor der Bundestagswahl Ihr schwerer Fehler aus dem Jahr 1981 noch einmal an die große Glocke gehängt wird. Befänden wir uns mitten in der Legislaturperiode, hätte der politische Gegner ein wenig gelästert, Sie hätten sich brav Ihre Tracht Prügel abgeholt, und die Sache hätte sich erledigt. Nun aber befinden wir uns ausgerechnet in der Woche vor der Bundestagswahl, einer Phase also, in der Sachargumente schon lange völlig uninteressant sind und die CDU die Typen aus dem Keller heraus lässt, die sie sonst da unten wegschließt, weil sie selbst für ihre Maßstäbe peinlich sind. Philipp Mißfelder zum Beispiel. Gegen den wirkt selbst Claudia Roth noch intellektuell.

Die CDU, deren Vorgängerpartei das Ermächtigungsgesetz mit beschlossen hat, deren Mitglieder in der NS-Zeit aktiv mitgemordet haben, deren DDR-Ableger das SED-Regime mit unterstützt hat. Die CDU, Akteurin in diversen Parteispendenaffären, die einen ehemaligen Bundeskanzler vergöttert, der in einem Strafverfahren einfach keine Lust hat, als Zeuge auszusagen und dafür nicht belangt wird - diese Partei, die für alle Zeit das Recht verwirkt haben sollte, Begriffe wie "christlich" oder "Moral" auch nur laut auszusprechen, erdreistet sich jetzt also, sich zur moralischen Instanz über Sie zu erheben, ähnlich wie damals, als es in der katholischen Kirche nicht um irgendwelche theoretisch-programmatischen Kindesmisshandlungen, sondern um ganz reale Fälle in Pastorenwohnungen und Schulen ging? Oh, ich höre gerade, das fand damals keiner in der CDU so richtig schlimm, da forderte keiner rückhaltlose und brutalstmögliche Aufklärung. Naja, mit der Kirche verdirbt man es sich ja auch nicht.

Ich krame uraltes Zeugs aus längst vergangenen Tagen hervor? Genau, ich finde das auch albern. Menschen ändern sich, Parteien ändern sich. Jutta Ditfurth wird Ihnen das bestätigen. Baldur Springmann und Petra Kelly könnten das auch, wenn sie noch lebten.

Deshalb wähle ich Sie nicht - nicht wegen der Dinge, die Sie unterschrieben haben, als ich noch ein Kind war, sodern wegen der Dinge, die Sie und Ihre Partei jetzt gerade verschusseln. Darunter ist nichts, was Ihren Rücktritt als Spitzenkandidat rechtfertigte. Sie verkörpern das, was ich an Ihrer Partei nicht leiden kann, und das ist genau der Grund, warum Sie auf diesen Posten gehören. Sie erledigen Ihre Aufgabe gut, und das meine ich ausnahmsweise nicht ironisch.

Wer jetzt die Grünen nicht wählt, weil vor 32 Jahren ein Göttinger Student und Stadtratskandidat ein blödsinniges Wahlprogramm einer in der Gründungsphase befindlichen Partei unterschrieben hat und sich deswegen heute von den öligen Politplacebos einer CDU-Jugendorganisation ankläffen lassen muss, hat es nicht anders verdient, zur Belohnung weitere vier Jahre von einer Partei reagiert zu werden, die den Stillstand zum rautenförmigen Konzept erhoben hat.

Trotz allem viel Erfolg bei der Wahl und einen fairen Wahlkampf wünscht

Ihre Publikumsbeschimpfung

Samstag, 7. September 2013

Buchkritik: Internet-Meme - kurz & geek

O'Reillys "Kurz-&-geek"-Reihe hat sich als verlässliche Quelle für die Einführung in die Nerdkultur etabliert. Namhafte Autoren, passabler Preis, ordentlicher Inhalt - was will man mehr? So griff ich auch ohne großes Nachdenken zu diesem Buch. Plom und erlehmann kennen sich aus, und haben in zahlreichen Podcasts sowie Vorträgen über das Thema gesprochen, da kann nicht viel schief gehen. Außerdem sind Katzen auf dem Buchdeckel.

Meme gibt es so zahlreich und in so vielen Variationen, dass kein Buch der Welt eine Chance hätte, sie alle zu beschreiben. Es wäre zum Erscheinungszeitpunkt schon hoffnungslos veraltet. Entsprechend versuchen die Autoren auch nur, die historische Entwicklung zu skizzieren, einige Meilensteine zu beschreiben und die wichtigsten Quellen zu nennen, denen diese Meme entspringen. Das ist notwendigerweise subjektiv. Die Einschätzung der Relevanz einiger Quellen und Meme mag nicht der Sicht einiger Leserinnen entsprechen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie irgendwo komplett falsch ist.

