Donnerstag, 28. September 2017

Postelektionale Depression

In den Tagen nach wichtigen Ereignissen möchte ich am liebsten mein Twitterkonto löschen.

Ein aufgeblasender Post reiht sich an den nächsten. Alle versuchen, sich an Wuchtigkeit zu überbieten. In einer Welt, deren Währung aus Retweets besteht und im Extremfall der persönliche Andy-Warhol-Moment in Form einer Talkshow winkt (über die man dann später gern auch noch ein Buch schreibt), geht es in solchen Zeiten weniger denn je um kluge Sätze, um Differenzierung und Auseinandersetzung, sondern da geht es um Haudrauf-Rhetorik, um die ganz großen Emotionen. Anders kommt man nicht an seine Likes.

Da werden sprachlich ganze Armeen in Stellung gebracht, und selbst der kleinste Tropf baut sich auf wie König Theoden vor seinen Soldaten bei der Schlacht um Rohan, mit gezücktem Schwert die vorderste Reihe abreitend, die gezogenen Speere anschlagend. Was das Maulaufreißen angeht, will man sich dem Feind von der AfD nicht geschlagen geben.

Ein kleines Experiment.

Naz.
Nazinaz.
Nazinazinazinaz.
Nazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinaz.

Merken Sie was? Genau, es langweilt. Es wirkt nicht mehr. Es nutzt einfach ab.

Wenn wir aus den letzten Wahlen eine Lehre ziehen können, ist es die: Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Das behauptet die AfD, und sie ist selbst ein komplexes Problem. Wer behauptet, das sei in Wirklichkeit ganz einfach, man bräuchte nur (wählen Sie bitte eins und nur genau eins) den Sozialstaat verbessern, die AfD rechts überholen oder nur laut genug "Nazis raus" schreien, begibt sich auf genau das Feld, das bereits von der AfD seit Monaten erfolgreich beackert wird. Falls Sie jetzt von mir erwarten, dass ich die Zauberformel aus dem Hut ziehe: nein, die habe ich nicht, aber eins kann ich versprechen: es wird kompliziert. "Kompliziert" ist übrigens das Gegenteil von "den Frauenanteil der verschiedenen Fraktionen zählen, feststellen, dass er bei der AfD besonders niedrig ist und das so verkünden, als hätte man hier den ultimativen Beweis für irgendwas gefunden".

Ich frage mich ohnehin, warum in den vergangenen Tagen die Leute immer wieder mit vor Empörung zitternder Stimme verkünden, sie hätten das AfD-Parteiprogramm gelesen. Oder das Wahlprogramm. Oder eine Rede gehört. Das sei ja schlimm, was da stünde (oder gesprochen werde).

Wen bitte wollt ihr mit diesen Enthüllungen erreichen? Die Leute, welche den Laden ohnehin nicht gewählt haben? Ja, ratet mal, warum die das taten. Die Leute, welche die AfD gewählt haben? Da gibt es zwei Gruppen. Die eine, kleinere, hat sie genau wegen dieser Sätze gewählt, der anderen war es egal, weil sie aus Protest und nicht wegen irgendwelcher Inhalte gewählt haben. Was erwartet ihr? Dass die AfD-Wähler jetzt erschrocken aufhorchen "ja, nee, das habe ich nicht gewusst, da wähle ich jetzt schnell wieder SPD"?

A propos SPD: Besonders putzig finde ich deren neue Haltung. Jetzt sind die schon ganz mutig in die Niederungen der Opposition abgestiegen, dann ist auch alles wieder gut, ja? Über Jahrzehnte versaute Regierungspolitik, abgebauter Sozial-, dafür aufgebauter Überwachungsstaat - vergeben und vergessen. Jetzt sollen wir alle auch hübsch schnell in die Partei eintreten und brav mitgestalten. Als Zeichen des kompletten Neubeginns wurde Noch-Arbeitsministerin Andrea Nahles als Fraktionsvorsitzende bestimmt. Nahles, deren herausragendste Leistung im, naja, Singen des Pipi-Langstrumpf-Lieds bestand. Ihre neue Rolle als Oppositionsführerin übte sie schon einmal mit twitterwürdiger Verbalkraftmeierei: "Ab morgen kriegen sie in die Fresse." Mit Verlaub, Frau Ex-Ministerin, die Rolle des Haustrottels ist schon an die AfD vergeben. Seien Sie nur froh, dass sie das nicht auf Facebook rausgerülpst haben, da hätte Ihr Kollege Maas das mit Hilfe seines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes gleich wegzensiert. Die Aufgabe der Opposition, und das zu wissen hätte ich von einer Profipolitikerin erwartet, besteht darin, die Regierung zu kritisieren, Gegenvorschläge zu unterbreiten. Das ist das genaue Gegenteil von "Fressehauen" oder wie es die Kollegen von der AfD auszudrücken belieben "Jagen".

