tag:blogger.com,1999:blog-19564064607791368232024-03-18T20:38:37.226-07:00publikumsbeschimpfungPublikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.comBlogger322125tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-22065457897184455062024-01-01T00:52:00.000-08:002024-01-01T00:52:51.912-08:00Deutsche Riten: Böllerverbote<p>Spätestens am 27.12. eines Jahres beginnt zuverlässig die gleiche ebenso hysterisch wie folgenlos geführte Debatte, ob die Silvesterknallerei verboten werden soll. Mir ist es eigentlich egal, weil ich die Nacht zum Jahreswechsel so verbringe wie jede andere Nacht auch: schlafend, oder zumindest mit dem Versuch zu schlafen. Als Teenager fand ich das Reinfeiern noch interessant, mit guten Freunden sowie der heimlich Verehrten lauter ungesundes Zeug in sich hineinzustopfen, über Vergangenes und Zukünftiges zu sinnieren, gegen Mitternacht die Lieblingsplatte aufzulegen und dann irgendwann den Schlafsack auszurollen, um wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen.</p><p>Dann kam das Raclette-Zeitalter.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Ich konnte noch nie verstehen, was die Leute daran reizt, maximal ineffizente Essenszubereitung zum gemeinsamen Ereignis zu stilisieren. Wenn ich Hunger habe, möchte ich essen. Ich möchte schnellstmöglich essen, ich möchte schmackhaft essen, und ich möchte dabei satt werden. Was ich nicht möchte, ist stundenlang schnippeln, das Geschnippelte in briefmarkengroße Pfännchen schaufeln, diese minutenlang unter eine Heizwendel zu halten, irgendwann die Nerven zu verlieren und den halbrohen Kram frühzeitig in sich hineinzuschaufeln. Am Ende ist noch ein Raummeter Geschnippel übrig, der den Gästen zum Mitnehmen aufgedrängt und am Ende verschämt weggeworfen wird. Ich weiß nicht, ob wir einem kollektivem Selbstbetrug aufsitzen, in Wirklichkeit alle diesen Quatsch hassen und nur mitspielen, weil sie glauben, die Anderen hätten Gefallen daran, aber zumindest ich versuche, bei Einladungen zu Silvesterparties herauszuhören, was es zu Essen gibt und sage ab, wenn die Antwort Raclette lautet. Diese an biedermeierlicher Verkrampftheit kaum zu überbietende Langweilerphantasie ist nichts für mich. Gesteigert kann sie nur noch werden, indem zu einer bestimmten Uhrzeit alle laufenden Aktivitäten unterbrochen werden, um "Dinner for one" zu gucken. Warum?</p><p>Ja, der Sketch ist ganz nett, und sein Englisch ist auf einem Niveau, das selbst im teutonischen Bildungshinterland noch mühelos verstanden wird. Er wird auch passabel gespielt, aber bitte: Was ist an diesem Sketch so besonders, dass er zum Pflichtprogramm einer Altjahresnacht gehört?</p><p>Das alles sind Bräuche, denen ich elegant ausweiche, indem ich die Nacht zum ersten Januar im Bett verbringe. Was ich nicht vermeiden kann, ist die mediale Dauerbefeuerung mit der Forderung, in diesem Jahr nun aber wirklich Böller endgültig zu verbieten. In dramatischem Tonfall bekomme ich die Feinstaubbelastung, den CO2-Ausstoß, den entstehenden Abfall, die Belastung der Tierwelt, die Verletzungsgefahr und nicht zuletzt die durch die Knallerei entstehende finanzielle Verschwendung vorgerechnet. Das mögen gute Argumente sein, aber warum kommt ihr damit erst jetzt, eine halbe Woche bevor es losgeht? Warum führt ihr diese Debatte exakt bis zum Nachmittag des 1. Januars, um dann 360 Tage wieder anderen Eichhörnchen hinterherzujagen? Geht es euch wirklich um die Silvesterraketen oder wollt ihr nur eurer Blase gegenüber besondere Linientreue demonstrieren und dass ihr euch vom kapitalistischen Konsumrausch der Jahresendzeit nicht euren messerscharfen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Missstände trüben lasst?</p><p>Wie gesagt: Mir ist es egal. In meinem Leben fehlt nichts, wenn es anlässlich eines kalendarischen Zufalls kein Feuerwerk gibt. Es fehlt mir aber auch nichts, wenn Aktivismus nicht in Effekthascherei ausartet, und genau diesen Eindruck habe ich bei der Diskussion ums Böllerverbot. Sie flammt kurz auf, die Akteure werfen sich dramatisch in Pose, nur um kurz darauf die Schultern zu zucken und sich ein neues Aufregerthema zu suchen, das ihnen Beachtung verschafft. Ich mag Fridays for Future nicht, mir geht die "Letzte Generation" auf die Nerven, aber ich erkenne an, dass hier Leute den Mumm haben, monatelang an einem Thema dranzubleiben und es in der Diskussion zu halten. Natürlich ist es organisatorisch einfacher, übers Jahr hinweg ab und zu eine Kreuzung als beispielsweise in den drei Tagen vor Jahresende die Verkaufsstände für Silvesterraketen in den Supermärkten zu blockieren, aber wenn die "Letzte Generation" uns eins gelehrt hat, ist es, dass exakt solche Aktionen es sind, die für Gesprächsstoff sorgen. Großspuriges Herumgeplustere auf Mastodon hingegen mag vielleicht euch selbst als eine Riesennummer vorkommen, da draußen im realen Leben beeindruckt das niemanden.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-76811926229482079082023-09-03T05:00:00.021-07:002023-09-06T22:05:58.598-07:00Aiwangers Selbstmitleid<p>Aiwanger. Hubert Aiwanger, oder auch Hubot Oiwongo, wie er sich selbst zu nennen pflegt. Die Synchronstimme von Seelefant aus den Urmelfilmen, wahlweise auch der Hund aus dem Loriot-Sketch, von dem es am Ende heißt: "Ich glaube, Ihr Hund kann gar nicht sprechen. Er beherrscht nur einen einzigen Laut, sowas wie 'o'." Der Mann, der nur wenige Sekunden zu reden braucht, um von jeder Amtsärztin den Hirntod attestiert zu bekommen. Als ich die Nachricht über den Flugblattfund in seinem Schulranzen hörte, war meine erste Reaktion: Unfassbar, Aiwanger kann schreiben?</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Über das Flugblatt selbst brauchen wir nicht zu streiten. Es ärgert mich, wenn es verniedlichend als "antisemitisch" bezeichnet wird. Die Generation meiner Großeltern war antisemitisch, weil ihnen bei der HJ und dem BDM das so beigebracht worden war. Nach Ende des zweiten Weltkriegs begriffen sie, dass dies falsch ist und sie so nicht reden sollten. Die Vorurteile aber blieben. Trotzdem hätten sie niemals so ein Flugblatt verfasst. Antisemitismus ist verwerflich, aber nicht unbedingt strafbar. Das Flugblatt hingegen ist es meines Erachtens, zumindest nach heutigem Recht. Es geht weit über das hinaus, was sich noch als geschmackloser Witz verharmlosen ließe. Ich bin ungefähr zur gleichen Zeit wie Aiwanger aufs Gymnasium gegangen und bezweifle, dass er an meiner Schule mit einem Referat davongekommen wäre. Ja, es waren andere Zeiten, aber auch Ende der Achtziger hätte sich bei diesen Sprüchen niemand auf eine pennälerhafte Provokation herausreden können. Auch wir hatten Grenzen.</p><p>Aiwanger ist fällig - aber nicht wegen eines 36 Jahre alten Flugblatts, sondern seines heutigen Umgangs damit. Hätte er sich gleich am Anfang vor die Kameras gestellt, die damaligen Ereignisse beschrieben, sich glaubwürdig distanziert und entschuldigt, wäre die Sache heute durch und niemand (zumindest niemand, den ich erstnehmen könnte) spräche davon, dass ein Ende der Achtziger von einem pubertierenden Pennäler zusammengeschmiertes Pamphlet heute noch Konsequenzen haben müsste. So aber schweigt Aiwanger, gibt gerade einmal das zu, was selbst für den simpelsten Verstand offensichtlich ist, schickt seinen Bruder vor, der auf einmal das Flugblatt verfasst haben soll, während der stramme Antifaschist Hubert nur beim Einsammeln behilflich war und ansonsten Erinnerungslücken aufweist (in seinem Duktus "ös nüchd örünnerlüch üsd"), die sogar den Kanzler anerkennend nicken lassen.</p><p>Selbst seine Entschuldigungserklärung, deren einziger Schönheitsfehler in meinen Augen darin bestand, dass er es bedauere, "falls" und nicht "dass" er jemanden verletzt haben sollte, reißt er wenige Tage später mit dem Hintern wieder ein, indem er wieder von einem "<a href="https://www.n-tv.de/politik/Aiwanger-sieht-keinen-Grund-fuer-Ruecktritt-article24368113.html">schlechten Witz</a>" spricht. Distanzierung und Einsicht sehen anders aus.<br /></p><p>Es geht nicht um ein Strafprozessverfahren, in dem ein Vorwurf zweifelsfrei bewiesen sein muss (oder was unter Juristinnen so als Beweis durchgeht). Wir sind in einer politischen Debatte, und da geht es vor allem um Stil, um Moral und Glaubwürdigkeit. Ginge es darum, in einem Gerichtsprozess die Anklage auf Volksverhetzung abzuwehren, kann Herumlavieren durchaus eine sinnvolle Strategie sein. Selbst wenn alle im Raum wissen, dass der Angeklagte lügt, ist er so lange freizusprechen, wie ihm nichts nachgewiesen werden kann. Wir werden wahrscheinlich nie genau wissen, wann wer auf welcher Schreibmaschine was getippt und wem in die Hand gedrückt hat. Juristisch gesehen ist Aiwanger sauber, aber das ist egal. Interessant ist nicht der Schulbubb vor 36 Jahren, sondern der stellvertretende Ministerpräsident Bayerns heute, und an dem gibt es reichlich auszusetzen.</p><p>Da wäre zum Beispiel seine Dunning-Kruger-hafte Unfähigkeit, einzusehen, dass er von einem Thema keine Ahnung hat. Als im Juli 2021 die Debatte um Coronaimpfungen ging und wegen der Komplexität des Themas kaum jemand darüber zu sprechen wagte, der nicht mindestens einen Doktortitel in Medizin, besser noch nachgewiesene Fachkunde in Virologie aufzuweisen hatte, erklärte Aiwager im Deutschlandfunk seine - vorsichtig gesagt - "Distanz" zum Impfen mit den Worten: "<a href="https://www.deutschlandfunk.de/immunologe-watzl-zu-aeusserungen-von-aiwanger-es-gibt-100.html">Ich bin Landwirt. Ich bin Naturwissenschaftler.</a>" Eine Aussage, so wahr und doch so falsch.</p><p>Söder konnte auch kaum etwas Besseres passieren als diese Affäre. Dem konservativen Lager wird sie keine einzige Stimme kosten. Noch nie hat es einem bayerischen Politiker geschadet, zu weit rechts zu stehen. Allenfalls werden sich einige Freie Wähler entschließen, wieder zurück zu ihrer eigentlichen Stammpartei, der CSU, zu wechseln. Sollte Aiwanger sich halten können, ist er zumindest so geschwächt, dass er gegenüber dem Koalitionspartner weniger großspurig auftreten kann. Insgesamt scheint es aber so, dass die Freien Wähler hinter Aiwanger stehen und ihm seine Selbstinszenierung als Opfer nicht verübeln. Das stört Söder nicht. Er braucht den comic relief, der die Lacher auf sich zieht, um von den Peinlichkeiten der Hauptfigur abzulenken. Söder allein ist nicht viel mehr als ein auf Effekthascherei fixierter Selbstdarsteller. Erst durch Vize Aiwanger wird klar: Es gibt immer noch Spiel nach unten.<br /></p><p>Seine Unterstützer sprechen von einer Kampagne. Ganz aus der Luft gegriffen ist diese Vermutung nicht. Der Zeitpunkt des Wiederauftauchens des Flugblatts hat schon a Gschmäckle. Ich fand es albern, als im Jahr 2013 anlässlich der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an den Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit einige extrem verstörende Texte aus der Frühzeit der Grünen hervorgekramt wurden - <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/P%C3%A4dophilie-Debatte_(B%C3%BCndnis_90/Die_Gr%C3%BCnen)">dreißig bis vierzig Jahre</a> nachdem sie verfasst worden waren. Die CDU hielt dem SPD-Politiker <a href="https://www.hdg.de/lemo/biografie/herbert-wehner.html">Herbert Wehner</a> seine <a href="https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/175147/der-mythos-vom-verrat/">kommunistische</a> und möglicherweise auch nicht ganz friedliche Vergangenheit in den Dreißigerjahren vor. Auch in der Vergangenheit des Bundesumweltministers Trittin wurde herumgewühlt - <a href="https://www.spiegel.de/politik/deutschland/springer-kampagne-trittin-fordert-erklaerung-von-bild-chef-diekmann-a-115285.html">erfolglos</a>, aber von Fakten ließ sich "Bild" nie sonderlich aus der Ruhe bringen. All diesen Suchaktionen gemein war der Versuch, einem Ziel irgendwelche Dinge aus der Vergangenheit anzuhängen. So ist es ein interessanter Zeitpunkt, ausgerechnet so kurz vor der bayerischen Landtagswahl einen Vorgang herauszukramen, dass er lang genug im Gespräch bleibt, um vielleicht doch noch die Stimmabgabe zu beeinflussen, aber nicht so lang, dass die unterhaltungslüsterne öffentliche Debatte sich schon längst dem nächsten Eichhörnchen zugewendet hat. Ich frage mich, was ein <a href="https://www.merkur.de/politik/sueddeutsche-zeitung-bericht-bayern-hubert-aiwanger-freie-waehler-flugblatt-antisemitismus-zr-92486716.html">ehemaliger Lehrer</a>, der damals einer über Aiwanger verhandelnden Disziplinarkommission angehörte, dreieinhalb Jahrzehnte lang mit dem bei seinem Schüler gefundenen Flugblatt angestellt hat. Warum hat er es die ganze Zeit aufgehoben? Ist er ins Schularchiv gegangen, um sich von dort eine Kopie zu besorgen? Ich weiß, das Wort "Datenschutz" will niemand hören, wenn es nicht um die eigene Klientel, sondern den politischen Gegner geht, aber gibt es nicht auch an Schulen Löschfristen? Ist Hubert Aiwanger eine derart bedeutende Figur der Zeitgeschichte, dass auch seine Vergehen als Minderjähriger unbegrenzt der Nachwelt erhalten werden müssen? Finden wir das Recht auf Vergessen zwar grundsätzlich gut, aber bei Antipathen wie Aiwanger heben wir gern alles auf - wer weiß, wozu es gut ist? Nein, Hubert Aiwanger ist kein Opfer einer "Hexenjagd", so sehr er diesen Eindruck zu erwecken sich auch bemühen mag, aber dass es der "Süddeutschen Zeitung" nur um hehren Journalismus und faktenbasierter, politisch möglichst neutraler Berichterstattung geht, kann sie Kai Dieckmann erzählen, nicht mir.</p><p>A propos, erinnert sich noch jemand an diesen Satz: "Ich werde dich finden, und anspucken, dann aufhängen mit einem Messer anstupsen und bluten lassen."? Stammt er von a) Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler in Bayern oder seinem Bruder, b) Bernd Höcke, Vorsitzender der AfD Thüringen oder c) Sarah-Lee Heinrich, Vorsitzende der Grünen Jugend? Genau, das waren die Tweets, die im Jahr 2015 von ihr geschrieben und im Jahr 2021 herausgekramt wurden, um sie ihr vorzuhalten. Heinrich war 14, als sie diese Texte verfasste. Was wiegt schwerer: sechs Jahre alte Tweets einer Vierzehn- oder 36 Jahre alte Flugblätter eines Siebzehnjährigen? Ich will das an dieser Stelle nicht klären. Auffällig ist nur, dass ihre Sympathisantinnen fast wortgleich mit den Unterstützerinnen Aiwangers reagieren, von einer "<a href="https://taz.de/Shitstorm-gegen-Sarah-Lee-Heinrich/!5805736/">Hetzkampagne</a>" und von "Cancel Culture" sprechen, die Aussagen als "lustiges Meme" oder einen "dummen Spruch" kleinzureden versuchen, und auch was das eigene Erinnerungsvermögen angeht, ist Heinrich schon eine echte Profi-Politikerin, wenn sie zu einem Tweet, bei dem sie unter ein Hakenkreuz das Wort "Heil" geschrieben hat, sagt, "sie könne sich nicht mehr daran erinnern, ihn gepostet zu haben". Die "taz" stellt sich ihr zur Seite und nennt sie eine "progressive Twitter-Userin". Ja, wenn das so ist, dann darf sie sowas auch schreiben. Ich halte fest: An Bigotterie lässt sich die linke Blase nicht so leicht von den Rechten die Butter vom Brot nehmen.<br /></p><p>Diese ganze Debatte hätte Aiwanger mit einer einzigen glaubwürdigen Pressekonferenz vom Tisch haben können. Niemand beschuldigt Innenminister Otto Schily, im Jahr 1968