Die Autoren versuchen, möglichst neutral und präzise vorzugehen. Das ist einerseits löblich, weil sie damit ihrem Anspruch gerecht werden, das Thema sauber aufzuarbeiten und vielleicht sogar das erste Werk im deutschsprachigen Raum vorzulegen, das überhaupt nach annähernd wissenschaftlichen Maßstäben die Memkultur beschreibt, gleichzeitig aber liest sich dadurch das Buch so öde wie eine Seminararbeit. Das liegt natürlich auch in der Natur der Sache. Kaum etwas ist dröger als der Versuch, über Humor zu schreiben. Gleichzeitig aber scheitert das Buch an seinem eigenen wissenschaftlichen Anspruch. So definiert es am Anfang Meme über ihre virale Verbreitung, kritisiert aber am Ende andere Arbeiten, die virale Kulturverbreitung, nicht jedoch Meme zum Thema haben. Der scheinbare Widerspruch löst sich erst nach einigem Blättern. Eine klare Abgrenzung der Begriffe, eine Beschreibung, was viral aber dennoch kein Mem ist, wäre hilfreich gewesen.

Erwarten Sie also kein lustiges Buch. Erwarten Sie auch nicht viel Neues, wenn Sie sich ohnehin souverän in der Nerdkultur bewegen, soziale Medien nutzen und Podcasts hören. Wenn Sie meine Andeutung mit den Katzen zwar erkannt haben, Ihnen aber nicht klar ist, warum um diese Tiere in bestimmten Kreisen so ein Gewese veranstaltet wird, ist das Buch ein guter Ausgangspunkt für weitere Recherchen.

Internet-Meme - kurz & geek 
1. Auflage Juni 2013 
ISBN 978-3-86899-805-4
240 Seiten, broschiert
eBook-Format: PDF 

Die Partei hat immer Recht

Es sind weniger die Parteien, die mir so unendlich auf die Nerven gehen, es sind ihre Mitglieder.

Wer hat eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, ein Parteibuch gäbe es nur im Tausch mit einem Großhirn? Für alle, die jetzt überrascht aufhorchen: Das Gerücht ist falsch. Ihr dürft euren Grips behalten, ehrlich. Selbst bei den Piraten.

Oder wo auch immer. Bei denen fällt es mir nur besonders auf, weil sie einen großen Teil meiner Filterblase bilden. Tatsächlich habe ich das gleiche Phänomen auch bei den Grünen sowie der SPD beobachtet und bin mir sicher, dass es mir bei anderen Parteien genau so auffiele, wenn ich mit deren Mitgliedern mehr Kontakt hätte. Na gut, bei einigen Parteien kann es natürlich auch sein, dass deren Mitglieder nicht allzu viel Grips haben, den sie eintauschen könnten, dass also die Mitgliedschaft eher den konsequenten Abschluss eines Prozesses zunehmenden intellektuellen Dahinsiechens darstellt. Irgendwie muss man einen Ronald Pofalla oder einen Fipsi Rösler ja ertragen können.

Ich war auch 15 Jahre Mitglied einer Partei, und ich kenne das Gefühl, mit dem Mitgliedsantrag so etwas wie Blutsbrüderschaft geschlossen zu haben. Ab diesem Moment bin ich die Partei, und die Partei ist ich. Wer die Partei als Ganzes oder ihre Repräsentantinnen angreift, greift auch mich an, und zwar nicht irgendwie allgemein, diffus, weil ich als Mitglied das mit unterstütze, sondern ganz konkret mich als Mensch. Entsprechend reagiere ich dann auch: persönlich angegriffen, emotional, aufbrausend, verletzt, unsachlich.

Es reichte ein einziger Tweet, in dem ich andeutete, der Abbau des Sozialstaats sei ganz maßgeblich unter einem sozialdemokratischen Kanzler und sozialdemokratischen Bundesministern vorangetrieben worden, um eine ganze Lawine von Tweets eines Sozialdemokraten loszutreten, der meinte, die Piraten hätten ja nicht einmal vernünftige Positionen zu diesem Thema in ihrem Wahlprogramm stehen. Merken Sie, was ich meine? Ich hatte mich nicht als Piratin geäußert - wie auch, ich bin keine -, und es ging auch nicht darum, die Piraten toll aussehen zu lassen, sondern zu kritisieren, wie die SPD sich als Retterin genau des Sozialstaats aufspielt, zu dessen Beseitigung sie Monate zuvor noch selbst aktiv beigetragen hat. Darauf gingen die Tweets auch gar nicht erst ein. Wichtig war nur: Einen deutschen Sozialdemokraten greift man nicht ungestraft an.