Zur Ehrenrettung der singenden Ex-Ministerin sei gesagt: Ihr Parteichef kann es auch nicht besser. Die Kasperlevorstellung, die er am Wahlabend in der "Elefantenrunde" von sich gab, hätte selbst unter Volltrunkenen im Wisn-Bierzelt für betretenes Schweigen gesorgt. Das klang wie ein verstoßener Liebhaber, der völlig beleidigt feststellt, dass der Nebenbuhler mehr Glück hat. Was bitte ist daran so schlimm, dass die Grünen sowohl für eine Koalition mit der SPD zu haben waren, jetzt aber mit der CDU koalieren? Was ist so schlimm daran, dass Merkel als Verhandlungspartnerin zu Kompromissen bereit ist? Wieso kritisiert Schulz an der Kanzlerin genau das Verhalten, das seiner Partei in zwei Großen Koalitionen Ministersessel eingebracht hat? Natürlich waren die so dargereichten Früchte vergiftet. Merkels Fähigkeit, den Koalitionspartner kleinzuregieren, war bekannt. Keiner in der SPD kann behaupten, er hätte das nicht gewusst, bevor sich die Partei mit vor Machtgier feuchten Händen in die Staatskanzlei stürzte.

Das mag hart für die Spezialdemokraten sein, aber die Lage, in der sich die Partei gerade befindet, lässt sich mit der jahrelang praktizierten Symbolpolitik nicht wegzaubern. Hier ist über Jahrzehnte Vertrauen verspielt worden, und das gewinnt man nicht wieder, indem man Andrea Nahles, die jahrelang am Niedergang der Partei mitgewirkt hat, von der Oppositionsbank der Regierung "in die Fresse" hauen und ansonsten alles beim Alten lässt. Die taz hat es treffend analysiert: Die SPD muss herausfinden, was "Sozialdemokratie" heute bedeutet. Oder, schärfer formuliert: Sie muss erklären, warum man sie noch braucht.

Auf Twitter schrieb Maxim Loick: "Ich find's ja gut, dass es nach 80Mio Bundestrainer*innen jetzt 80Mio SPD-Vorsitzende gibt. Ihr könnt ja mitmachen." Abgesehen davon, dass Gendersternchen genau das sind, was die Leute in die Arme der AfD treibt, enthält der Tweet eine Fehlannahme: Ein Großteil der Leute interessiert sich für Fußball und will, dass die "eigene" Mannschaft Erfolg hat. Für die SPD interessiert sich gerade einmal ein Fünftel der Wähler. 

In diesen Tagen bemüht die SPD gern die Geschichte, erzählt stolz von den eineinhalb Jahrhunderten, die sie bereits existiert und brüstet sich damit, wie sie damals, 1933, als einzige Partei gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, wie Sozialdemokraten für ihre Überzeugung in die Konzentrationslager und in den Tod gegangen sind. Ja, das ist in der Tat bewundernswert und ein historischer Verdienst - derer, die damals Haltung gezeigt haben. Vor 84 Jahren.

Auch das mag den heute lebenden Sozialdemokraten nicht gefallen: Sie haben keinen Anteil an den Verdiensten ihrer Groß- und Urgroßeltern. Nicht Kurt Beck, nicht Franz Müntefering und ganz überraschend auch nicht Andrea Nahles waren damals im Widerstand, auch wenn sie sich noch so sehr damit brüsten, es waren Willy Brandt, Kurt Schumacher und Otto Wels. Es wird Zeit, dass die SPD begreift: Ihr könnt euch nicht ewig auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruhen. Das Rückgrat, dass die Genossen im Namen der Freiheit besessen haben, rechtfertigt nicht den Abbau eben dieser Freiheit durch heutige Parteimitglieder.