RAF-Mitglieder verteidigt zu haben - allenfalls der Rutschpartie durchs
politische Spektrum, die er seitdem hingelegt hat. Die Grünen mögen in den Siebzigern und Achtzigern zutiefst bedenkliche Positionen zur Pädophilie diskutiert haben - den Versuch, sie in Gesetzesform zu gießen, gab es meines Wissens nie. Mich interessiert nicht, was die Grünen in ihrer Findungsphase verzapft haben, sondern das, was sie heute anstellen, und da gibt es reichlich Grund zur Kritik. Aus dem gleichen Grund ändert Aiwangers Naziflugblatt nichts an meiner Ablehnung ihm gegenüber. Aktuelle Anlässe, von der politischen Bühne zu verschwinden, gibt es für ihn meiner Ansicht nach genuh, und wenn ein vor 36 Jahren geschriebener Zettel das Einzige wäre, was sich ihm vorwerfen ließe, hätten seine politischen Gegner nichts gegen ihn in der Hand. So aber passt sein Umgang mit der Vergangenheit in das trampelhafte Gesamtbild, das er abliefert. Dafür sollte er gehen.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-46553936609159385192023-07-05T10:01:00.001-07:002023-07-05T10:01:14.302-07:00Masturbierodon<p>Es bedarf nicht zwangsläufig einer Horde Nazis, um ein an sich interessantes Medium in einen schwer erträglichen Ort zu verwandeln. Mastodon zum Beispiel war einmal ein beschaulicher Nerd-Tummelplatz, die sich ab und zu mal eine Nachricht schickten, ansonsten aber sich angenehm ruhig verhielten. Mastodon, darüber waren wir uns einig, ist ganz nett, aber unbedeutend. Es gab keinen Grund, sich aufzuplustern, weil sowieso kaum jemand davon etwas mitbekommt.</p><p>Dann kaufte Elon Musk Twitter.</p><span><a name='more'></a></span><p>Mit einem Schlag änderte sich die Stimmung. Jaa, Mastodon ist nicht Twitter, sondern etwas ganz Anderes. Total. Deswegen sehen sich die Oberflächen und das ganze Konzept mit Kurznachrichten und dem gegenseitigen Folgen so ähnlich. All das eifrige Betonen der Andersartigkeit konnte freilich nicht das tief sitzende Trauma verbergen, sich als der kleine, unterschätzte Twitter-Bruder zu fühlen. Warum sonst gab es auf einmal ständige Status-Tweets-äh-Trööts-natürlich, die aufgeregt davon berichteten, dass schon wieder ein paar hundert Leute den Weg ins Fediverse gefunden haben und wie sehr die Server unter diesem Ansturm in die Knie gehen. Wenn das so weiterginge, dann hat schon in 70 Jahren Mastodon dem kollabierenden Twitter den Rang abgelaufen.</p><p>Wahrscheinlich habe ich etwas falsch verstanden, aber warum vergleicht ihr euch ständig mit Twitter, wenn Mastodon doch was völlig Anderes ist?</p><p>Bei den steigenden Nutzungszahlen zeigte der Teutone dann auch gleich den Charakterzug, für den ihn weltweit alle bewundern und lieben: den Oberlehrer. Dessen linke Ausprägung ist besonders bizarr. Auf der einen Seite ist er stolz auf seine Diversität, seine Weltoffenheit, seine Fremdenfreundlichkeit. Zuwanderung aus dem Ausland sieht er als Bereicherung, freut sich über die so gewonnene kulturelle Vielfalt und wendet sich vehement gegen die gefürchtete deutsche Leitkultur, die Migrantinnen nur dann zu tolerieren bereit ist, wenn sie ans Christentum und die Kehrwoche glauben. Auf der anderen Seite wacht er mit Argusaugen über jeden Neuankömmling auf Mastodon, und wehe, der vergisst, seine Trööts mit einer "CW" oder seine Bilder mit einer Beschreibung zu versehen. Wehe, er spricht jemanden mit dem falschen Pronomen an oder fragt, warum es beim Re-Trööt keine Kommentarmöglichkeit gibt. Dann kommt er an, der Oberlehrer und (wo-)mensplaint, warum solch ungezügeltes Treiben auf Mastodon nichts verloren hat Da ist dann nicht die Rede von der kulturellen Bereicherung durch andere Sichtweisen oder dem heilsamen Infragestellen verkrusteter Gewohnheiten. Neinein, auf Mastodon herrscht Zucht und Ordnung, da grüßen die jungen Leute noch ordentlich und sind fein still, wenn die Erwachsenen reden.</p><p>Ähnlich verwinkelt ist die Logik, wenn es um die Frage geht, wie der ganze Spaß finanziell am Leben gehalten werden soll. Einigkeit herrscht, dass die zahlreichen Betreiberinnen der verschiedenen Mastodon-Instanzen für die ganzen Mühen, die sie dabei auf sich nehmen, nicht auch noch finanziell bluten müssen. Hobby hin oder her, so ein Server kostet Geld, insbesondere ein von vielen hundert, wenn nicht sogar tausend Menschen genutzter Mastodon-Host.</p><p>Kommt aber der verhasste Erzfeind Twitter (der sowieso was Anders, als ganz Anderes als Mastodon ist) auf die Idee, für bestimmte Dienstleistungen Geld zu nehmen, kocht die Volksseele. Was erlauben Musk? Der soll seinen seit Jahrzehnten defizitär laufenden Service gefälligst weiterhin gratis anbieten. Besonders das vor kurzem eingeführte Abruflimit von Nachrichten erregt Ingrimm. Nicht, dass irgendwer auf Mastodon noch Twitter läse, natürlich nicht, versichern sich die Anwesenden gegenseitig. Sie seien schon vor Äonen umgezogen, fühlten sich auf der neuen Plattform so viel wohler, dass sie keine Sekunde lang an ihre alte Heimat dächten, aber _wenn_ sie es täten, _dann_ sei es doch eine Unverschämtheit, dass sie pro Tag nicht mehr als ein paar hundert Tweets abrufen können.</p><p>Die hinter der Empörung stehende Anspruchshaltung finde ich besonders schwer verständlich. Was bitte glaubt ihr, ist Twitter für ein Unternehmen? Ein Kolchos? Ein VEB? Nein Twitter ist ein ganz profanes, privatwirtschaftliches Unternehmen, das irgendwie Geld abwerfen muss, wenn es überleben will. Ich finde es auch nicht schön, wie Musk die Bude gerade runterwirtschaftet, aber er hat dazu alles Recht der Welt. Wir müssen uns langsam von der Vorstellung verabschieden, dass wir im Netz alles geschenkt bekommen. Wir wollen Zeitungsartikel, für die wir noch vor wenigen Jahren die gedruckte Ausgabe kaufen mussten, ohne Bezahlschranke lesen, aber Werbung wollen wir auch nicht eingeblendet bekommen. Googles Produktpalette nutzen wir gern, echauffieren uns aber über die Datensammelwut des Konzerns. Wer bitte soll denn die Kosten tragen, die allein schon der Betrieb der riesigen Serverfarmen aufwirft? Glaubt ihr, dass die durch Liebe am Laufen gehalten werden? Ihr müsst Twitter nicht mögen, ihr müsst Elon Musk nicht mögen, ihr könnt die Leute verachten, die sich in den letzten Monaten dort ausgebreitet haben, aber zu fordern, Musk dürfe kein Geld für den Dienst verlangen und müsse weiter fleißig Geld verbrennen, indem er der Welt ein Nachrichtenportal ohne Refinanzierungsmöglichkeit zur Verfügung stellt, stellt ein Maß an Realitätsverleugnung und Selbstverliebtheit zur Schau, wie wir es sonst nur von FDP-Spitzenkandidaten kennen.</p><p>So gesehen ist der Unterschied zwischen Mastodon und Twitter nicht besonders groß.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-32410563023773995692023-06-17T08:07:00.003-07:002023-07-05T08:18:29.449-07:00Antiterroristischer Aktionismuszwang<p>In Hamburg betritt ein ehemaliger Zeuge Jehovas einen Königreichssaal, erschießt sieben Menschen und anschließend sich selbst. Wie immer nach solchen Taten schauen jetzt alle zurück auf deren Vorgeschichte und defäkieren klug, wie das Ganze hätte verhindert werden können. Das ist etwa so sinnig, als fragten Sie nach einem verwandelten Elfmeter den Torwart, warum er sich nicht in die richtige Ecke gestellt hat, wo doch so klar war, dass der Schütze dorthin zielen wird, aber offenbar ist es das, was im Journalismusstudium als "kritische Berichterstattung" verkauft wird.</p><span><a name='more'></a></span><p>Der öffentliche Diskurs tobt, und täglich ruft eine neue Journalismus-Volontärin bei der Innenministerin an, um sie ob ihrer Versäumnisse zur Rede zu stellen. Nun gibt es fähige Besetzungen dieses Postens, und es gibt Nancy Faeser. Traditionell fing das Verkehrsministerium den intellektuellen Bodensatz des Kanzleramts auf, aber offenbar fühlte sich die SPD berufen, nach der soliden Vorlage von Hans-Peter Friedrich (CSU) das Spektrum des Innenministeriums nach unten abzurunden - mit Erfolg. War ihr spontaner Vorschlag, die Waffengesetze zu <a href="https://www.rnd.de/politik/waffenrecht-amoklauf-in-hamburg-heizt-debatte-an-5PM5WCIDQTJHPQRLTSKZ44HT24.html">verschärfen</a>, angesichts eines der strengstens Waffengesetze weltweit zwar etwas albern aber wenigstens zielgerichtet, verlor die Ministerin im Verlauf des zunehmenden Handlungsdrucks offenbar die Übersicht und dachte sich offenbar: "Egal, ich fordere jetzt einfach irgendwas, Hauptsache ich zeige Handlungsfähigkeit", und so verfiel Sie der Idee, das probate Mittel gegen Amokschützen in Häusern seien <a href="https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nancy-faeser-will-laendern-messerverbot-in-zuegen-und-bussen-vorschlagen-a-7ba00875-6dbb-4fc5-808e-282c5a2ddf33">Messerverbote</a> in öffentlichen Verkehrsmitteln.</p><p>Zugegeben, exakt so hat sie es nicht gesagt. Tatsächlich bezog sie sich auf mit Messern verübte Attentate in Regionalzügen nahe Hamburg, aber es ist der gleiche Geist panischer Aktivität, die gleiche Realitätsferne, so dass im Ergebnis egal ist, wogegen der Vorschlag helfen soll - er wird es nicht.</p><p>Wir kennen derartige Ideen zur Genüge. Wann immer auf einem Bahnhof Personen aufs Gleis geschubst werden, kommt irgendein Spezi auf die Idee, Wände mit eingelassenen Türen am Bahnsteig zu errichten, die sich erst öffnen, wenn ein Zug eingefahren ist. Neben der Finanzierung bleibt auch die Frage offen, wie das in einem Land funktionieren soll, in dessen Schienennetz viele verschiedene Zugmodelle mit unterschiedlich positionierten Türen verkehren.</p><p>Nachdem ein Amokfahrer mit einem gestohlenen LKW in die Menschenmenge eines Weihnachtsmarkts gefahren war, haben die Kommunen die Gelände mit riesigen Pollern gesichert, was lediglich zur Folge hatte, dass Täter auf PKW umstiegen, mit denen sie auf Bürgersteigen oder anderen ungesicherten Wegabschnitten herumfuhren. Natürlich kamen auch hier ein paar ganz Kluge auf die Idee, Barrieren zwischen Fahrbahn und Gehweg zu bauen - wie auch immer das funktionieren soll. Das ist aber auch egal. Es geht nicht darum, einen praktikablen Vorschlag zu unterbreiten, es geht allein um die Botschaft: "Ich könnte was gegen den Missstand unternehmen, wenn man mich nur ließe. Die Lösung habe ich geliefert, um die Umsetzung muss sich jemand anderes kümmern."</p><p>Vorschläge nach Waffenkontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln tauchen mit schöner Regelmäßigkeit auf, wenngleich auch eher in der Sommerpause, herausposaunt von viertklassigen Provinzpotentaten, die von ihrer Partei schnell wieder weggeschlossen werden, wenn nach der Saure-Gurken-Zeit die Profis aus dem Urlaub kommen. Dass eine amtierende Bundesinnenministerin derart unausgegorenen Blödsinn heraussprudelt, kommt selten vor und mag dem Umstand geschuldet sein, dass Faeser in Hessen einen Wahlkampf um das Amt der Ministerpräsidentin bestreitet. So sehr ich es begrüßte, ihr dabei Erfolg zu wünschen und sie damit auf Bundesebene los zu sein, so wenig möchte ich einem so sympathischen Land wie Hessen eine solche Regierungschefin an den Hals wünschen. </p><p>Gründe für die Unsinnigkeit von Messerverboten in öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es viele. Fangen wir mit dem überspezifischen Verbot ausgerechnet von Messern an, oder um es mit der Ministerin zu sagen: "<a href="https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nancy-faeser-will-laendern-messerverbot-in-zuegen-und-bussen-vorschlagen-a-7ba00875-6dbb-4fc5-808e-282c5a2ddf33">Gewalttäter können mit Messern Furchtbares anrichten.</a>" Das können sie auch mit Hämmern, Schraubendrehern, abgebrochenen Flaschen, Papierscheren, Beilen, Kettensägen und Blumendraht - die offenbar weiterhin erlaubt sein sollen.</p><p>Die zweite Frage ist, wie das durchgesetzt werden soll, und da wären wir wieder bei der Forderung nach Kontrollschleusen wie am Flughafen, mit Faesers Worten: "Wer mit dem Flugzeug reist, darf ja auch kein Messer mitnehmen." Da es sich für eine Ministerin mit fünfstelligem Monatssalär nicht ziemt, gemein mit dem Pöbel den allwerktäglichen Weg zur Arbeit anzutreten, mag ihr der Unterschied zwischen einem Linienbus mit vielleicht 70 Personen, der alle paar hundert Meter zum Ein- und Aussteigen sowie einem Linienflugzeug mit 300 Personen, das eine Stunde zu einem 600 Kilometer entfernten Ziel unterwegs ist, nicht gewahr sein, aber weder ist im Einstiegsbereich Platz geschweige denn Zeit für eine pro Person mindestens 30 Sekunden dauernde Waffenkontrolle, noch gibt es dazu die Möglichkeit an den zahlreichen Bushaltestellen. Öffentliche Verkehrsmittel sollen eine Alternative zum eigenen Auto sein. Sie wurden für kurzentschlossene Nutzung optimiert. Selbst, wenn Sie am Bahnhof ein wenig mit dem Fahrkartenautomaten herumspielen, um den für Sie günstigsten Tarif zu finden, sollte der Vorgang in fünf Minuten abgeschlossen sein. Wer Bushaltestellen und Bahnhöfe mit Flughäfen vergleicht, wünscht sich mindestens eine Stunde vor dem "Boarding" anreisende Passagiere, Vereinzelungsschleusen mit Nacktscannern, Metalldetektoren, bewaffnetes Sicherheitspersonal und ein Gepäckband mit Durchleuchtungseinrichtung - um mit dem Bus eine Viertelstunde zur Haltestelle Berliner Platz fahren zu können. So gelingt die ökologische Verkehrswende.