Einen ähnlichen Effekt beobachte ich bei den Piraten - der Partei, die ich lange Zeit für die einzige Chance hielt, basisdemokratische und transparente Prozesse in einem erstarrten Parlamentsbetrieb zu etablieren. In ihrer Aufbauphase vor vier Jahren fand ich es auch völlig legitim, auf maximale Außenwirkung zu zielen. Über viele Wochen waren die Piraten die einzige Partei, welche die von CDU und SPD (sic!) eingeführte Internetzensur als allgemeine Gefahr erkannten und dagegen protestierten. Wochenlang mussten sich deren Mitglieder als Förderer dokumentierter Kindervergewaltigung beschimpfen lassen, bis sich langsam herumsprach, worum es ihnen wirklich ging. Ich fand es völlig legitim, dass sie mit Aufklebern und Fahnen darauf hinwiesen, dass sie überhaupt existieren, dass es nach dreißig Jahren wieder einen ernst zu nehmenden Ansatz gibt, neue Ideen in den Politbetrieb einzuspeisen.

Das war vor vier Jahren. Inzwischen weiß selbst meine Oma, wer die Piratenpartei ist. Sie wählt sie nicht, weil sie den Namen nicht mag, aber sie bekommt mit, was diese Partei treibt. Sie muss nicht ständig durch eine Fahne darauf hingewiesen werden.

Leider haben das die Mitglieder noch nicht begriffen. Sie ändern ihren Twitternamen von @volldepp zu @PiratVolldepp, sie ändern die Hintergrundfarbe ihres Avatarbilds auf orange und montieren noch eine kleine Parteiflagge in eine Ecke. Ich kenne offen gesagt kein Mitglied einer anderen Partei, das seinen Namen etwa in @SPDTrottel geändert hätte. Ins Foto montierte Parteilogos erlebt man allenfalls bei Kandidatinnen oder Mandatstägerinnen. Na gut, Claudia Roth ist sich für keinen Blödsinn zu schade, aber bei dieser Account ist so maßlos peinlich, dass ich eher auf einen Fake-Zugang eines übereifrigen Parteimitglieds tippe.

Manchmal habe ich den Eindruck, einen neu gewonnenen Piratenparteimitglied wird neben der Mitgliedsnummer auch gleich eine Parteifahne zugeschickt. Zumindest finde ich erstaunlich, wie viele Piraten bei Demonstrationen mit ihrer Flagge herumwedeln.

Was mich daran stört? Die Aussagelosigkeit und Penetranz. Aussagelos, weil es Leute gibt, die sich gute Parolen überlegen, die pfiffige Transparente basteln. Achten Sie einmal darauf, was die Presse fotografiert. Die interessiert sich für Sprüche wie "Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen". Fahnen nimmt sie auf Fotos mehr in Kauf als dass sie gezielt danach suchte, und genau das scheint die Fahnenträger zu animieren, zu einer Methode zu greifen, die sie sonst vehement kritisieren: Spamming. Überall, wo die Kamera hinguckt, muss ein Fahnenmeer sein. Das hat nichts mehr mit Präsenzzeigen gemein, das ist einfach penetrant. Ich kenne sogar Piraten, die mir gesagt haben, worum es bei einer Demonstration ginge, sei ihnen völlig egal, so lange sie dort ihre Fahne schwingen dürfen. Sonst gingen sie nicht hin.

Vielleicht liegt es an meiner Vergangenheit, dass ich Fahnenträgerinnen nicht ernst nehmen kann. Über 30 Jahre bin ich auf den Gewerkschaftsdemonstrationen zum 1. Mai mitgelaufen. Über 30 Jahre liefen da Leute mit, blöd wie Knäckebrot, keine Ahnung, für welche Forderungen sie gerade einstanden, aber die DGB- oder SPD-Flagge konnten sie gerade einmal noch halten. Ach ja, und gerade in den letzten Jahren durfte die Plastikweste mit dem ver.di-Aufdruck und die Trillerpfeife im Mund nicht fehlen. Trüüüü - was für eine Aussage.