Die SPD hatte ihre Blüte in einer Zeit, in der die Schwerindustrie das Land prägte. Millionen Menschen gruben Kohle und Erz aus der Erde, verhütteten Stahl und schraubten Autos zusammen. Wenn die Arbeiterbewegung die Muskeln spielen ließ, wusste man: Jetzt wird's ernst. Heute spielt nicht mehr die Industrie, sondern vor allem die Dienstleistung eine Rolle. Soziale Ungerechtigkeit gibt es nach wie vor, doch die SPD war so beschäftigt, sich als die große, staatstragende Kraft aufzuspielen, dass die Linke - ob nun zu recht oder nicht - die Kompetenz zur Lösung dieses Problems beanspruchen konnte. Diesem Selbstbild, nicht mehr die schmuddeligen Kohlekumpel aus dem Ruhrpott, sondern die nadelstreifentragenden Staatsleute zu sein, war die SPD bereit alles zu opfern, unter anderem ihre eigene Seele.

Wer sich nicht mehr erinnern kann, der bemühe ein Internetarchiv, um herauszufinden, wie die SPD anno 2009 die parteiinterne Kritik an der Internetzensur unterdrückte. Er möge nachschlagen, wie die SPD-Parteispitze mit Rücktrittsdrohungen und mafiaähnlichen Unterhaltungen mit Mandatsträgern ("Du willst doch auch das nächste Mal wieder aufgestellt werden, oder?") den "Mitgliederentscheid" zur Großen Koalition durchpeitschte. Ähnliche Methoden kamen ebenfalls zum Einsatz, um den Schwenk hin zur Vorratsdatenspeicherung einzuleiten. Hier offenbart sich ein strukturelles Problem der Partei, und das löst man nicht, indem man beleidigt in der Opposition herumpöbelt und glaubt, da sei ja wohl nun wirklich Strafe genug.

Aber was rege ich mich auf. Twitter kann jetzt 240 Zeichen!

Sonntag, 24. September 2017

Gewählte Ratlosigkeit

Natürlich muss man extrem vorsichtig sein, was Nazivergleiche angeht, aber wahrscheinlich bin nicht nur ich es, die sich fragt: Hat es sich 1933 ähnlich angefühlt?

Die Umstände lassen sich freilich nur bedingt vergleichen, zu stark sind die Unterschiede, aber trotzdem treibt mich die Frage um: Haben die Leute damals es auch kommen sehen und die Gefahr nicht ernst genommen? Haben sie sich auch gedacht: OK, nicht schön, eine Horde hirnloser Großmäuler, aber letztlich harmlos, weil sie außer Motzen keinen Plan haben? Haben auch sie es tief im Innern gar nicht einmal so schlecht gefunden, dass die eingeschlafene Demokratie einen ordentlichen Warnschuss bekommt, dass es so nicht weiter geht (und in der Tat ging es ja auch so nicht weiter)?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Um es klar zu sagen: Wir haben nicht Weimar. Die Weimarer Republik war eine junge Demokratie, noch im Tarierungsprozess, gebeutelt vom verlorenen Weltkrieg und einer Wirtschaftskrise, zerrissen von sozialen Spannungen, gegen die selbst schlimmste Hartz-IV-Verhältnisse wie purer Luxus wirken. Heute hingegen leben wir in einem Land, das vor wirtschaftlicher Stärke nur so strotzt. Wohlstand ist mehr als reichlich da, er kommt nur nicht überall an. Das parlamentarische System hat in fast sieben Jahrzehnten zahlreiche Mechanismen gefunden, mit Gefahren umzugehen. Wir haben die NPD überstanden, wir haben die Republikaner überstanden, die Statt-Partei, die DVU und was die rechte Bierplautzeria noch hervorgebracht hat. Sie alle sind spätestens in den Parlamenten kollabiert, als sie vor lauter Pöstchen- und Karrieregier kaum noch aus den Augen gucken konnten, aber zu blöde waren, irgendetwas auf die Reihe zu bekommen. Die Frage ist allerdings: Was passiert, wenn jemand die Sache etwas cleverer angeht, einen Plan hat und ihn im Auge behält? Kann sich Geschichte wiederholen?