</p><p>Nehmen wir des Spaßes halber an, wir hätten tatsächlich irgendeine magische Lösung gefunden, mit der wir Bus- und Bahnreisende auf Messerbesitz prüfen können. Wahrscheinlich geht das mit Blockchain und AI, zu irgendwas muss der Krempel ja gut sein. Dann bleibt die Frage, ob die Verantwortlichen wissen, wozu öffentliche Verkehrsmittel da sind. Ich verrate es an dieser Stelle: um Menschen und deren Gepäck zu transportieren. Um die fröhliche Ausflugsrunde zu transportieren, die am Vierertisch ein Picknick verspeist und das mitgebrachte Obst schneiden will. Um die Tischlergesellin zu transportieren, die im Werkzeug einen Teppichschneider hat. Um den Radfahrer zu transportieren, der für alle Fälle sein Taschenmesser mitnimmt. Um das Ehepaar zu transportieren, das sich neues Besteck gekauft hat. Sollen diese Leute künftig von der Fahrt ausgeschlossen werden? Sollen sie ihr Gepäck bei der Fahrerin abgeben und es beim Ende der Fahrt wieder ausgehändigt bekommen? Sollen sie ihre Einkäufe durch einen Kurierdienst nach hause bringen lassen? Sollen sie vielleicht doch lieber das Auto nehmen, das zu benutzen wir ihnen aus Klimaschutzgründen nach Kräften verleidet haben?</p><p>Aktuellen Umfragen zufolge ist die AfD mit 20 Prozent bundesweit hinter der CDU zweitstärkste Partei. Ich habe sie nie gewählt und werde sie nie wählen, aber ihre Popularität wundert mich nicht.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-36063273953865600612023-06-05T08:05:00.007-07:002023-06-05T20:46:23.996-07:00Völlig bekloppt und doch irgendwie richtig<p>Eigentlich könnte es mir völlig egal sein, wer sich wann warum wo auf welche Straße klebt. So selten, wie ich Auto fahre, müsste es schon ein enormer Zufall oder der Protest enorm eskaliert sein, wenn ausgerechnet ich in einem von der "Letzten Generation" verursachten Stau stehe. Trotzdem fühle ich mich von dieser Aktionsform aus mehreren Gründen genervt.</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Erstens ist es der Mangel an Originalität. Auf Straßen festkleben, ist das wirklich alles, was euch einfällt? Ah nein, ihr könnt euch auch an Bildern festkleben. Oder an Tischen. Oder an Dirigentenpulten. Das mag am Anfang noch ganz lustig sein, aber auf Dauer? Ich weiß nicht. Nehmen wir zum Vergleich Greenpeace. Die haben in den Achtzigern auch viel blockiert, aber sie waren dabei einfallsreich. Mal haben sie sich an Werkstoren festgekettet, mal von Brücken abgeseilt, Schornsteine besetzt, und wenn sie ganz wild drauf waren, kreuzten sie in halsbrecherischen Manövern vor Frachtschiffen, kletterten auf ausgemusterte Ölbohrplattformen oder bemalten Robbenbabies. Die direkte Auswirkung war ähnlich wie beim Festkleben auf Straßen: Behinderung. Was Greenpeace aber deutlich besser verstand als die "Letzte Generation", war die Wirkung in der Öffentlichkeit, und hier kommt es weniger auf die technische Effektivität als auf den Unterhaltungswert an. Greenpeace hat ständig neue Bilder produziert. Bei den Klebeaktionen braucht die Presse kein Kamerateam ausrücken lassen, sondern kann sich bequem aus dem Archiv bedienen. Am Ende ist es völlig uninteressant, auf welcher Straße sie diesmal sitzen und mit Zeugen-Jehovas-Blick Schilder hochhalten.<br /></p><p>Zweitens gehört zum Mut auch die Fähigkeit, Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Es gehört zweifelsohne Mut dazu, sich vor den Kühlergrill eines zwei Tonnen schweren Fahrzeugs zu setzen. Warum? Weil es eben nicht klar ist, dass die Fahrerin die Nerven behält, nicht weiterzufahren versucht oder nicht kräftig hinlangt. Wenn von vornherein klar ist, dass nichts passieren kann, ist das kein Mut. Wer aber über Monate auf immer gleiche Weise in einer sich ständig weiter polarisierenden Stimmung Autos blockiert, muss entweder unfassbar naiv oder selbstgerecht sein, davon auszugehen, dass alle einen bejubeln. Deutlicher gesagt: Es muss doch klar sein, dass irgendwann eine Polizistin oder eine Autofahrerin durchdreht. Nein, ich begrüße so ein Verhalten nicht. Es wundert mich nur nicht, dass es eintritt. Sich dann mit theatralischen Worten an die Öffentlichkeit zu wenden und sich als die armen, hilflosen Opfer zu inszenieren, ist bestenfalls verlogen. Nein, die Handgreiflichkeiten sind keine unvorhersehbare Eskalation, sie sind genau das, was der passive Widerstand seit Gandhi in seine Aktionen einplant: öffentlichkeitswirksame Bilder, die den Gegner als brutalen Finsterling und die eigenen Leute als Heilige Märthyrerinnen erscheinen lassen. Diese Bilder bedauert ihr nicht, ihr habt sie vom ersten Tag an herbeigesehnt. Bitte lasst die Krokodilstränen.</p><p>Drittens liegen die Grenzen von Selbstbewusstsein und Selbstgerechtigkeit eng beieinander, siehe auch den vorherigen Absatz, Die "Letzte Generation" hat die Klebeaktionen gezielt so gewählt, dass zumindest vor halbwegs neutralen Gerichten die Strafen milde ausfallen müssten. Die Penetranz, Entschuldigung, Beharrlichkeit, mit der sie sich festkleben, lässt allerdings Stimmen laut werden, die mutmaßen, hier werden die Grenzen des legitimen Protests überschritten. Dem setzt die "Letzte Generation" entgegen, immerhin ginge es hier um so grundlegende Dinge wie unser aller Überleben, da seien leichte Rechtsübertretungen legitimiert. Okay, wenn jemand Straßen blockiert, weil Autos zur Klimaerwärmung beitragen, sehe ich noch einen Zusammenhang zwischen Protestform und Anliegen. Wenn jemand Bilder mit Brei beschmiert und sich am Rahmen festklebt, fällt mir als Erstes nicht das Klima, sondern Bilderstürmerei und Kulturrevolution ein. Ähnlich geht es mir bei Aktionen ein, wenn sich jemand an einem Dirigentinnenpult festklebt. Ist das die Botschaft? Wir müssen Kultur bekämpfen, damit das Klima wieder in Ordnung kommt? Es mag ja sein, dass das Abwenden einer globalen Katastrophe derlei Mittel rechtfertigt, aber wo ist die Grenze bei der Wahl der Mittel und wo bei der Begründung? Was kommt als Nächstes? Was passiert, wenn wir uns damit arrangiert haben, dass ständig wer auf irgendeiner Kreuzung klebt? Was passiert, wenn auf einmal die Eisenbahnerinnen, die Krankenpflegerinnen, die Kindergärtnerinnen, die Verkäuferinnen und Fabrikarbeiterinnen bei den nächsten Tarifverhandlungen auf ähnliche Ideen kommen? Die Klimakatastrophe wird in den nächsten Jahrzehnten zuschlagen, aber die Kassiererin bei Aldi weiß jetzt schon kaum, wie sie über die Runden kommen soll. Da ist es vielleicht auch legitim, nicht nur einfach zu streiken, sondern leichte Rechtsverstöße zu begehen. Wie sieht es mit dem Asylrecht aus? Jeden Tag ertrinken im Mittelmeer Menschen beim Versuch, in Europa Zuflucht zu finden. Die bisherigen Versuche, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, haben offensichtlich wenig bewirkt. Vielleicht sind auch hier deutlichere Mittel nötig.</p><p>Allgemein ist es eine zweifelhafte Idee, Protestanliegen priorisieren zu wollen. Ich bestreite nicht, dass der Versuch, die Klimakatastrophe abzumildern, ein substanzielles Anliegen ist, aber steht er deswegen über allem anderen? Rechtfertigt er damit Mittel, die anderen Bewegungen, die für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung von Ethnien und Geschlechtern sowie Freiheitsrechte auf die Straße gehen, nicht zustehen? Bereits jetzt sehen wir, wie das Befestigen mit Sekundenkleber nicht mehr genügt und deshalb die Grenzen zur Sachbeschädigung immer mehr überschritten werden. Was passiert, wenn auch das Beschmieren mit Farbe irgendwann seine Wirkung verfehlt? Rechtfertigt der Kampf ums Überleben dann nicht auch rabiatere Methoden?<br /></p><h4 style="text-align: left;">Und trotzdem</h4><p>Das alles mag wahr sein, auf der anderen Seite: Welche Wahl bleibt der "Letzten Generation"? Ist es nicht das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht der Jugend, gegen eingefahrene Werte der Eltern und Großeltern aufzubegehren? Ist es nicht umgekehrt ein schuldhaftes Versäumnis vergangener Generationen, genau diesem Konflikt ausgewichen zu sein und sich lieber um die eigene Karriere gekümmert zu haben? Holt die "Letzte Generation" gerade nach, was wir seit Jahrzehnten verpasst haben? Wie konnten wir zulassen, dass sich über Jahrzehnte in den Parlamenten Mackertypen wie Schröder, Steinbrück, Beck und Gabriel festsetzen konnten? Wie konnten Kreuzungen zwischen einer Dose Motoröl, Heintje und dem Kinderschokoladen-Jungen jemals als <a href="https://www.youtube.com/watch?v=y9gZkSuPSQE">Parteijugend</a> durchgehen? Wie konnten wir die politische Kultur so weit verkommen lassen, dass uns Kevin Kühnert als einziger Hoffnungsschimmer erscheint? Seien wir realistisch: Über "Fridays for Future" redet niemand mehr, seit wir die Bewegung totgelobt haben. Einmal pro Woche Schilder hochhaltende Schülerinnen lassen sich gut irgnorieren, Staus hingegen nicht. Die "Letzte Generation" nervt und hält genau damit ihr Anliegen im Gespräch. Wir können uns darüber streiten, ob sie damit am Ende mehr Sym- oder Antipathie erregen, aber immerhin schaffen sie es, regelmäßig die Talkshows mit Themen zu versorgen - das erste Mal seit der Ökobewegung der Achtziger und in Konkurrenz zum Ukrainekrieg. Das muss man erst einmal schaffen.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-63223105713757235852023-02-18T03:48:00.007-08:002023-02-21T00:20:39.043-08:00Alternativloser Krieg<p>Jahrzehntelang haben wir über Merkels rhetorische Figur der "Alternativlosigkeit" gespöttelt. Das sei Unsinn, sagten wir, in Demokratien gäbe es immer mindestens eine weitere Option. Wir mögen sie als schlecht oder gar ungeeignet ansehen, aber müssten bei unseren Überlegungen sie immer als existent im Kopf behalten - nicht, weil wir sie ernsthaft erwögen, sondern um uns zu vergegenwärtigen, dass politische Entscheidungen keine Naturgesetze sind.</p><p>Jetzt überlegen Sie bitte, wie wir den Ukrainekrieg diskutieren.</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Hier erscheint uns jeder Schritt komplett logisch und zwingend. Die russische Armee überfällt völkerrechtswidrig ein anderes Land. Dieses Land hat aus eigener Kraft nicht ausreichende Mittel, sich zur Wehr zu setzen. Der Westen befürchtet, hier könne wie einst unter der Sowjetunion der Versuch unternommen werden, Stück für Stück Europa unter Kontrolle einer Diktatur zu bekommen und beschließt, einzugreifen, so lange der geografische Puffer noch vorhanden ist.</p><p>Bitte kommen Sie mir nicht mit dem verlogenen Gesäusel, wir dürften uns nicht "in den Krieg hineinziehen lassen" und "selbst Kriegspartei werden". Wir sind Kriegspartei. Seit der ersten Waffenlieferung. Glauben Sie etwa, Russland hätte jemals das alberne Ringtauschkonstrukt ernstgenommen, bei dem Waffen aus Deutschland in einen Partnerstaat geliefert wurden, der dann seinerseits Waffen in die Ukraine liefert? Damit mögen Sie vielleicht Jurastudentinnen im Grundsemester beeindrucken, aber doch keine Supermacht, die gerade ein Land erobert.</p><p>Dabei bin ich nicht gegen die Waffenlieferungen per se. Mir fällt auch nichts Besseres ein. Mich stört das Hurrageschrei, mit dem das passiert und der Hass, der denjenigen entgegenschlägt, die auch nur zu überlegen versuchen, ob es nicht noch weitere Optionen gibt. Wenn das mal keine Wehrkraftzersetzung ist.</p><p>Der Versuch, sich mit einem Stapel <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland-schickt-5000-helme-fur-ukrainisches-militar--aber-nicht-ins-land-5624389.html">Helme</a> aus der Affäre zu wieseln, war in seiner Naivität schon fast putzig, und so rollten kurze Zeit später vollwertige Waffensysteme Richtung Ukraine - rein defensiv, versteht sich. Was genau unter "Defensivwaffen" zu verstehen ist und wie sichergestellt werden kann, dass bei all dem nicht auch ein itze-klitze-kleines Stück, sagen wir: "Vorwärtsverteidigung" im Spiel ist, wurde überraschend wenig gefragt. Wahrscheinlich wollte das auch niemand so genau wissen, insbesondere als die Ukraine es schaffte, Gebiete zurück zu erobern und die Ersten laut über die Krim nachzudenken begannen. Inzwischen kümmert sich niemand mehr um solche fein ziselierten Konstrukte. Die russische Armee marschiert wieder voran, und die Waffenlieferungen umfassen alles, was irgendwie schießt. So kategorisch, wie die Bundesregierung Kampfflugzeuge ausschließt, kann es sich nur noch um Tage handeln, bis auch sie auf dem Lieferzettel stehen.</p><p>Jeder einzelne Schritt erscheint sinnvoll, angemessen und durch die Umstände zwingend geboten. Was ich bei all dem vermisse, ist eine Perspektive, eine Strategie, ein über das Tagesgeschehen hinausgehender Plan. Im Moment ist das Vorgehen des Westens rein reaktiv. Irgendwas geschieht im Krieg, und als Antwort gibt es neue Waffen, jedes Mal mit der Bemerkung versehen, eine "rote Linie" nicht überschreiten zu wollen. Wo diese Linie verläuft, bleibt unklar. Möglicherweise verläuft sie beim Einsatz von Bodentruppen, doch auch hier <a href="https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wehrpflicht-in-deutschland-jeder-zehnte-deutsche-zum-kriegsdienst-bereit-a-ee9446b5-60d7-4141-ba6d-11afa2672e42">schwindet</a> der Widerstand. Die öffentliche Stimmung freundet sich langsam mit der Wiedereinführug des Kriegsdienstes an, und wenn wir erst einmal den "Staatsbürger in Uniform" etabliert haben, gibt es auch kein Argument mehr, warum wir bereit sind, unsere Freiheit am Hindukusch und nicht in den wesentlich näher gelegenen Karpaten zu verteidigen. Was unternehmen wir, wenn auch das fehlschlägt?</p><p>Die öffentliche Debatte zeichnet Russland und seinen lupenreinen Chefdemokraten mit der Differenziertheit eines Bond-Schurken. Das ist gut, um die Stimmung stabil zu halten, aber schlecht, um Geschehnisse zu verstehen und Folgen abzuschätzen. Fragen Sie irgendwen in Ihrem Bekanntenkreis nach Putins Beweggründen, und sie bekommen ungefähr das zu hören: "Naja, er ist ein Böser, und Böse marschieren nun mal woanders ein." Ein derart schlichtes Weltbild mag reichen, um sich durch hundert Minuten Popcornkino zu mümmeln, aber da draußen im realen Leben sind die Dinge komplizierter. Ich kann mich für die Beweggründe der russischen Regierung interessieren, ohne gleich mit ihr zu sympathisieren. Mehr noch: Nur wenn ich verstanden habe, was Putin antreibt, kann ich eine Idee bekommen, was ihn stoppt.