Inzwischen gibt es sogar Demonstrationen mit Quotenregelungen. Eine Fahne pro Partei müsse reichen, heißt es dann. Als wenn das etwas brächte. Es geht nicht um eine genau festzulegende Zahl von Fahnen. Es geht einfach darum, nicht den Eindruck zu erwecken, eine parteiübergreifend veranstaltete Demonstration sei eine Parteiveranstaltung, aber das habe ich in der Vergangenheit leider mehrfach erlebt. Das geht gleich mehrfach schief. Erstens bleiben der nächsten Demonstration diejenigen fern, denen es um die Sache und die nicht gegen ihren Willen zu temporären Parteimitgliedern gestempelt werden wollen. Zweitens bleibt in der Öffentlichkeit der Eindruck, es ginge bei der Demonstration vor allem um Parteiwerbung, wobei das eigentliche Ziel völlig untergeht. Drittens gerät die Partei selbst in Misskredit, weil man sie vor allem als Eigenwerbeverein und nicht als Vetreterin ernst zu nehmender Anliegen wahrnimmt.

Das darf man allerdings nicht laut sagen, denn dann steigen sofort die Parteisoldaten auf die Barrikaden und verteidigen ihre Partei gegen die vermeintliche Schändung. Erinnern Sie sich noch an das Jahr 2009? Damals reichen Artikel, in denen die Piratenpartei nicht ganz so stürmisch wie sonst bejubelt wurde, um sich den Kommentarteil mit hunderten wüster Beschimpfungen zu füllen, die sich beklagten, wie man dazu käme, die Piratenpartei nicht als gottgesandte Erlösung anzusehen. Ich wurde einmal allein für die Feststellung angegriffen, dass die Piraten nicht im Bundestag vertreten seien und wir als Veranstalter einer Diskussionsrunde irgendwo eine Grenze ziehen müssten, welche Partei wir einlüden und welche nicht. Hoch schlugen die Wogen der Empörung jedes Mal, wenn die Parteichefs von CDU und SPD sich zu einem Thema äußerten, die Erklärung des Bundesvorsitzenden einer Partei mit einem bis zwei Prozent Stimmanteilen von der Presse aber "totgeschwiegen" wurde. Das riecht doch nach Verschwörung!

Inzwischen hat sich die Lage etwas beruhigt, aber noch heute kann man davon ausgehen, auf jede noch so zurückhaltend formulierte Kritik ellenlage Tiraden zu ernten, man sei es leid, immer von der Seite angepampt zu werden, ohne die Piraten gäbe es in Deutschland überhaupt keine Netzbewegung mehr, die ganzen parteiübergreifenden Organisationen bekämen schon lang nichts mehr auf die Reihe, doch statt tränenersticktem Dank für die Rettung des demokratischen Diskurses ernte man ständig nur Beschimpfungen.

Wenn mir jetzt wieder jemand eine weinerliche Mail schreiben zu müssen meint, in der er andeutet, er könne auch gern zu hause bleiben, wenn ich ihm so blöd käme, sei ihm gesagt: wunderbar. Wenn ich Typen wie dich, die ihr ganzes Engagement für elementare Freiheitsrechte an die Bedingung knüpfen, dass man ihre Kasperletruppe ins Parlament hievt, so einfach loswerde, bin ich glücklich. Für mein Anliegen brauche ich Überzeugungstäterinnen, keine Stimmenprostituierten. Ich habe mich für Datenschutz eingesetzt, als du noch mit Mamis I-Pad um den Weihnachtsbaum gerobbt bist, und ich werde mich noch dafür einsetzen, wenn du schon längst zur AfD gewechselt bist, weil du dir dort mehr Chancen auf ein Landtagsmandat erhoffst.

Zur Ehrenrettung der Piraten sei gesagt, dass derart dünnhäutiges Gewinsel so gut wie nie von offiziellen Vetreterinnen sondern meist vom Fußvolk kommt. Das bessert die Situation leider nur wenig. Wenn ich davon ausgehen muss, dass abgesehen von einigen Mandatsträgerinnen eine Partei nur aus Bescheuerten besteht und die Entscheidungen dieser Partei durch Einbindung genau dieser Volltrottel zustande kommen, weiß ich, dass ich diese Partei daran zu hindern versuchen werde, politische Macht auszuüben. So weit bin ich noch nicht, aber allzu weit bis dahin ist es bei mir nicht mehr.

Leute, wenn ihr euch auch ohne Mandat berufen fühlt, eure Partei zu repräsentieren, lasst euch gesagt sein, dass man mit überschnappender Stimme kaum Sympathien gewinnt, dass Kritik oft auch konstruktive Elemente beinhaltet und Beißreflexe deswegen  keine angemessene Reaktion darstellen. Vor allem: Wahlen gewinnt man so nicht. Man gewinnt sie durch Überzeugungsarbeit, aber dazu braucht man mehr als eine Parteifahne.