Demokratien sind längst nicht so stabil, wie wir immer vermutet haben. Die Türkei mutierte innerhalb weniger Monate zur Dikatur. Nun kann man sagen: OK, das war ohnehin nie das Musterland für funktionierenden Parlamentarismus. Doch spätestens wenn wir uns ansehen, was Trump mit den USA anrichtet, einem Land dessen Gründungsmythos in der Errichtung einer repräsentativen Demokratie besteht, die von Trump gerade Stück für Stück zerlegt wird, wird klar, wie schnell man die Verfassung aushebeln kann, wenn man nur will. Noch gibt es Gerichte, die den Rechtsstaat verteidigen, doch deren Neubesetzung steht an, und danach kann es eng werden. Die einzige Hoffnung besteht derzeit darin, dass die Republikaner sich untereinander dermaßen uneins sind, dass sie sich selbst gegenseitig blockieren, aber ehrlich gesagt ist das nichts, worauf ich wetten möchte, und vor allem sind das nicht die Selbstverteidigungsmechanismen, die ich gern gesehen hätte.

Frankreich, praktisch eines der Mutterländer moderner Demokratie, ist bei der letzten Wahl haarscharf an der Katastrophe vorbeigeschrammt. Auch hier hat man nicht den Eindruck, da hätte ein stabiles System souverän einen Angriff abgewehrt. Es haben sich schlicht die letzten Demokraten noch einmal zusammengerissen und das kleinere Übel gewählt.

Die gute Nachricht des Bundestagswahlsonntags ist: Die SPD zeigt erstmals seit langer Zeit so etwas wie Haltung und kündigt an, in die Opposition zu gehen. Ich hoffe zu ihrem eigenen Gunsten, dass sie das auch wirklich durchhält und nicht am Ende wieder den Verlockungen flauschiger Regierungssessel erliegt. Sollte Jamaika nicht zustande kommen und die SPD sich in einem Anfall staatstragender Selbstüberschätzung wieder zu einer Koalition hinreißen lassen, die das Attribut "groß" nun wirklich nicht mehr verdient, kann sie gelassen dem Abstieg ins Zehn-Prozent-Ghetto entgegen sehen. Vielleicht wird dann die AfD sogar zweitstärkste Kraft.

Eine "Volkspartei" kann sich der Zwanzig-Prozent-Mickerhaufen schon lange nicht mehr nennen. Schlimmer noch: Wer sich die Wählerwanderungen ansieht, erkennt, dass auch die Zeiten vorbei sind, in denen sich die SPD als Partei der Arbeiter und sozial Schwachen aufführen konnte (und noch wollte). Die sind inwzwischen bei der AfD. Die Opposition bietet für die SPD die Chance, sich neu zu ordnen, ein paar ihrer übergewichtigen, alten Macker loszuwerden und Leute nach vorne zu lassen, die das Internet nicht übers Faxgerät ausdrucken. Vielleicht wird sie sogar wieder sozialdemokratisch. Das kann zwei Legislaturperioden oder mehr dauern, aber eins sollte allen Beteiligten klar sein:

Es gibt keine Wahlergebnisse mehr, auf denen man sich ausruhen kann. Als Schröder Kanzler wurde, war die CDU am Boden. Früher wäre es das gewesen. Inzwischen aber sind Verluste und Gewinne im Bereich von 8 Prozent nichts Ungewöhnliches mehr. Merkel hatte zwei Legislaturperioden gebraucht, um die CDU wieder aus dem Keller zu holen, bei dieser Wahl gab es kräftig Prügel, aber das kann in vier Jahren schon wieder ganz anders sein. Auf die FDP hätte vor vier Jahren niemand auch nur einen Pfifferling gewettet, und jetzt punktet sie mit einem Wahlkampf, der mit einem Posterboy und seinem Thermomix geführt wurde. Die AfD wurde von enorm unzufriedenen Leuten in die Parlamente gespült, und wenn sie die nicht zufriedenstellt (was ich vermute), wandern sie zur nächsten Partei, die ihren Unmut bündelt. Das heißt aber auch: Mit einer vernünftigen Sozialpolitik bekommt man AfD-Wähler wieder in die Reihen der Demokraten. Wir haben nicht etwa 13 Prozent Leute im Land, die jeden Abend eine Flüchtlingsunterkunft niederbrennen, während die Linke davor steht und "Es heißt Geflüchtetend*innen!" schreit, sondern da sind jede Menge Leute, die sich verschaukelt vorkommen, wenn ihre vielleicht nicht besonders eloquent vorgetragene Meinung mit der Begründung, das sei jetzt irgendein -ismus und deswegen furchtbar böse, abgebürstet wird. Es sind Leute, die sich fragen, wie eine Partei einen Mitgliederentscheid als demokratisch verkaufen kann, bei dem die einzige weibliche Kandidatin von vornherein wegen der Quote gewählt ist. Sie verstehen nicht, warum sie nach jahrelanger Arbeit in ihrem Betrieb mit Hartz IV vor die Tür gesetzt werden, während diejenigen, die den Betrieb mit Schmackes gegen die Wand gesetzt haben, zum Trost ein paar Millionen Euro Tantiemen einstreichen und zum nächsten Betrieb wechseln, um dort weiter Unfug zu bauen. Klar, man kann mit der Feststellung, das sei alles gar nicht wahr, überspitzt ausgedrückt und die Leute sowieso alle Nazis, ja schlimmer noch: privilegierte weiße Männer, die Sache als erledigt ansehen, oder man kann sich fragen, woher diese verqueren Ansichten kommen und versuchen, die dahinter stehenden Gefühle zu verstehen. Dabei hilft einem kein Magister in Politologie, sondern Interesse an Menschen. Wenn die SPD das aufbringt, dann kann sie auch bald wieder regieren.

Taktisch wählen und andere Dummheiten

Es ist Wahlsonntag, ich blicke in meine Twitter-Timeline, und frage mich, ob es allein an der 140-Zeichen-Grenze liegt, dass Leute so viel dummes Zeug auf so wenige Buchstaben konzentrieren.

Bei den früheren Bundestagswahlen hieß es noch: Wählen gehen, egal was. Angeblich ist das gut für die Demokratie. Jetzt, das vieles dafür spricht, dass die AfD es in den Bundestag schafft, heißt es auf einmal: Wählen gehen, aber bloß nicht die AfD, weil die nämlich nicht gut für die Demokratie ist. Ah ja, Wählen stellt auf einmal keinen Wert an sich mehr dar. Demokratie ist es also nur, wenn die Leute brav das wählen, was mir in den Kram passt. Es mag euch nicht gefallen, aber formal gesehen ist die AfD eine demokratische Partei, sonst wäre sie nämlich nicht zur Bundestagswahl zugelassen worden.

Natürlich, ich weiß, von denen will man eigentlich niemanden im Parlament sitzen haben. Diese Partei ist etwa das, was passiert, wenn man die Spiegel-Online-Kommentarspalte aufschlösse und deren Bewohner in die weite Welt hinausließe: Viertelinformiertheit, mit blasiertem Missionierungsdrang aufgeblasen und mit allem versehen, was die Bildungsexperimente der letzten Jahrzehnte am Wegesrand hinterließen, in erster Linie also Rechtschreibung auf Vorkindergartenniveau. Das Einzige, was sie beherrschen, sind verbale Kraftmeiereien, gegen die sich Fußballfangesänge wie geschliffene Sottisen Thomas Manns ausnehmen. Natürlich will man die nicht im Bundestag haben, aber mit Verlaub: Wir haben ihnen auch nach Kräften den Weg geebnet. Die Große Koalition hat gemütlich und ohne besondere Höhen oder Tiefen vier Jahre durchregiert, und dem bisschen, was an Opposition noch verblieben war, misslang es, zu verdeutlichen, was mit ihr denn großartig anders laufen wird. Die Einzigen, die der ganzen Bräsigkeit etwas entgegensetzten, war die AfD, und nachdem mit den Piraten die letzte Protestpartei sich selbst zerlegt hatte, wanderten deren Wählen eben dorthin, wo sie ihren Damp ablassen zu können meinten.