</p><p>Ich habe vor einem Jahr falsch gelegen, als ich es für eine Frage weniger Wochen hielt, bis die Ukraine fällt, deswegen sind meine Prognosen mit Vorsicht zu genießen. Derzeit scheint es mir nicht so, als zeichne sich eine klare Über- oder Unterlegenheit einer Seite ab. Wahrscheinlich können wir das Spiel beliebig lange treiben, die Frontlinie mal in die eine, mal in die andere Richtung verschieben, ohne an der grundsätzlichen Lage viel zu ändern. Deswegen frage ich noch einmal: Wie weit wollen wir gehen? Für diejenigen, welche in der Grundschule beim Lesenlernen Probleme hatten: Ich sage nicht, dass die Ukraine aufgeben sollte. Ich sage nicht, dass Russland die besetzten Gebiete behalten darf und dann noch ein paar und dann noch welche. Ich sage nur, dass es immer mehr als eine Handlungsmöglichkeit gibt, und dass wir nicht einfach eine ohne Nachdenken kategorisch ausschließen sollten.</p><p>Natürlich drängt sich der Vergleich zur Appeasement-Politik der späten Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts auf, aber wir dürfen bei solchen Betrachtungen zwei Dinge nicht vergessen: Erstens ist rückblickend immer klar, was die klügste Entscheidung gewesen wäre - weil wir wissen, wie es ausging. Mitten in der Situation sind die Dinge aber weit weniger klar, und dass wenige Jahre nach dem Großen Krieg (an ein Durchnumerieren von Weltkriegen dachte damals noch niemand) alles versucht wurde, eine Wiederholung derartiger Schrecken zu vermeiden, finde ich verständlich. Außerdem war damals selbst Hitlers Gegnern nicht in vollem Umfang klar, welche Verbrechen stattfanden. Chaplin entwickelte die Geschichte zum "Großen Diktator" Ende der Dreißigerjahre, die Dreharbeiten starteten wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, in die Kinos kam der Film im Jahr 1940. Rückblickend sagte Chaplin später, hätte er damals schon gewusst, was in den Konzentrationslagern wirklich passiert, hätte er den "Großen Diktator" nicht drehen können. Damit wären wir beim zweiten Punkt, der Gleichsetzung Hitlers mit Putin.</p><p>Es ist eine hübsche rhetorische Figur, zu sagen, die Verbrechen des Dritten Reichs seien so jenseits all dessen gewesen, was Menschen zuvor anderen Menschen angetan haben, dass es sich hierbei um ein nicht wiederholbares, einmaliges Ereignis handelt. In dieser Haltung findet sich der teutonische Überlegenheitsgeist wieder. Dikatatur und Völkermord sind auf diesem Planeten immer noch Chefsache, da lassen wir uns nicht von Amateuren wie Idi Amin, Pol Pot, Mao Zedong oder Josef Stalin den Schneid abkaufen. Davon unabhängig finde ich finde es sinnvoll, die Singularität Hitlers zu postulieren, vor allem weil es die meist äußerst dümmlichen Nazivergleiche von vornherein als das disqualifiziert, was sie sind: aufgeblasener Quatsch, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dass zum Glück das Dritte Reich sich nicht wiederholt hat, sollte allerdings uns nicht in der Sicherheit wiegen, dass es prinzipiell nicht wiederholbar sein kann. Die genaue historische Konstellation mag singulär gewesen sein, aber mir fallen ohne großes Nachdenken mehrere Regimes ein, die zumindest in Teilaspekten nicht so viel besser waren. Ist Putin dann, was seine Skrupellosigkeit und seinen Willen zum totalen Krieg angeht, mit Hitler vergleichbar? In meinen Augen war Hitler noch um einiges fanatischer, während mir Putin berechnender vorzugehen scheint, aber wie ich schon schrieb, befinden wir uns mitten in der Situation und sehen in ein paar Jahren alles völlig anders.</p><p>Wie immer, wenn den Talkshowintellektuellen die Argumente ausgehen, bleibt als ultima ratio die Abgrenzungskeule. Wer sich gegen die Internetzensur, gegen den Überwachungsstaat und allgemein für einen Erhalt von Grundrechten einsetzt, bekommt früher oder später den Vorwurf zu hören, sich nicht klar genug von Terroristen, Kindervergewaltigern und organisierter Kriminalität abzusetzen. So werden gerade Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht - beide nicht gerade als Sympathieträgerinnen und Speerspitzen feinsinniger Diskussionskultur bekannt - dafür kritisiert in ihrem gemeinsam verfassten Manifest gegen den Ukraine-Krieg auch Unterstützung von AfD-Größen zuzulassen. Worum es sonst in dem Text geht, spielt in der öffentlichen Debatte keine Rolle, aber dass Nazis auf einmal für den Frieden sind, also das geht nun wirklich nicht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich halte nichts von der AfD. Ihre politischen Ziele, ihre Rechthaberei und ihre heuchlerische Selbstinszenierung widersprechen nahezu jedem Wert, den ich mir im Lauf meines Lebens angeeignet habe, aber genau deswegen lasse ich mir von denen nicht vorschreiben, was ich zu meinen habe. Kaufe ich mir einen SUV, sollte die AfD plötzlich gegen Verbrennungsmotoren sein? Zünde ich Wohnheime an, wenn die AfD sich für eine liberale Migrationspolitik ausspricht? Nein, denn ich lehne die AfD ab, weil sie nicht meine Werte teilt, aber ich lehne einen Wert nicht allein deswegen ab, weil die AfD ihn teilt. Wenn das Einzige, was mir gegen das Wagenknecht-Schwarzer-Manifest einfällt, der Umstand ist, dass neben der evangelischen Theologin Margot Käßmann, dem Sänger Reinhard Mey und dem SPD-Politiker Günter Verheugen auch AfD-Sprecher Tino Chrupalla dem Text zustimmt, kann der Inhalt so schlecht nicht sein. Haben die beiden Verfasserinnen demnach recht? Ich weiß es nicht.</p><p>"Aber irgendwas muss du doch meinen."</p><p>Muss ich das? Wo steht das? Was ist das für eine alberne germanische Grundtugend, zu allem und immer eine klare, felsenfeste Meinung haben zu müssen? Sachkunde zum und Komplexität des Themas spielen keine Rolle, aber eine Meinung muss her, unbedingt. Genau dieser Zwang, bei unklaren Fragen dual zu denken und voll auf eine Option einzusteigen, auch wenn sie nur graduell besser als die andere erscheint, führt zur schon fast trotzigen Forderung, im ukrainischen Kriegspoker bei immer höheren Einsätzen mitzuziehen und still zu beten, dass die Gegenseite das schlechtere Blatt hat. Das könnte der Grund sein, warum abweichende Meinungen gerade derartige Verachtung erfahren: die Angst vor dem Zweifel, vor der nagenden Frage, wie lange sich der Konflikt noch kontrollieren lässt und ob wir nicht vielleicht klein beigeben sollten, bevor Europa wieder einmal in Trümmern liegt. Doch wer pokert, darf keine Unsicherheit zeigen, nicht nachdenklich in die Karten schielen, nicht mit den Augenlidern flattern. Wer all in geht, darf nicht so wirken, als bluffe er.</p><p>Kritisch wird es, wenn wir wissen, dass die Gegenseite mindestens vier Asse auf der Hand hat.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-20487330207882778792023-02-11T06:13:00.004-08:002023-10-05T03:32:57.169-07:00Spielverderben als Argumentersatz<p>Den Hype um Harry Potter habe ich nie ganz verstanden. Ja, die Bücher gefielen mir, aber die Anleihen bei anderen Fantasy-Werken waren mir zu deutlich. Die ständigen Wutausbrüche Harry Potters gingen mir auf die Nerven, ebenso Harrys Stiefeltern, die sich über sechs lange Jahre hinweg keinen Millimeter weiterentwickeln, obwohl sie reichlich Anlass dazu hätten. Selbst der von vielen Fans geliebte Severus Snape bleibt seltsam statisch, und die am Ende gelieferte Erklärung reicht mir nicht aus. Auch die Filme sind weit davon entfernt, mich zu überzeugen. Optisch mögen sie überwältigen, aber das entschädigt in meinen Augen nicht für das - Entschuldigung - mittelmäßige Schauspiel Daniel Radcliffes und einige stümperhafte Schnitte mit resultierenden Handlungssprüngen, die ohne Kenntnis der Bücher nicht verständlich sind. All das führten bei mir zu einer ambivalenten Haltung dem Harry-Potter-Universum gegenüber. Ich fand es interessant und unterhaltsam, ein echter Potterhead war ich aber nie.</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Entsprechend egal war mir auch immer die Autorin Joanne K. Rowling, der ich den Erfolg zwar gönne, sie aber nicht für eine handwerklich überragende Schreiberin halte. Sie hat eine gute Idee ordentlich heruntergeschrieben, aber nicht mehr. Was den Aufbau einer interessanten und konsistenten Welt angeht, sehe ich sie eher im Mittelfeld.</p><p>Deswegen konnte ich nie die Aufregung um ihre Person verstehen. Was schlug ihre Fanbase Purzelbäume, als Rowling verkündete, Dumbledore sei homosexuell. Ja und? Soll er sein. Weder in den Büchern, noch in den Filmen spielt dieser Umstand eine Rolle. An der Handlung hätte sich nicht das Kleinste geändert, wäre Dumbledore heterosexuell gewesen. Erst in den "Phantastischen Tierwesen" wird es thematisiert und beeinflusste einige Entscheidungen.</p><p>Aus diesem Grund lässt mich auch vollkommen kalt, was Rowling zum Thema Transpersonen zu sagen hat. Es ändert nicht das Geringste an ihren Büchern. Vor allem ändert es nicht an den Menschen, die sie lesen, die Filme sehen und - jetzt kommt mein eigentliches Anliegen - die Computerspiele spielen.</p><p>Es ist wahr, dass Rowling an allem mitverdient, was irgendwie mit den Harry-Potter-Erzählungen in Zusammenhang steht. Es ist wahr, dass sich Rowling in der Vergangenheit transfeindlich geäußert hat. Daraus aber zu konstruieren, dass ich mit dem Kauf eines Hogwarts-Videospiels Transphobie unterstütze, ist sachlich etwa so begründet wie die Behauptung, mit jedem Bahnticket Rassismus zu finanzieren, weil aus rein statistischen Gründen etwa 10 Prozent der DB-Belegschaft die AfD wählen.</p><p>Selbst wenn mich Rowlings Äußerungen so abstoßen, dass ich keine Harry-Potter-Sachen mehr kaufen möchte - was meine freie Entscheidung ist -, so gibt mir dies nicht das Recht, anderen vorzuschreiben, wie sie zu handeln haben. Meinen eigenen moralischen Kompass zum Gardemaß aller zu erheben, demonstriert genau die Intoleranz, die zu bekämpfen ich gerade vorgebe. Umso peinlicher, bemitleidenswerter und erbärmlicher finde ich die Kampagne, die gerade auf Mastodon abgeht - dem Medium, dessen Nutzerinnen nicht müde werden, zu betonen, wie wahnsinnig tolerant, respekt- und rücksichtsvoll sie miteinander umgingen, ganz anders als auf dem bösen Twitter, wo sich die ganzen Hater herumtreiben. Wenn sie schon nicht andere Leute daran hindern können, das Videospiel zu kaufen, so denken sie, wollen sie ihnen zumindest den Spaß daran verderben, und so plaudern sie wichtige Details des Plots verbunden mit der Bemerkung aus, was sie den Leuten an den Hals wünschen, die das Spiel kaufen wollen.</p><p>So funktioniert ein Boykott nicht. So funktioniert demokratischer Diskurs nicht. Natürlich steht es mir zu, aus moralischen Gründen etwas nicht finanziell unterstützen zu wollen, und natürlich darf ich auch versuchen, andere zu überzeugen, sich mir anzuschließen. Um das zu erreichen, muss ich allerdings Argumente benutzen, und wenn die nicht verfangen, muss ich entweder an meiner Diskussionsweise arbeiten, oder ich muss einsehen, dass mein Standpunkt nicht überzeugt - egal, wie gut ich dafür streite. An diesem Punkt auf die Trotzreaktion zu verfallen, wenn ich schon den Verkauf nicht verhindern kann, dann wenigstens den Leuten den Spaß zu verderben, dokumentiert vor allem ein: die Unfähigkeit, überzeugen zu können.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-78090813584581747532022-11-17T11:43:00.006-08:002022-11-17T22:09:10.520-08:00MigrationsmythenDie strategischen Popcornreserven neigen sich angesichts der Nachrichten über Twitter bedrohlich dem Ende zu. Elon Musk fräst sich durch mit einer Grobschlächtigkeit durch das Unternehmen, zu der im Vergleich Donald Trump wie ein sensibler Feingeist wirkt. Seine letzte Eskapade besteht in Mails, in denen die Angestellten aufgefordert werden, massiven Überstunden aktiv <a href="https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/elon-musk-stellt-twitter-angestellten-ultimatum-extrem-hardcore-a-73d06c54-0f9b-4150-8856-fd851603ebf4">zuzustimmen</a> und alles Andere als Kündigung gelte. Die Plattform kollabiert derzeit mit einer Geschwindigkeit, welche die Frage aufkommen lässt, ob Twitter eine Seifenblase war und Musk sie nur zum Platzen brachte, oder ob Musk einfach nur ein Dummkopf ist, der selbst das solideste Unternehmen ruiniert, wenn ihn nicht seine Beraterinnen gewaltsam daran hindern. Gleichzeitig tritt die Twitter-Alternative Mastodon aus ihrem jahrelangen Nischendasein heraus. Ist Twitter dem Untergang geweiht, Mastodon die Nachfolge, und werden wir uns alle in einem Monat dort alle wiedersehen? Ich bin mir nicht sicher.<br /><a name='more'></a><h4 style="text-align: left;">Noch ist nichts entschieden.</h4><p>Natürlich lesen sich die Schlagzeilen über Twitter beeindruckend. Musk feuert die Belegschaft. Dann geht ihm auf, dass irgendwer noch die Arbeit erledigen muss. Also schreibt er einen Teil der Leute an, das sei alles nur Spaß gewesen. Musk will den blauen Haken, der eine Identitätsprüfung anzeigt, an eine Gebühr koppeln - ohne Identitätsprüfung. Große Werbekunden springen ab. In Panik versuchen die Banken, ihre Kredite loszuwerden - mit zum Teil abenteuerlichen Abschlägen. Musk agiert dabei derart erratisch, dass ich mich frage, wie er mit so wenig taktischem Gefühl jemals wirtschaftlich so erfolgreich sein konnte. Verzweifelte Rettungsversuche, die alle fehlschlagen, könnte ich noch verstehen, aber die Zielsicherheit, mit der er im Moment die selbst für Laien als offenkundig idiotischste erkennbare Option auswählt, nur um nach kurzer Zeit panisch zurückzurudern, überrascht mich. Ist das vielleicht das erste Mal, dass er nicht einfach den Erfolg verwalten, sondern echtes Krisenmanagement betreiben muss? Es scheint mir fast so, denn wer auch nur einmal durch eine vergleichbare Situation steuern musste, weiß, dass Musk mit solchen Aktionen gar nicht anders kann als scheitern. Auf der anderen Seite behaupte ich schon seit langem, dass die meisten Erfolgsmenschen keine Ahnung, sondern vor allem unfassbares Glück hatten, weswegen die ganzen Ratgeberbücher, welche ihre vermeintliche Strategie nachzuahmen versuchen, auch vollkommener Quatsch sind. Verwechseln sie nicht Koinzidenz und Kausalität. Wenn Sie mit Ihrem Geburtsdatum sechs Richtige im Lotto bekommen, sollten Sie lieber kein Buch schreiben, in dem Sie das als eine gute Strategie propagieren. Oder doch, schreiben Sie es, denn die Dummköpfe, die Ihnen dieses Buch abknöpfen, verstehen noch weniger von Kombinatorik als Sie und wollen geschröpft werden. Um zurück zu Musk zu kommen: Offenbar ist er von der Situation überfordert und probiert einfach alles aus, was ihm durch den Kopf schießt, egal wie sinnlos es auch scheinen mag. Wenn ich aus dem Bauch heraus schätzen müsste, wie es weitergeht, sagte ich, dass Twitter dieses Jahr nicht überlebt.