Je näher die Bundestagswahl rückte, desto deutlicher stellten auch vermeintlich parteipolitisch neutrale Organisationen klar, wo sie tatsächlich stehen. Besonders negativ fiel dabei Campact auf. Campact, die Älteren werden sich erinnern, begann vor über einem Jahrzehnt als eine Kampagnen- und Petitionsplattform für alles, was irgendwie für Umwelt und gegen Turbokapitalismus war. Kurzzeitig entdeckte Campact sogar seine Liebe zum Datenschutz. Inzwischen aber nutzt die Plattform ihre über Jahre mühsam erarbeitete Reputation, um ganz platt Parteienwerbung zu betreiben. Natürlich sagt sie dass nicht ehrlich, sondern versteckt sich hinter der formal korrekten Argumentation, sie setze sich nicht für eine Partei, sondern für die Direktkandidaten Lauterbach und Kelber ein, die - huch, welch ein Zufall - beide der SPD angehören. Man habe es sich mit der Entscheidung, so plump in den Wahlkampf einzugreifen, nicht leicht getan, heißt es auf der Webseite, aber die beiden Jungs seien nun einmal so supi, da hätten sie praktisch keine andere Wahl gehabt, als in iherm Newsletter für diese Kandidaten zu schwärmen und zu fragen, ob man für sie nicht auch auf der Webseite werben dürfe. Kelber, Kelber, Sekunde, da fällt mir noch was ein. War das nicht der, dem man in Echtzeit beim Umfallen zuschauen konnte, als er Staatsekretär im Justizministerium wurde, eben jenem Ministerium, dessen Chef einst verkündete, mit ihm werde es die Vorratsdatenspeicherung ganz bestimmt nicht geben, nur um nach einer kurzen Kaderschulung durch Sigmar Gabriel einen Sinneswandel zu erfahren. Ähnlich ging es Kelber, der seine angebliche Überzeugung mit dem neuen Hausausweis tauschte. So sind sie, die Spezialdemokraten. Aufrecht und standhaft wanken und weichen sie nicht, wenn es um die Sache geht. Da weiß man wenigstens, was man sich für die nächsten vier Jahre ins Parlament wählt.

Aber Campact geht noch weiter. In einem neuen Blogpost verkündet die NGO, wie heute gefälligst gewählt werden soll: Etabliert. Rot, gelb, grün oder schwarz (naja, wie wir wissen, natürlich am liebsten hellrot). Auf keinen Fall soll man jedoch eine Partei wählen, die es den aktuellen Umfragen zufolge nicht ins Parlament schafft. Das ist nämlich böse und im Prinzip so, als wähle man die AfD.

Hä?

Hier kommt eine Argumentation ins Spiel, die in den vergangenen Wochen nicht nur von Campact gebracht wurde: taktisch wählen, also nicht etwa die Partei, die man eigentlich will, sondern, tja irgendwas Anderes, weil dann Magie passiert und die eigene Stimme sich in etwas verwandelt, das den eigenen Willen viel besser umsetzt, als hätte man die Wunschpartei gewählt. Wie das funktioniert? Nehmen wir zum Beispiel an, sie wären Piraten-Wähler. Der Piraten-Wähler. Oder der Andere, da sind sich die Demoskopen nicht sicher. Jedenfalls reicht Ihre Stimme nicht aus, um diese Partei über die Fünf-Prozent-Hürde und damit ins Parlament zu hieven. Damit hat Ihre Stimme angeblich keine Auswirkung auf die Sitzverteilung im Parlament. In der Konsequenz seien nur die Stimmen für Schwarzrotgelbgrün geeignet, die blau-braune Flut zu dämmen.

Zwar ist diese Begründung kein offenkundiger Blödsinn, aber ganz korrekt ist sie auch nicht. Erstens zählt jede gültige Stimme (während ungültige Stimmen, egal warum sie ungültig sind, nur auf die Wahlbeteiligung wirken und sonst exakt niemanden beeindrucken). Das heißt: Jede gültige Stimme legt die Fünf-Prozent-Hürde etwas höher und erniedrigt den prozentualen Anteil aller Parteien, für die man nicht gestimmt hat. Auf die Sitzverteilung im Bundestag hat das zwar keinen Einfluss, wohl aber auf die Frage, was man erreichen muss, um in den Bundestag einzuziehen.