</p><p></p><p>Auf der anderen Seite: Warum sollte Twitter nicht überleben? Egal, welche Schätzung wir glauben - irgendwas zwischen 300.000 und einer halben Millionen Nutzerinnen wird Twitter haben. Es gibt Menschen, deren Geschäftsmodell davon abhängt, auf Twitter gesehen zu werden. Wer auch nur ansatzweise Statistik kann, extrahiert aus den Nutzungsdaten von Twitter Persönlichkeitsprofile, die Werbetreibenden traumhaft genaue Kampagnen ermöglichen. Niemand mit auch nur einem Funken Verstand wird die Plattform sterben lassen - insbesondere nicht die Nutzer.</p><p>Die nämlich haben nicht etwa Twitter den Rücken gekehrt. Sie haben nur auf einer sich ähnlich anfühlenden Plattform namens Mastodon ebenfalls ein Konto angelegt. Die dortigen Serverbetreiberinnen vermelden wahnsinnige Zuwachszahlen, welche teilweise die Infrastruktur in die Knie zwingen. Etwas über eine Millionen Konten soll das Netz inwzischen zählen. Das mag beeindruckend klingen, aber erstens spielt sich der Zuwachs irgendwo im maximal einstelligen Prozentbereich der Twitter-Nutzungszahlen ab, zweitens brechen die Server vor allem deswegen zusammen, weil Mastodon überwiegend von Hobbyadmins betrieben wird, die sich bei irgendeinem Billighoster eine Miniinstanz zum Spielen geklickt und nie ernsthaft damit gerechnet haben, dass sich mehr als ein paar Dutzend Leute darauf tummeln. Natürlich sehen aus deren Perspektive die Zuwachsraten beeindruckend aus. Wenn sich statt ihres Probeaccounts auf einmal hundert weitere Konten auf dem Server tummeln, hat sich die Zahl zwar verhundertfacht, aber besonders hoch ist sie in absoluten Zahlen dennoch nicht. Darüber hinaus ist nicht gesagt, dass dieser Trend anhält. Vielleicht wird aus der einen Millionen noch eine zweite - im Vergleich zu Twitter ist das immer noch keine beeindruckende Zahl.<br /></p><h4 style="text-align: left;">Die Leute werden nicht schlagartig intelligenter, nur weil sie die Plattform wechseln.</h4><p style="text-align: left;">Natürlich kamen sich die Leute ganz toll vor, als sie der Twitterwelt erklärten, sie seien nun auf Mastodon zu finden. Wissen Sie, was mir passierte, als ich mir vor etwa acht Jahren mein erstes Mastodon-Konto klickte? Nahezu der erste Text, den ich las, war der beleidigte Vorwurf, was mir denn einfiele, diesen Nutzernamen zu wählen, den hätte er viel lieber gehabt. Ich habe daraufhin das Konto nicht mehr angefasst. So ein junges Medium, und schon so viele Idioten. Da kann ich auch gleich bei Twitter bleiben.</p><p style="text-align: left;">Die wichtige Lektion, die ich damals lernte, war: Egal, wohin du fliehst, die Typen, vor denen du geflohen bist, sind bereits da. Als ich vor ein paar Jahren wieder etwas aktiver auf Mastodon wurde, beschäftigte ich mich eine ganze Zeitlang damit, die ganzen Dummschwätzer zu blockieren, die ihre Erste-Welt-Probleme vor mir ausbreiten zu müssen meinten. Als Erstes verschwanden die Leute aus meiner Timeline, die alle ihre Texte hinter einer "Content Warning" (dazu gleich mehr) verbargen und mich zwingen wollten, jedes Posting mit einem zusätzlichen Mausklick zu öffnen. Lasst es mich einfach formulieren: Wenn ihr nicht wollt, dass ich euch lese, entspreche ich gern eurem Wunsch. Willkommen in meiner Blockliste.</p><p style="text-align: left;">Ich weiß, durch seinen dezentralen Ansatz bietet Mastodon die Möglichkeit, sich einen Server mit dem richtigen Stallgeruch zu suchen, aber auch dann bleibt noch einige Arbeit zu erledigen. Meine Toleranzwert war überschritten, als die Administration meiner Instanz auf die Idee kam, den Datenverkehr mit einer anderen Instanz und mehreren Tausend Nutzerinnen abzubrechen, weil eine einzige von ihnen ein Posting abgesetzt hatte, das nicht in ihren Wertekanon passte und die Administration der anderen Instanz es ablehnte, diese Nutzerin zu sperren. Ich habe das umstrittene Posting angesehen. Mehrmals. Es war nicht unbedingt nett, aber es war auch weit von dem entfernt, was auch nur eine Richterin dieses Landes ansatzweise in Richtung Hassrede einordnete. Einige mögen sogar argumentieren, dass es um Kenntnisse ging, wie sie derzeit an jeder gymnasialen Mittelstufe gelehrt werden. Kein noch so scharf formuliertes NetzDG hätte jemals Anstoß daran genommen. Dennoch ging das "meiner" Administration zu weit. Ich hingegen war nicht umsonst im Jahr 2009 auf die Straße gegangen, um gegen die von SPD und CDU geplante Internetzensur zu demonstrieren und bin deswegen auf eine Instanz gewechselt, die mich für erwachsen genug hielt, mich mich anderen Ansichten als der meinen zu beschäftigen.</p><p style="text-align: left;">Everywhere you go, always take the weather with you. Mastodon hat zwar einige technische Mechanismen, um die schlimmsten Auswüchse der Twitterwelt zu erschweren. Verhindern lassen sie sich meiner Einschätzung nach nicht. Eine Binsenweisheit der Haecksenkultur besagt, es sei ein Irrtum zu glauben, gesellschaftliche Probleme mit technischen Mitteln lösen zu können. Wir schaffen es damit maximal, sie zu mildern. Wenn Mastodon jemals relevant sein möchte, muss es damit klarkommen, dass von Twitter nicht nur angenehme Leute hinüberwandern. Nein, wir werden uns zwangsläufig auch Leute eintreten, die uns bereits auf der alten Plattform genervt haben und uns auch auf der neuen nerven werden. Wie schon gesagt: Ein Teil von ihnen ist schon da.</p><p style="text-align: left;">"Aber das kann doch gar nicht sein, Mastodon ist doch föderiert und open source."</p><p style="text-align: left;">Ja und?<br /></p><h4 style="text-align: left;">Niemand will sich von euch Mastodon erklären lassen.</h4><p>Wenn es an einem auf Mastodon gerade nicht mangelt, sind es irgendwelche aufgeblasenen Wichtigtuer, die glauben, nur aufgrund der Tatsache, einen seit acht Jahren ungenutzten Account herumliegen zu haben, wahnsinnig viel darüber zu wissen und den neu Hinzugekommenen erzählen zu müssen, wie sie die Plattform zu nutzen haben. Seitenlange Threads verfassen sie, in denen sie genau jede Einstellmöglichkeit, jedes Metazeichen erläutern und was wann wie eingesetzt wird.</p><p>Wer. Will. Das. Wissen?</p><p>Schon um das Jahr 2009 herum sind mir diese Typen auf den Nerv gegangen, diese sich "Social Media Berater" titulierenden Dummschwätzer, die allen Ernstes herumliefen und den Leuten einzureden versuchten, sie nutzten Facebook und Twitter falsch und müssten sich unbedingt von ihnen erklären lassen, wie es richtig geht. Bitte füllen Sie Ihre Kontonummer hier ein und unterschreiben auf der gepunkteten Linie. <br /></p><p>Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ist Mastodon wirklich so wahnsinnig kompliziert, dass ich mir tatsächlich das stundenlange Gesülze der Altvorderen anhören muss, um meinen ersten "Toot" (für Deutschtümler meinetwegen auch "Tröt", auf keinen Fall aber "Tweet", das birgt die gleiche Lynchmobgefahr, wie in Köln "Helau" zu rufen) abzusetzen, dann ist die Plattform aber schlicht unbenutzbarer Dreck und muss dringend überarbeitet werden, bevor sie massenkompatibel ist. Oder - und das ist die in meinen Augen wahrscheinlichere Option - Mastodon ist im Kern doch ganz ähnlich wie Twitter (ein entsetzter Aufschrei geht durch die Reihen: Er hat "Jehova" gesagt), hat natürlich ein paar Besonderheiten, die für den Anfang aber vollkommen egal sind und sich in der Folgezeit schon irgendwie von selbst vermitteln. Vergleichen Sie es mit dem Handbuch eines Fotokopierers. Natürlich ist es sinnvoll, sich den Wälzer vor Benutzung durchzulesen, weil dann erst einmal klar wird, was für fetzige Dinge sich mit dem Gerät anstellen lassen. Auf der anderen Seite will ich doch nur den Tankbeleg für die Fahrtkostenabrechnung einmal schnell kopieren, und sobald das komplizierter ist als Klappe auf, Beleg aufs Glas, Klappe zu, grünen Knopf drücken, ist mir der Akt zu blöde, und ich fotografiere das Ding mit meinem Smartphone, wo diese Funktion inzwischen leichter aufrufbar ist als einen Anruf zu tätigen. Unschärfekorrektur, linksbündig heften, Ausschnittsvergrößerung, Mailversand - alles fein, aber das lese ich nach, wenn ich es brauche. Nicht jetzt.<br /></p><h4 style="text-align: left;">Ihr könnt euch nicht aussuchen, wer migriert.</h4><p>Die neue Beliebtheit von Mastodon ist noch keinen Monat alt, da kommen schon die ersten Beschwerden. Ganz schlimm sei, was da passiert ist. Daran müsse sich unbedingt etwas ändern. So könne es nicht weitergehen. Was war passiert?</p><p>Männer.</p><p>Männer hatten die Unverschämtheit besessen, sich auf Mastodon anzumelden. Und auf Postings zu antworten. Einfach so. Ohne vorher zu fragen. Unfassbar.</p><p>Wir können jetzt lange überlegen, ob Sexismus nicht auch Sexismus ist, wenn er sich nicht gegen Frauen richtet. Ich habe schon allen Ernstes die Argumentation gelesen, Sexismus und Rassismus seien voll in Ordnung, wenn die Zielgruppe stimmt, nämlich Weiße und Männer, und es handle sich dann auch nicht um Sexismus, sondern Bekämpfung von Privilegien. Wir können auch weiterhin überlegen, ob diese Argumentation nicht über fast 2000 Jahre als Rechtfertigung für Judenpogrome herhalten musste, aber das führt uns zu weit. Mir geht es vor allem um die kindlich-putzige Idee, Mastodon sei eine Art Kindergeburtstag, zu dem sich das Geburtstagskind auswünschen dürfe, wer kommen darf. Bibi und Babsi sind okay, aber der doofe Ulf, der soll gefälligst wegbleiben, auch wenn er noch so gern dabei wäre. Gleichzeitig soll die Party der absolute Kracher werden, eine Riesennummer, zu der alle kommen. Sie sehen den Widerspruch?</p><p>Wenn das Leben auf Twitter wirklich so unerträglich ist (warum ich das nicht so recht glauben kann, kommt gleich), ich es nicht mehr aushalte und deswegen lauthals verkünde, meine Sachen zu packen und Richtung Mastodon zu verschwinden, muss ich damit rechnen, dass andere auf die gleiche Idee kommen, und dann ziehen eben nicht nur meine drei Kuschelbuddies mit, sondern, Root sei's geklagt, Leute, die mir nicht in den Kram passen, zum Beispiel Männer. Das soll vorkommen.</p><p>Was ich an der Klage nicht verstehe: Wenn Mastodon so wahnsinnig toll und dezentral und selbstverwaltet ist, sich jede ihre eigene Instanz mit ihren eigenen Regeln aufsetzen kann, warum greift dann keine zur Tastatur, klickt sich beim nächsten Billighoster einen Server und lässt auf den nur ein ihre handverlesene Peergroup rauf? Zwei Gründe: Erstens fehlt ihr dann die Masse, die ihr zujubelt und mit ihre gemeinsam herumjammert, zweitens stellt sich bei der so zusammengestellten Mastodon-WG heraus, dass die unerträglichste Type, mit der du es keine fünf Minuten alleine aushältst, genau eine Person ist: du selbst.</p><h4 style="text-align: left;">Jetzt ist nicht die Zeit für Luxusprobleme.</h4><p>Doch nicht nur die fehlende Deiwössitite (einmal beifallsheischend umgucken, ob auch alle mitbekommen habe, wie wahnsinnig wichtig mir das ist) sehen die Masturbierodonden als welterschütterndes Problem an, nein, noch viel schlimmer: Man kann so einen Tröt lesen. Vollkommen ungeschützt. Einfach so. Triggeralarm!</p><p>Aus diesem Grund wurde bei Mastodon die CW, ausgeschrieben "Content Warning" oder ganz platt Ausblendfunktion eingeführt - eine an sich sinnvolle Idee. Wenn ich gerade von einer Demonstration berichte, auf der Menschen zusammengeprügelt werden, wollen vielleicht nicht alle die Bilder von blutigen Schädeln sehen. Deswegen kann ich sie auf Mastodon mit einer Markierung versehen, so dass sie nur dann angezeigt werden, wenn die Leserin explizit auf eine Schaltfläche klickt. Doch so wie jede Erfindung ist auch die Inhaltswarnung nicht so idiotensicher gebaut, dass es nicht irgendwen gibt, der alles kaputtfrickelt. In diesem Fall kamen ein paar ganz besonders Schlaue auf die Idee, sie könnten gar nicht abschätzen, wer wovon getriggert wird. Vielleicht gibt es ja irgendwen da draußen, die sich von Katzenbildern oder Sonnenuntergängen gestört fühlt. Um dem vorzubeugen, versehen besonders Umsichtige grundsätzlich jeden ihrer Tröts mit einer Inhaltswarnung und schreiben vor die Markierung, worum es im ausgeblendeten Teil geht.</p><p>Bin ich die Einzige, die das idiotisch findet?</p><p>Wer jeden noch so banalen Text für möglicherweise gefährlich hält, sollte sich und der Welt den Gefallen erweisen und den Text gar nicht erst schreiben. Alternativ wäre es angebracht, sich mit diesem Konzept des "Draußen" genauer zu beschäftigen. In der so genannten "Realität" interessiert sich niemand dafür, ob mich gelbe T-Shirts triggern. Niemand (naja, zumindest niemand, mit dem ich mich abgeben möchte) käme auf die Idee, alle Blümchenwiesen zu betonieren, weil eine Pollenallergikerin vorbeikommen könnte. Egal, was ich anstelle, irgendwer wird sich immer aufregen. Natürlich kann ich versuchen, unnötige Provokationen zu vermeiden, aber spätestens, wenn die Schere in meinem Kopf bei alltäglichen Banalitäten zu überlegen beginnt, wer sich hiervon wieder aufgefordert fühlen mag, sich heulend auf den Boden zu werfen, bin ich genau in der totalitären, diktatorischen Gesellschaft gelandet, die zu bekämpfen ich einst zu Mastodon gewechselt bin.</p><p>Ich habe erwachsene Menschen ernsthaft die Frage diskutieren sehen, ob politische Texte nicht immer mit einer Inhaltswarnung versehen werden sollten. Mit Verlaub, geht's noch? Schaut mal ins Grundgesetz und zwar nicht auf den exakten Text, sondern auf den Geist, den unsere Verfassung atmet. Seht ihr, was da in Dutzenden Artikeln immer wieder geklärt wird? Die politische Ordnung dieses Staates, die Grundfeste, auf der dieses Land basiert. Politik ist kein netter Luxus, den wir uns gönnen, wenn wir gerade zwischen Nachmittagskaffee und Fernsehabend etwas Langeweile verspüren. Politik ist etwas so Fundamentales, dass es nicht nur unser Recht ist, sich daran zu beteiligen, eigentlich ist es unsere Pflicht. Politik ist so allumfassend, dass es nahezu unmöglich ist, nicht politisch zu handeln. Das haben wir spätestens seit dem Ukrainekrieg gelernt, als wir merkten, dass es beim Heizen darauf ankommt, von wem wir das Gas beziehen; als wir merkten, dass es beim Brotkauf darauf ankommt, wer das Getreide liefert; als selbst bei einem simplen Glas Milch die Frage aufkam, ob wir uns den enorm energieaufwendigen Produktionsweg künftig noch leisten können. Let's face it: Es gibt nichts Unpolitisches, und ihr wollt allen Ernstes Politik zu einem Tabuthema ernennen, etwas, das ihr hinter Sperrtafeln verstecken versteckt, damit sich bloß niemand dadurch gestört fühlt?