"Na, das ist ja wohl klar. Ich kenne die Umfragen."

Ah, deswegen braucht der FC Köln auch nicht gegen Bayern zu spielen, weil hier klar ist, wer gewinnt. Ja, warum führen wir überhaupt noch Wahlen durch, wenn die Demoskopen schon wissen, wie sie ausgehen?

Selbst, wenn wir ausblenden, dass die Umfragen gerade bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen daneben lagen, rufe ich eine Banalität in Erinnerung: Auch wenn Bayern klar das stärkere Team ist, steht das Ergebnis erst nach dem Schlusspfiff fest. Auch wenn es klar zu sein scheint, dass die AfD mit 10 Prozent oder gar mehr ins Parlament einzieht - müssen erst einige Millionen entsprechend angekreuzte Stimmzettel in Wahlurnen gesteckt werden. Der Eindruck der vergangenen Wochen, dass im Wesentlichen alles gelaufen ist und wir eigentlich nur noch über den oder die Juniorpartner einer CDU-geführten Koalition entscheiden, ist völliger Unsinn. Ebenso ist es Quatsch, taktisch zu wählen, weil beiden Annahmen der gleiche Irrtum zugrunde liegt: der Irrtum, man allein entscheide sich gegen die Masse.

Steuerbetrug, Umweltverschmutzung, Verkehrschaos - das alles sind Phänomene, die auftreten, weil Sie selbst sich für so wahnsinnig schlau halten, dass Sie als Einzige sich nicht so dumm verhalten wie der Rest. Tatsächlich ist es völlig egal, ob Sie allein Ihren Müll richtig entsorgen. Dummerweise denken aber viele so, und deswegen liegt überall Dreck herum. Ob Sie Ihre Steuererklärung korrekt ausfüllen, kümmert niemanden. Die wenigen Euro, die Sie unbemerkt am Fiskus vorbeischummeln, rechtfertigen nicht den Aufwand, den die Behörde zu deren Entdeckug betreiben muss. Als Massenphänomen entgehen dem Staat Milliarden. Denken Sie daran, wenn Sie sich das nächste Mal über marode Straßen, verfallende Schulgebäude und unterbezahlte Polizisten aufregen. Das haben Sie höchst persönlich mit zu verantworten. Noch offensichtlicher ist es im Straßenverkehr: Die aus dem nichts auftauchenden Staus kommen zustande, weil irgendwelche Schlauberger meinen, sie seien viel klüger als der Rest, bräuchten sich nicht an Verkehrsregeln zu halten und wüssten diesen supergeheimen Schleichweg. Da der Rest der Autofahrer aber genau den gleichen Blödsinn denkt, kommen Sie auf den Straßen nicht voran.

Genau das passiert auch bei der Wahl: Kleine Parteien nicht zu wählen, weil sie so klein sind, ist eine selbsterfüllende Prophezeihung. Nicht zur Wahl zu gehen, weil doch ohnehin klar ist, dass die CDU (oder wer auch immer) gewinnt, kann dazu führen, dass am Ende die entscheidenden Stimmen fehlen. Als CDU-Stammwähler diesmal für die FDP zu stimmen, damit Schwarzgelb zustande kommt, kann bedeuten, dass die FDP plötzlich vor Kraft kaum noch gehen kann, in der Koalition den dicken Max markiert und die CDU ihre Positionen nicht mehr richtig durchgesetzt bekommt.

Vor allem, was ist das für ein Argument: "Wählt schwarzrotgelbgrün, um die AfD klein zu halten"? Das ist doch nichts weiter als das Signal: weiter so. Alles supi. Ihr habt durch einen Meinungseinheitsmatsch dafür gesorgt, dass die AfD sich zum Gegengewicht aufschwingen konnte, und diese langweilige Konturlosigkeit unterstütze ich jetzt mit meiner Stimme, damit die AfD bei der nächsten Wahl so groß wird, dass sie die SPD als Juniorpartner einer Großen Koalition ablöst.

Ist es wirklich das, was ihr wollt?