</p><p>Ehrlich, ich finde das ganz schön faschistoid.<br /></p><h4 style="text-align: left;">Auf Twitter hat sich nichts geändert.</h4><p>Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass sich auf Twitter jede Menge Idioten herumtreiben. Das sollte aber nicht weiter verwundern. Sehen Sie sich in der Bahn, auf der Straße, im Supermarkt um. Überall, wo sich die Massen drängen, gibt es einen Bodensatz Bescheuerter. Warum sollte das in der elektronischen Welt anders sein? Zu genau diesem Behufe gibt es auf Twitter (und übrigens auch auf Mastodon) die Blockierfunktion. Wenn Sie die nicht nutzen, weil das ja irgendwie Zensur ist (oder welche Ausrede Sie auch immer finden, Ihre Sichtbarkeit nicht künstlich zu verringern), sollten Sie sich nicht wundern, wenn Sie hin und wieder in menschliche Abgründe blicken. Ich für meinen Teil habe mir damit die Welt so zurechtgeschnitten, dass mir der gröbste Blödsinn erspart bleibt. Der Fairness halber muss ich hinzufügen: Ich bin auch nicht prominent. Mir folgen auf Twitter gerade einmal 1000 Accounts, von denen wahrscheinlich drei Viertel inzwischen nicht mehr aktiv oder Spambots sind. Wenn ich auf Twitter etwas schreibe, was den Leuten nicht passt, verliere ich schlimmstenfalls ein paar Follower, aber so etwas wie einen Shitstorm treten uninteressante Leute wie ich nicht los. Anders ist das bei Konten mit Reichweite und Followerzahlen im hohen fünfstelligen Bereich. Wenn die etwas sagen, locken sie natürlich die ganzen Typen an, die ohnehin und immer alles besser wissen - was okay ist, denn so denken wir alle von uns selbst. Schlimm wird es erst, wenn sie ihr übersteigertes Ego nicht wie ich in ein Blog rülpsen, sondern in Spiegel-Forenbeiträge oder Antworttweets. Solche Dinge bekomme ich nicht zu sehen - wie nahezu alle anderen Twitternutzerinnen auch nicht. Warum? Weil wir nicht prominent sind. Die These, seit Musks Machtübernahme sei praktisch ein Nazi-Fackelzug auf der Plattform unterwegs, wird nahezu niemand aus eigener Erfahrung bestätigen können, so lange wir nicht selber Nazis sind. Ansonsten sollte unser sorgfältig selbstgesponnener Kokon halten.<br /></p><p><br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-30775741873009747882022-11-05T05:55:00.003-07:002022-11-06T22:02:29.676-08:00Was erlauben Grün<p>Geschichte wiederholt sich - vielleicht nicht exakt, aber bestimmte Muster lassen sich erkennen. Ein Beispiel ist das Erwachsenwerden der Generation Greta.</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Was haben wir sie geliebt, die heilige Johanna der Kohlemeiler, so jung, so rein, so unverwundbar, war eine Kritik an ihr doch unmöglich, ohne gleich sexistisch, behindertenfeindlich und sowieso eine furchtbare Umweltsau zu sein. Darüber hinaus kann Thunberg gut reden. Ihre Sprüche waren so knackig und auf den Punkt, dass sie sich als Artikelüber- oder Bildunterschrift fast aufzwangen. und so verkaufte sich das Narrativ der mutigen, kleinen Kämpferin, die mit nichts als einem Pappschild bewaffnet anfing und den alten, weißen Männern der UNO erklärte, wie das mit der Ökologie so geht.</p><p>Auch wenn das aus dem Vorangegangenen nicht deutlich wird: Ich habe zwar keine Sympathie für, aber Respekt vor Thunberg. Sie zieht ihre Sache durch und hat es geschafft, aus einer einzelnen, belächelten Pappschildhochhalterin eine komplette Bewegung werden zu lassen. Genau hier beginnen natürlich auch die Probleme: die Copycats.</p><p>Immer, wenn irgendwo eine bestimmte Masche funktioniert, tauchen an jeder Straßenecke die billigen Kopien auf. Erinnern Sie sich noch daran, wie nach 1989 überall mit Farbe besprayter Bauschutt zu Phantasiepreisen als Stücke der Berliner Mauer verhökert wurde? Da wir gerade bei wertlosem Müll sind: Wer von Ihnen hat in irgendwelche Cryptocoins oder, noch bekloppter, NFTs investiert, ohne auch nur einen Funken davon verstanden zu haben, was eigentlich dahinter steckt, aber fest von den astronomischen Wertsteigerungen überzeugt war? Wenn überhaupt, dann sind diejenigen jetzt reich, die vor mehr als 12 Jahren die Sache gestartet hatten und auf ihren PCs die ersten Bitcoins in die Welt zauberten, die damals noch Bruchteile eines Cents wert waren. Ohne jetzt zu sehr vom Thema abzukommen: Die Frage ist ohnehin, was der Bitcoin im realen Verkauf erzielen kann. Auf dem Papier mag es Menschen geben, die Milliardenbeträge in Kryptowährungen besitzen, aber es gibt keinen dokumentierten Fall, in dem jemand einen nennenswerten Teil dieses Vermögens erfolgreich in klassische Werte getauscht hat.</p><p>Es geht mir hier nicht um das Verprügeln der Crypto-Bros. Ich will Gegner, keine Opfer. Damit wird es allerdings eng, denn diejenigen, mit denen ich mich beschäftigen möchte, spielen die Opferinszenierung mit einem bis zur Armbeuge durchgedrückten Drama-Button. Von einer "Welle der Vorwürfe, Unwahrheiten und Hetze" ist da die Rede, von "friedlichen Protest durch den Dreck zu ziehen", um sich schließlich zu einem Crescendo zu steigern, das Hollywood-Autorinnen ihren Heldinnen in den Mund legen, wenn sie ganz allein dem Untergang geweiht einer Armee an Bösewichtern gegenüber stehen: "<a href="https://letztegeneration.de/blog/2022/11/statement-zum-unfall-es-ist-zeit-eine-grenze-zu-ziehen/">Mögen private Medien weiter zu Gewalt gegen uns aufrufen. Mögen Journalist:innen von öffentlich-rechtlichen Medien uns weiter am Telefon beleidigen.</a>" Was war passiert?</p><p>Nun, monatelang so gut wie gar nichts, und das überrascht mich besonders. Monatelang haben Aktivistinnen in Berlin Verkehrsknotenpunkte blockiert. In Berlin. Der Stadt, deren Einwohnerinnenschaft für vieles bekannt ist, nur nicht für sonderliche Sensibilität und Einfühlsamkeit. Seit Monaten habe ich damit gerechnet, dass ein entnervter LKW-Fahrer, der schon vor Stunden seine Ladung hätte abliefern sollen, aussteigt und das Problem auf sehr pragmatische Weise beseitigt - egal, ob sich da irgendwer irgendwo festgeklebt hat. Allein schon wegen des Muts, sich wenige Zentimeter von den Stoßstangen tonnenschwerer und im Zweifelsfall von meiner körperlichen Widestandskraft weitgehend unbeeindruckter Fahrzeuge entfernt auf einer Hauptstraße auf den Boden zu setzen, gebührt diesen Leuten mein Respekt. Ich könnte das nicht. Ich hätte auch keine Lust auf ein Gerichtsverfahren, an dessen Ende mir eine Geldstrafe, ersatzweise Haft drohen. Unabhängig von der Frage, worum es in dem Protest geht - den Mumm, sich in Berlin vor den Berufsverkehr zu setzen, respektiere ich.</p><p>So ging es offenbar vielen. Die Sympathie bröckelte erst, als die Proteste immer wahlloser wurden. Sich im Rahmen des Klimaprotests vor Autos zu setzen - verstehe ich, aber was haben jahrhundertealte Gemälde mit der Erderwärmung gemein? </p><p>Genau, nichts. </p><p>Warum pappen sich trotzdem Leute an ihnen fest oder beschmieren sie mit Lebensmitteln? </p><p>Ja, ähm, pff, Aufmerksamkeit.</p><p>Okay, verstanden, aber wo ist dann bitte die Grenze? Was oder vielleicht wen bin ich bereit zu opfern, um in die Schlagzeilen zu kommen?</p><p>Zynikerinnen mögen sagen: eine Radfahrerin, aber das ist natürlich Quatsch. Wenn ich den Aktivistinnen eins unbesehen abkaufe, ist es deren unbedingte Absicht, nicht über Leichen zu gehen. Genau deswegen dürfen Tweets wie diese nicht vorkommen:</p><div class="separator" style="clear: both; text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEifve_yhFuNFrPXI_nRfPwrTGCA_NtkoF_oxX-F_O6vxsqPrQMOcCo3PnKTgu7MkVwTU5oFCJmd_8zEidW502ywUsxKZehI9GrwRm8bhH9jQJ1bk_eFX6mIg2n002EfVQpxkbCwv9D7Qmxt1PUroPGSoWL5uvsefkOUANy2myHOAbPIRqVKBYNwrlL9/s640/unknown-17-1.cleaned.png" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="547" data-original-width="640" height="274" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEifve_yhFuNFrPXI_nRfPwrTGCA_NtkoF_oxX-F_O6vxsqPrQMOcCo3PnKTgu7MkVwTU5oFCJmd_8zEidW502ywUsxKZehI9GrwRm8bhH9jQJ1bk_eFX6mIg2n002EfVQpxkbCwv9D7Qmxt1PUroPGSoWL5uvsefkOUANy2myHOAbPIRqVKBYNwrlL9/s320/unknown-17-1.cleaned.png" width="320" /></a></div><br /><p>Ja, ich weiß, er hat sich inzwischen entschuldigt, aber es gibt nun einmal Sachen, die sich nicht aus der Geschichte löschen lassen. Armin Laschet ist im Wesentlichen über ein paar Sekunden Filmmaterial gestolpert, die ihn lachend im Hintergrund stehend zeigten, während im Vordergrund der Bundespräsident eine Stellungnahme zur Flutkatastrophe im Ahrtal abgab - ironischerweise auch dies eine Folge der Klimakatastrophe. Natürlich hat er sein Bedauern ausgedrückt und das Geschehen in einen erklärenden Kontext gerückt. Wichtig ist: Profis dürfen solche Fehler nicht unterlaufen. Annalena Baerbock wäre heute Kanzlerin, hätte sie das früher begriffen. Statt dessen ließ sie sich durch die Popularitätswelle, die ihr nach Ausrufung ihrer Kanzlerinnenkandiatinnenschaft entgegenschlug, einlullen und glaubte, der lange Marsch ins Amt sei für so perfekt Qualifizierte wie sie ein Spaziergang und es folglich unnötig, sich mit einer frisierten Biografie und fehlenden Attributierungen eines ihr zugeschriebenen Buchs angemessen auseinanderzusetzen. Tatsächlich funktioniert Demokratie anders. Erst, wer sich hartem, meist auch unfairem und unqualifiziertem politischen Feuer gewachsen zeigt, sehen die Wählerinnen als einem hohen Amt gewachsen an. Da muss ich im richtigen Moment selbst an die Front und nicht hoffen, dass meine Kampfdackel die Lage für mich schon klären. Baerbock hat jetzt die Chance, zu beweisen, dass sie mehr kann als "nur" Außenministerin, und da in meinen Augen nichts darauf hindeutet, dass die Ampelkoalition die laufende Legislaturperiode, geschweige denn die nächste Wahl überleben wird, rechne ich ihr sehr reale Chancen beim nächsten Versuch aus.</p><p>Nun werden Sie einwenden, dass es zwischen den Regierungsambitionen zweier Profipolitikerinnen und Klimaprotesten auf Berliner Stadtautobahnen einen Unterschied gibt, und in der Tat ist die Generation Greta noch ganz am Anfang ihrer - hoffentlich langen - Laufbahn. Zu den Lehren, die aber bisher alle in diesem Geschäft lernen mussten und die auch zur Adoleszenzerfahrung dieser Generation zählt, gehört die Regel: Wer austeilt, muss auch einstecken können, und erst wer nach heftigen Prügeln immer noch steht und überzeugend "Ist das alles, was ihr habt?" fragen kann, bleibt im Geschäft.</p><p>Erst lieben sie dich, dann hassen sie dich, und wenn es dich dann noch gibt, dann respektieren sie dich. Das mussten die Piraten erfahren, als sie im Jahr 2009 völlig überraschend zur Speerspitze der Netzpolitik wurden und die Öffentlichkeit fasziniert von ihrer unkonventionellen Art, online geführten Debatten, Wikis, Mitmachparteitagen, Tweets und Liquid Democracy war. Im Rampenlicht waren einige Mitglieder ganz benebelt von ihrer vermeintlichen Wichtigkeit. Es entwickelte sich der Schreibstil auf Twitter, der dieses Medium bis heute so schwer erträglich sein lässt: bedeutungsschwer, aufgeblasen, selbstverliebt sich das Millionenheer vorstellend, welches die Nachricht lesen und ihre Verfasserin in die Sabbelsendung am Sonntagabend im Ersten hieven wird. Heraus kommen publizistische Totalkatastrophen wie der Tweet oben.</p><p>Natürlich gibt es für sowas Prügel, und die einzige Möglichkeit, aus dieser Sache herauszukommen, besteht in guter Pressearbeit, einfacher gesagt: im genauen Gegenteil dessen, was gerade bei der "Letzten Generation" stattfindet und was in ähnlicher Form vor einem Jahrzehnt den Piraten das Genick brach. Wenn die Aktivistinnen in ihrer Erklärung vom 4.11. von telefonischen Beleidigungen durch öffentlich-rechtliche Medien schwadronieren, spielt das vermutlich auf Interviews wie dem am 2.11. im <a href="https://www.deutschlandfunk.de/wo-enden-klimaproteste-interview-mit-jakob-beyer-letzte-generation-dlf-1a39ed63-100.html">Deutschlandfunk</a> geführten an, bei dem ein Sprecher der Bewegung zwar genug Pressetraining erfahren hatte, um zu wissen, dass es wichtig ist, unangenehme Fragen zu drehen, um die eigentlich wichtige Botschaft zu vermitteln, aber wie das genau funktioniert, hat ihm offenbar niemand beigebracht, und so spulte er dem geduldig zuhörenden Reporter über zehn Minuten seine vorbereiteten Pressebausteine ab. Wer den Deutschlandfunk kennt, weiß: Das war seitens des Journalisten keine Beleidigung, das waren Samthandschuhe, denn wenn der Sender jemanden nicht leiden kann, geht er ganz anders mit ihm um, wie zum Beispiel am 4.11. im "<a href="https://www.deutschlandfunk.de/vor-weltklimakonferenz-interview-steffen-kotr-afd-umweltpolitiker-dlf-f24b22d1-100.html">Interview</a>" mit dem AfD-Politiker Steffen Kotré - in Anführungszeichen gesetzt, weil während dieses siebenminütigen journalistischen Tiefpunkts praktisch keine Information herauskam, weil sich Reporter und Interviewpartner ständig gegenseitig ins Wort fielen. Der Sender nutzt diese Taktik, weil er das für besonders harten Journalismus hält und den Gegner aus der Reserve locken will. Das hat die Gegenseite allerdings ebenfalls begriffen und quatscht deswegen einfach weiter. Heraus kommt Verbalschrott, auf den keine Seite stolz sein kann und es aus mir unbegreiflichen Gründen dennoch ist. Denen haben wir es aber mal gezeigt. Quatsch. Das Einzige, was Ihr gezeigt habt, ist ein Mangel an Erziehung.<br /></p><p>Was in der Außenwirkung gar nicht gut ankommt, sind Opferinszenierungen. Die beeindrucken vielleicht die eigene Klientel, aber sie überzeugen die Gegenseite nicht. Als die Piraten Anfang des letzten Jahrzehnts das erste Mal Gegenwind bekamen, erzählten sie auch was von einer Medienverschwörung, die sie angeblich durch den Dreck zieht, ganz ähnlich, wie die "Letzte Generation" gerade argumentiert. Das gleiche Narrativ benutzen übrigens populistische Akteure wie die Quer"denker", die AfD, Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán und bezeichnenderweise auch die Leugnerinnen des Klimawandels, die das Feindbild der "Lügenpresse", hierzulande gern noch "linksgrün versifft" und "staatlich gelenkt", aufbauen. Damit ich das richtig verstehe: Die Presse lügt also den Klimawandel her, um gleichzeitig gegen die ihn bekämpfenden Aktivistinnen zu hetzen? Kann mir bitte jemand den Verschwörungsmythos nennen, der das beides logisch zusammenbringt?</p><p></p><p>Nein, was wir gerade erleben, ist keine Verschwörung, sondern ein politischer Lasttest, der genau dazu da ist, die Souveränität einer Bewegung auch unter unfairen Umständen zu prüfen. Nichts Anderes passiert bei jedem Examen an der Schule oder Universität. Da wird künstlicher Druck aufgebaut, unter Stress werden größtenteils blödsinnige Fragen gestellt, die danach nie wieder jemand stellen wird, und das alles hat nur den einen Zweck: herauszufinden, ob die Behauptung "ich kann was, ich weiß was" einer Belastung standhält. Natürlich ist der Vorwurf, die Straßenblockiererinnen hätten den Tod einer Radfahrerin verschuldet, Blödsinn, aber statt über "öffentliche Hetze" zu jammern, heißt es, souverän mit der Frage umzugehen, ob das bewusste Blockieren von Hauptverkehrsadern einer Millionenstadt nicht auch mitunter diejenigen behindert, die nicht behindert werden sollten. Wie das genau aussieht? Weiß ich nicht, brauche ich auch nicht zu wissen, denn ich klebe mich nicht auf Autobahnen fest.</p><p>Irgendwann wird das publizistische Sperrfeuer ein Ende haben. Das wird die Betroffenen jedoch nicht davon abbringen, eine Verschwörung zu wittern. Waren es vorher die negativen Schlagzeilen, die ihren Ingrimm erregten, wird danach genau deren Ausbleiben als Indiz einer perfiden Pressekampagne gewertet, nunmehr mit dem Ziel, großartige Taten durch Nichterwähnung künstlich aus der öffentlichen Wahrnehmung fernzuhalten. Auch diese Behauptung ist Unsinn. Wenn die Presse mich nicht wahrnimmt, liegt es nicht an deren böser Absicht, sondern an der Unfähigkeit meines Presseteam, Neugier zu wecken.<br /></p><p>Was wir gerade erleben, ist das Erwachsenwerden einer Bewegung. Wir haben es erlebt, als Ende der Neunziger die Überbleibsel der APO ins Bundeskabinett einzogen und gleich zu Beginn über Kriegseinsätze auf dem Balkan zu entscheiden hatten. Wir erleben es jetzt, da die Grünen nach langer Oppositionszeit wieder in einer Bundesregierung sitzen, eine Pandemie, einen Krieg mitten in Europa verbunden mit einer Wirtschaftskrise, eine Energiekrise und eine Klimakatastrophe managen sollen. Natürlich vergeigen sie es, so wie es ihre Vorgänger vergeigt haben und so wie es auch jede andere Regierung vergeigt hätte. Die Frage ist weniger eine des Scheiterns, sondern wie sie mit der Diskrepanz zwischen überhöhten Erwartungen und der Realität umgehen. Ein Tipp: Niemand mag weinerliche Verliererinnen.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-856100094395083242022-07-27T05:08:00.005-07:002022-07-28T02:45:28.915-07:00Es reimt sich - fertig<p>Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich halte einander mit Fäkalien bewerfende Schimpansen für kulturell höherwertiger als alle Ballermann-Schlager zusammen. Zwar besitze ich keine echte Ahnung von Musik, spiele aber seit langer Zeit ein Instrument, habe jahrelang in Chören gesungen hat und kann zur Not auch einfache Chorsätze schreiben, weswegen sich mir das Trommelfell kräuselt, wenn ich die immer gleichen Arrangements, den 4/4-Stumpfrhythmus und die mit der vollen Macht der Effekttechnik gepimpten Fistelstimmchen beim Sinnen von Texten höre, deren Schwachsinnsgrad einem Amtsarzt zur Hirntoddiagnose reicht. Ich verachte eine Partykultur, die Lautstärke mit Qualität verwechselt, Besaufen zu einer Kunstform verklärt und von ihrem Umfeld die Rücksichtnahme einfordert, bis spät in die Nacht grölende, saufende, kotzende und pissende Frohnaturen zu ertragen, während sie selbst auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt. Wenn es nach mir ginge, könnten wir die Partymeile auf Mallorca umpflügen und durch einen Rübenacker ersetzen, dessen IQ um Größenordnungen höher ist, als der des bisherigen Unterhaltungsangebots.</p><p>Genau diese Haltung ist der Grund, warum ich niemals irgendwo Entscheidungen über Kultur- und Partyveranstaltungen treffen sollte. Meine Vorstellung, es gäbe "wertvolle" und "weniger wertvolle" Kultur, ist überheblicher Quatsch. Wenn Leute feiern wollen, ist das deren Sache und es obliegt mir nicht, das zu bewerten. Mir muss das nicht gefallen, und ich habe zum Glück einige Ausweichmöglichkeiten.</p><span><a name='more'></a></span><p>Umgekehrt hat eine <a href="https://www.sueddeutsche.de/bayern/wuerzburg-verbot-layla-schuchardt-ob-1.5621468">Stadt</a> natürlich das Recht, auf einem von ihr ausgerichteten Fest zu bestimmen, welche <a href="https://rp-online.de/kultur/musik/layla-in-wuerzburg-volksfest-besucher-feiern-trotz-verbot-zu-mallorca-hit_aid-72913095">Musik</a> gespielt wird. Das ist kein <a href="https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/wuerzburg-verbietet-ballermann-hit-layla-auf-volksfest-a-0cb08d86-9cb9-4fe3-abd0-9f59fc5aa582">Verbot</a>, auch keine Zensur - meine Party, mein Plattenteller. Die Stadt muss sich dann natürlich darüber im Klaren sein, welche Reaktionen sie auslöst. Der größte Fehler allerdings besteht darin, etwa wie der Spiegel allen Ernstes eine <a href="https://www.spiegel.de/politik/deutschland/layla-wie-ein-ballermann-hit-zur-freiheitsikone-wurde-podcast-a-304fac19-ddbc-4aec-b5d5-48bedf9cb5fe">Textanalyse von Partymusik</a> zu beauftragen und damit dem Lied eine Botschaft zu unterstellen, die es nicht hat.</p><p>Für alle, die jeden Abend auf ihren Uni-Abschluss onanieren, aber ansonsten nichts begriffen haben: Partymusik ist Industriemusik, geschrieben, um einen Sommer lang die Leute zum Abhotten zu bringen und danach vergessen zu werden. Mehr will die Band nicht, mehr will das Publikum nicht. Da müssen Bässe rein, eine eingängige Akkordfolge, und der Text, liebe Leute, der Text ist egal. Der soll zur Melodie passen, leicht zu merken sein und sich reimen. Wenn daran jemand länger als <a href="https://www.youtube.com/watch?v=nra8REqaorQ">10 Minuten</a> gesessen hat, war das lang. Kuss, Schluss, Herz, Schmerz - so einfach kann das Leben sein. Es verkennt komplett die Situation, sich hinzusetzen, über den Namen der Protagonistin nachzusinnen, um dann auf die Idee zu kommen, dass der Text nicht nur sexistisch, sondern sogar rassistisch ist, weil der fremdländisch klingende Name auf einen Migrationshintergrund schließen lässt. Achtung, jetzt kommt was Wichtiges: Wisst Ihr, warum die Frau im Lied nicht Schwanhild heißt?</p><p>Na?</p><p>WEIL SICH DAS NICHT AUF "GEILER" REIMT.</p><p>Und wisst Ihr, warum der Text nicht "Ich möchte mit der weiblich gelesenen Entität Schwanhild eine gleichberechtigte, auf gegenseitiger Wertschätzung beruhende Beziehung führen, die eine konsensual begründete körperliche Komponente nicht ausschließt" lautet?</p><p>Weil das ein KACK-Versmaß ist und sich ebenfalls nicht reimt.</p><p>Bitte entschuldigt, dass ich solche Selbstverständlichkeiten auf das Niveau von Leuten runterbrechen muss, die es in ihrem Leben außer zu einem Magister in Germanistik zu nichts gebracht haben. Wenn ich für etwas noch mehr Verachtung übrig habe als Leute, die auf eine derartige Schrottmusik abgehen, sind es Leute, die jeden harmlosen Quatsch <a href="https://www.derwesten.de/panorama/vermischtes/kaufland-discounter-supermarkt-werbung-sexismus-maedelsabend-sekt-schokolade-bier-kundin-twitter-youtube-tz-id235976859.html">totanalysieren</a> um ihrer Peer-Group zu demonstrieren, wie aufmerksam und sensibel sie sind. Auf Mastodon sehe ich Leute, die jedes Posting ausblenden und mit einer "Content Warning" versehen, die selbst bei den harmlosesten Texten beschreibt, worum es inhaltlich gehen wird, damit ich dann durch einen Klick auf das Posting den eigentlichen Inhalt zu sehen bekomme - und das alles nur, damit niemand "getriggert" wird. Doch das kann nicht funktionieren. Gerade dadurch, dass wir versuchen, allen zu gefallen, senden wir das Signal, dass wir bereit sind, uns für jede noch so krude Selbstinszenierung als Opfer schuldig zu fühlen. Wir rufen die Leute geradezu auf, sich beleidigt zu fühlen. Ich bestreite nicht, dass Partymucke textlich absoluter Dreck ist, aber aus diesem Umstand die Behauptung abzuleiten, hier werde zur Massenvergewaltigung insbesondere von Frauen mit Migrationshintergrund aufgerufen, ist allein deswegen schon Blödsinn, weil sie unterstellt, dass jemand, der da mitgrölt, intellektuell noch zu irgendeinem Textverständnis in der Lage ist.</p><p>So, und jetzt gehen wir los und kümmern uns um reale Probleme. Ich kann mich entsinnen, dass wir noch das eine oder andere haben.</p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-37950243423161228672022-07-11T08:21:00.002-07:002022-07-11T08:21:51.681-07:00Antisemitischer Fetisch<p>Kurz bevor ich zur Besprechung mit unserem Team nach Hannover aufbrach, nahm mich ein Kollege beiseite: "Pass bitte auf, dass Dir nicht das N-Wort rausrutscht."</p><p>Was, Niedersachsen? Ja gut, ist 'ne öde Gegend, aber meine Güte, Hannover ist nun einmal in Niedersachsen. Aber keine Bange, wir reden vor allem über die neue Programmversion und den Veröffentlichungstermin übernächste Woche.</p><span><a name='more'></a></span><p>"Neineinein, das meine ich nicht. Ich meine das N-WORT."</p><p>Ach, du meinst den Navigationsbalken? Keine Bange, den Fehler haben sie inzwischen repariert. Da hat es zugegebenermaßen etwas Stress gegeben, aber keiner von uns ist nachtragend.</p><p>"Nein, doch nicht DAS. Ich meine DAS N-WORT. Zwei Silben, und endet auf 'ger'".</p><p>Jetzt, weiß ich, was du meinst: Nager. Da brauchst du dich nicht zu sorgen. Sascha weiß, dass einige ihn wegen seiner großen Vorderzähne den Nager nennen. Er sieht das entspannt. Den beleidigt so schnell keiner.</p><p>"Himmel, bist du wirklich so blöd? Ich rede von Simon und Kwabena. Du weißt doch, die sind..."</p><p>...aus Göttingen, genau. Dort haben sie studiert.</p><p>"SCHWARZ! Meine Güte, sie sind SCHWARZ! Und ich will nicht, dass du sie so nennst."</p><p>In den Harry-Potter-Romanen leiden wir mit der Hauptfigur, wenn sich alle weigern, den Namen "Voldemort" auszusprechen und statt dessen "Der, der nicht genannt werden darf" oder "Du weißt schon wer" sagen, doch in unserem teutonisch-korrekten Alltagsleben erreichen wir, was sprachliche Sensibilisierung angeht, ein Niveau, gegen das die Harry-Potter-Welt im Vergleich geradezu zügellos wirkt. Wir reden von "Schokoküssen", schreiben Passagen in Kinderbüchern auf "Südseekönig" um und plädieren dafür, wenn schon nicht <a href="https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/rassismusverdacht-gruene-jugend-will-negernboetel-umbenennen-17364226.html">ganze Ortschaften</a>, dann doch wenigstens <a href="https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-08/berlin-mohrenstrasse-umbenennung-rassismus-wilhelm-amo-strasse">U-Bahnstationen</a> umzubenennen. In unserem Eifer, endlich die koloniale Vergangenheit zu überwinden, schrecken wir auch vor <a href="https://www.allaboutcircuits.com/news/how-master-slave-terminology-reexamined-in-electrical-engineering/">technischen Fachtermini</a> nicht zurück. Wenn mich auch einige Diskussionen etwas übereifrig geführt vorkommen, kann ich mit dem Ergebnis meist gut leben. Pippi Langstrumpf bleibt ein wunderbares Kinderbuch, ungeachtet eines leicht geänderten Königstitels ihres Vaters, Schokoküsse schmecken prima, weil sich die Bezeichnung, nicht die Zusammensetzung geändert hat, und die Primär-Sekundär-Konfiguration meines Cluster funktioniert auch mit den neuen Begriffen, und alle wissen, was technisch gemeint ist. Es gibt tatsächlich keinen Grund, irgendeinen Menschen mit dunkler Hautfarbe aufgrund dieser Eigenschaft mit beleidigenden Namen zu versehen. Nur die sprachlichen Volten, die wir schlagen, um in Diskussionen über den Gebrauch dieses Worts ebendieses zu vermeiden, nehmen bisweilen bizarre Züge an. Meine Güte, als wenn die Menschen zu doof wären, zwischen einem dokumentierenden und einem rassistischen Gebrauch dieses Worts zu unterscheiden.</p><p>Das alles wäre ich bereit, unter typisch teutonischer Überkorrektheit zu verbuchen, wenn es da nicht ein Wort gäbe, mit dem wir überhaupt kein Problem haben. Ein Wort, das seit Wochen durch die Schlagzeilen wabert, dass bis in die höchsten Höhen seriöser Berichterstattung ganz sorglos dahingeplappert wird, ohne dass irgendwer auch nur den Hauch eines Problems damit hat:</p><p>Judensau.</p><p>Und das ist das letzte Mal, dass ich dieses Wort in diesem Artikel benutze. Weil es mir unangenehm ist, als Angehörige eines Volkes, in dessen Namen <a href="https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/6-millionen-holocaust-opfer-woher-stammt-diese-zahl-100.html">sechs Millionen Juden</a> ermordet wurden, dieses eindeutig beleidigende Wort in den Mund zu nehmen. Wer es benutzt, kann sich nicht damit herausreden, "das sage man einfach so", das "sei aber nicht so gemeint". Oh doch, das ist so gemeint. Bei diesem Wort gibt es keinen Interpretationsspielraum. Dieses Wort hat ein einziges Ziel: Menschen zu beleidigen, ihnen das Menschsein abzusprechen und Gewalt gegen sie zu rechtfertigen.</p><p>Aber nein, das sieht das deutsche Feuilleton anders. Da hat man ja studiert, und mit einem Abschluss in Germanistik darf man das. Da darf man dann Sätze in den Mund nehmen wie: "Die J darf hängen bleiben" oder "Die J muss endlich entfernt werden" oder "Für die J muss eine Lösung gefunden werden". Natürlich wird das Wort immer genussvoll in ganzer Länge ausgesprochen, und auf die Frage, ob dieses Wort nicht besser vermieden werden könnte, im selbsternannten Land der Dichter und Denker müsste es doch möglich sein, eine weniger verunglimpfende Umschreibung zu finden, heißt es: "Ja, aber die Plastik heißt doch nun mal so."</p><p>Ah, verstehe, da muss auf einmal sprachliche Genauigkeit her, da ist es auf einmal völlig undenkbar, von einem "antisemitischen Relief" oder einer "Schweinsplastik" zu reden, nein da muss das Wort her, das unsere Vorfahren über Jahrtausende schrien, wenn sie mal wieder ein Pogrom anzettelten. Obwohl nirgendwo an der Plastik das Wort zu lesen ist und es ohne Probleme möglich wäre, es im Rahmen der Debatte mit einer weniger verfänglichen und dennoch eindeutigen Bezeichnung zu versehen, nennen wir sie mit ihrem menschenverachtenden, volksverhetzenden Namen. Ordnung muss sein.</p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-76881900421907921052022-06-04T04:15:00.004-07:002022-07-11T05:31:44.798-07:00Dokumentiertes Scheitern für neun Euro<p>Woran Sie an jedem beliebigen Punkt erkennen können, wo sich ein Teutone herumtreibt? Gehen Sie dorthin, wo am lautesten herumgejammert wird.</p><p>So zum Beispiel bei der Einführung des Neun-Euro-Tickets. Das ist in meinen Augen ein so richtiger Schritt in eine so richtige Richtung, dass ich allenfalls an Details herummäkle wie der Frage, warum nicht gleich gratis, weil die neun Euro für die Verkehrsbetriebe wahrscheinlich nicht einmal den Abrechnungsaufwand kompensieren, und warum nicht gleich für immer, um sowohl sozial als auch ökologisch Zeichen zu setzen. Insgesamt aber begrüße ich das Ticket sehr, nicht obwohl, sondern weil die Verkehrsbetriebe daran scheitern werden.</p><span><a name='more'></a></span><p>"Das ist doch noch gar nicht gesagt. Wir können nicht so früh schon absehen, wie viele Leute das Ticket tatsächlich nutzen und damit das System überlasten werden."</p><p>Doch, das kann ich bereits jetzt mit absoluter Sicherheit sagen. Es musste nicht ein einziges Neun-Euro-Ticket verkauft werden, um den ÖPNV kollabieren zu lassen. Er ist es schon längst. Vor knapp vier Jahren habe ich angefangen, meine eigene Pünktlichkeitsstatistik der Bahn anzufertigen, weil ich den mathematischen Tricksereien des Unternehmens nicht über den Weg traue und es mich nicht im geringsten interessiert, dass der bundesweite Schnitt total töfte ist, wenn rein zufällig auf den von mir genutzten Linien die Realität anders aussieht. Deswegen habe ich über 900 von mir genutzte Züge erfasst. Hiervon waren gerade einmal 38,5 Prozent pünktlich. Die Bahn lügt sich diese Zahlen freilich schön, indem sie einen Zug erst ab 6 Minuten Verspätung als unpünktlich wertet. Die Absurdität dieser Manipulation wird deutlich, wenn das mir von der Bahn ausgestellte Ticket acht Minuten Umsteigezeit ausweist, die auf zwei bis drei Minuten Sprint mit Gepäck zusammenschnurren, ohne dass sich die Bahn in der Verantwortung sieht, denn ihre Züge waren ja pünktlich.</p><p>Aber wir wollen nicht kleinlich sein und der Bahn-Mathematik, dass 5 gleich 0 ist, folgen. Nach dieser Rechnung wären immerhin 74,4 Prozent der Züge pünklich. Das hört sich zwar deutlich besser an, aber bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass im Durchschnitt jeder einzelne Zug 16 Minuten später als geplant eintraf. In 2,5 Prozent der Fälle fiel der Zug gleich ganz aus.</p><p>Während der Pandemie war ich wenig überraschend selten in den rollenden Superspreader-Events unterwegs, habe aber gehört, dass die Bahn die Aufgabe, leere Züge durchs Land zu rollen, erstaunlich gut bewältigt hat. Diese Beobachtung wiederum passt schön zur offiziellen Erklärung, warum mein Zug gestern mit einer Stunde Verspätung durch die Lande schlich: "ein- und aussteigende Fahgäste". JA MEINE GÜTE, WER HÄTTE DENN AHNEN KÖNNEN, DASS IRGENDWER AUF DIE IDEE KOMMT, EINEN HERUMROLLENDEN ZUG AUCH ZU NUTZEN? Die Türen waren zur Belüftung gedacht, nicht zum Ein- und Aussteigen.</p><p>Ich sehe deswegen das Neun-Euro-Ticket als Chance. Millionen Menschen haben sich das Ticket gekauft, werden es ausprobieren und damit am eigenen Leib erfahren, wie großartig gerade in Zeiten explodierender Energiekosten ein funktionierendes Bahnnetz wäre und wie weit wir davon entfernt sind. Millionen Bahnneulinge werden sehen, was es heißt, eine Stunde auf einem Bahnsteig herumzusitzen, weil der eine Anschlusszug knapp verpasst wurde und der nächste mit einer halben Stunde Verspätung eintrifft. Mit ungläubigem Staunen werden sie erleben, wie ein proppevoller Zug über eine Stunde vor dem eigentlichen Ziel einfach seine Fahrt beendet, hunderte Fahrgäste rausschmeißt und dann umkehrt, weil er sonst keine Chance hat, wieder in den vorgesehenen Fahrtenrhythmus zurückzufinden. Außerdem werden alle ausgefallenen Bahnhöfe als "pünktlich" gewertet, was auf wundersame Weise die Statistik wieder aufpoliert. Vielleicht wird ihnen angesichts dieser Zustände, die eher einem Entwicklungsland zu Gesicht stünden als einer der führenden Industrienationen dieses Planeten, ein Licht aufgehen.</p><p>Ein Licht nämlich, dass Spritpreise niemanden bewegen, genauer: nicht bewegen können, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Ich habe in den vergangenen Wochen viel gelesen über Städte, die für Autos und nicht für Menschen gebaut wurden und vor allem das Lamento über das Voraben der Bundesregierung, durch eine Senkung der Mineralölsteuer den explodierenden Bezinpreisen entgegenzuwirken, was ja ökologisch wohl das völlig falsche Signal sei. Ist es auch, aber der Glaube, es reiche, ein bis dato beliebtes Verkehrsmittel einfach zu verteuern, um damit einem anderen zu mehr Beliebtheit zu verhelfen, kann nur von Leuten kommen, die sich ohnehin kein Auto leisten können und deswegen nie vor die Wahl gestellt waren. Wir könnten Benzin so teuer wie Druckertinte werden lassen, ohne dass sich etwas änderte. Ich bin beruflich viel mit der Bahn unterwegs. Auf einer meiner Strecken brauche ich mit der Bahn für knapp 100 Kilometer etwa drei bis dreieinhalb Stunden. Mit dem Auto wäre ich in 90 Minuten da. Ein weiteres von mir oft besuchtes Ziel liegt über vier Kilometer vom Bahnhof entfernt, zu einem dritten sind es 10 Kilometer. Teilweise lassen sich diese Distanzen mit einem Bus verkürzen, setzen aber Wartezeiten von einer halben Stunde und mehr sowie einige Umstiege voraus. Da ich mit wenig Gepäck unterwegs bin, gern ein paar Kilometer laufe und die Reise als eine Art Abenteuer ansehe, ist das alles für mich noch erträglich, aber wer diese Strecke täglich pendeln muss, wird jeden Spritpreis bezahlen, weil er für Spielchen keine Zeit hat.</p><p>Der niedrige Ticketpreis nährt auch die Befürchtung, Heerscharen von Punks und Anarchos könnten sich jetzt in den Zug nach Sylt setzen, um dort die Reichen zu ärgern. Erstens: Wie bereits geschrieben, erfordert Bahnreisen Zeit. Dass sich also außerhalb Schleswig-Holsteins nennenswert viele Menschen auf die Reise in den äußersten Nordwesten begeben, halte ich aus Bequemlichkeitsgründen für unwahrscheinlich. Wenn überhaupt werden Leute aus den Nordländern anreisen, und da gab es vorher schon erschwingliche Verbundtickets. Zweitens ist das Teure an Sylt nicht das Hinkommen, sondern das Dasein. Drittens: Wie kläglich, wie spießbürgerlich-borniert muss ein Kleingeist sein, sein Ziel darin zu sehen, stundenlange Strapazen auf sich zu nehmen, nur um ein paar Pfeffersäcken auf denselbigen zu gehen? Ist es das, was von der Revolution übrig blieb? Lass sie doch ruhig reich sein. So lange ich nicht vorhabe, daran etwas zu ändern - was ja durchaus ein Ziel sein kann -, soll es mir egal sein. Dafür fahre ich nicht nach Sylt. So schön ist diese Insel wirklich nicht. Da kenne ich im Norden einige viel hübschere Ecken.</p><p>Nehmt Euch das Ticket. Habt Spaß dabei. Seht es als Experiment. Ihr habt die Möglichkeit zu erleben, wie marode unser Nahverkehrssystem ist - so kaputt, dass selbst neun Euro ein mutiger Preis sind. Doch dieser Zustand kommt nicht von allein. Er kommt von sich über Jahrzehnte hinziehenden Fehlentscheidungen, vom Kaputtsparen, vom Versuch, ein System an die Börse zu bringen, vom neoliberalen Fetisch, funktionierende Infrastrukturen als lästigen Kostenfaktor zu begreifen und sie deshalb zu privatisieren, was am Ende zu Gewinnorientierung führt - oft dem genauen Gegenteil von Funktionieren.</p><p>Das muss aber nicht so sein. Ihr habt jetzt drei Monate Zeit, die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit kennenzulernen - um dann kräftig Druck auf Eure Abgeordneten auszuüben, dieses System zu reparieren. Das Geld dazu ist da - nicht nur bei den Pfeffersäcken auf Sylt.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-61681420099298443612022-03-06T01:48:00.001-08:002022-03-06T01:55:46.649-08:00The War Is Over - and we lost<p> Jedes Mal, wenn der Westen sich auf ein größeres militärisches Abenteuer einlässt,verfolgt er publizistisch die gleiche Strategie, den Gegner als sabbernden Idioten hinzustellen. Die Idee dahinter ist klar: Wir sind die Guten, rational, von objektiven, ethischen Werten geleitet, während der Gegner ein verachtens-, ja fast schon bemitleidenswerter Trottel ist, testosterongesteuert, unfähig zu einer rationalen Entscheidung. So war es beim Krieg gegen Saddam Hussein, so ist es mit Wladimir Putin. Zwar hat der Westen nie Krieg gegen ihn geführt, weil er selbst Teil des Westens war, aber: So war es auch mit Donald Trump in den Medien außerhalb der USA.</p><span><a name='more'></a></span><p></p><p>Diese Strategie ist nicht nur plump, sie ist sogar gefährlich, weil sie dazu verleitet, den Gegner zu unter- und sich selbst zu überschätzen. Kein Mensch schafft es allein mit übersteigertem Selbstbewusstsein an die Spitze eines Staats, nicht einmal in der Bundesrepublik, die 16 Jahre Kohl und sieben Jahre Schröder hinbekommen hat. Die Linke unter Kohl war, von der eigenen intellektuellen Überlegenheit überzeugt, immer davon ausgegangen, dass niemand so jemanden wählen könnte und dass sie deswegen die größten Pfeifen gegen ihn ins Rennen schicken könnte, weil sie die Wahl fast automatisch gewönnen. Taten sie nicht. Kohl mag vielleicht nicht der intellektuell herausragendste Kanzler gewesen sein, aber er hatte ganz offenbar genug Geschick, sich an der Macht zu halten. Ein zu großes Ego reicht als Erklärung nicht aus. Unter meinem Fenster randalieren jede Nacht irgendwelche Bubis ohne Fähigkeiten, dafür jedoch mit grenzenloser Selbstüberschätzung. Spoiler: keiner von denen ist Kanzler.</p><p>Spätestens nach vier Jahren Trump hätte eigentlich der letzten Linksintellektuellen aufgegangen sein müssen, dass gerade in Ländern mit bröckelnder Demokratie niemand danach fragt, ob der Staatschef sämtliche Genderschattierungen mit dem korrekten Kürzel bezeichnen kann oder ob er die aktuelle Sprachregelung kennt, mit der wir die Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe endgültig beseitigt haben. Wir messen Leute wie Trump mit unseren moralischen Kriterien und übersehen dabei völlig, dass diese Regeln für sie nicht gelten.</p><p>Es hat mich verstört, wie die westliche Medienlandschaft mit dem Einmarsch in die Ukraine in den verbalen Kriegsmodus gewechselt ist. Hatten sie in den Monaten und Jahren zuvor Putin noch als intelligent und skrupellos bezeichnet, stellen sie ihn inzwischen vor allem als auch körperlich kranken Irren hin, dem es vor allem um das eigene Gesicht geht. Diese Aspekte mögen eine Rolle spielen, aber sie verstellen die Sicht auf den in meinen Augen wichtigsten Punkt: Putin weiß genau, was er will, er handelt zielstrebig und überlegt. Sein moralischer Kompass ist einfach nur ein anderer als der unsere.</p><p>Die Fehleinschätzung geht schon mit den Meldungen los, Putin verlöre daheim an Zustimmung. Entschuldigung, aber: ja und? Putin muss sich keinen Wahlen stellen, zumindest keinen, deren Ergebnis er nicht vorher festgelegt hat. Niemand muss ihn mögen, die Leute müssen einfach nur nicht so von ihm angeödet sein, dass sie eine Revolution beginnen. Selbst, wenn sie eine Revolution begönnen, müsste es eine mit Erfolgsaussichten sein, mit anderen Worten: ein Putsch. Putin kann also ohne Schwierigkeiten Protestaktionen aussitzen, so lange sein Staatsapparat zu ihm hält. Allenfalls ein Generalstreik könnte ihm gefährlich werden, aber das halte ich nur wegen eines Kriegs gegen einen ehemaligen Vasallenstaat für unwahrscheinlich.</p><p>Die zweite Fehleinschätzung hängt mit dem angeblich nicht nach Wunsch verlaufenden "Blitzkrieg" gegen die Ukraine zusammen. Jetzt schießen sie schon eine Woche lang da alles zu Klump und haben Kiew immer noch nicht eingenommen. Putin ist so gut wie erledigt?</p><p>Exkrement eines männlichen, geschlechtsreifen <a href="https://de.wiktionary.org/wiki/Bulle">Hausrinds</a>. Wissen Sie, was ein "Blitzkrieg" war? Der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cberfall_auf_Polen">Überfall</a> auf Polen, und der dauerte über einen Monat. Keine Armee erobert ein Gebiet von der Größe der Ukraine in einer Woche, auch die russische nicht. Deswegen erlebt Putin dort auch nicht sein <a href="https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/10620/der-vietnamkrieg/">Vietnam</a>, auch nicht sein zweites <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sowjetische_Intervention_in_Afghanistan">Afghanistan</a>, ganz davon abgesehen, dass dieser Krieg auch nicht nach einer Woche, sondern fast 12 Jahren vorbei war. Auch die Tatsache, dass die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Afghanistan_2001%E2%80%932021#Kriegsverlauf">Westalliierten</a> dort zwei Jahrzehnte lang eine an ihren Werten orientierte Staatsform zu etablieren versuchten, nur um sie Stunden nach ihrem Abzug kollabieren zu sehen, verschleiert die Tatsache, dass die Ukraine weder ein mit Dschungel überzogenes, noch ein von Bergschluchten zerklüftetes Land ist, in dem sich Guerillas über Jahre verschanzen können, um eine reguläre Armee auszubluten. Nein, in die Ukraine marschiert man ein, besetzt die wichtigsten Infrastruktur- und Machtzentren und wartet ab, bis die Leute sich mit der neuen Regierung so arrangiert haben, wie sie sich bislang mit jeder Regierung abfanden. Das liefe hierzulande übrigens nicht anders.</p><p>Die ukrainische Armee mag motiviert sein. Die Waffenlieferungen aus dem Westen mögen ihre hoffnungslose Unterlegenheit etwas mildern, am Ende werden sie die Niederlage aber vielleicht um ein paar Wochen hinauszögern. Verhindern werden sie nichts.</p><p>Der Westen hat auf all dies keine passende Antwort. Wir befinden uns in einem <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Feiglingsspiel">Hasenfuß-Rennen</a>, in dem zwei Autos aufeinander zurasen und derjenige als Verlierer gilt, der ausweicht. So ein Rennen funktioniert aber nur, wenn beide Seiten ungefähr gleich (un-)<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Madman-Theory">entschlossen</a> sind. In diesem Fall aber sagen wir uns - aus höchst ehrenwerten Motiven: "Egal, was kommt, wir weichen aus. Wir wollen gar nicht wissen, wie weit der Andere geht, weil wir keine Lust haben, bei dem Spiel zu Tode zu kommen." Genau das weiß die Gegenseite und hält drauf. Beim Poker wäre es All-in mit einem Ramschblatt. Vielleicht habe ich wirklich nichts auf der Hand, vielleicht doch, aber willst du es wirklich wissen oder lieber raus, so lange es noch möglich ist?</p><p>Die Ukraine ist verloren, da können wir uns an noch so viele Strohhalmmeldungen klammern. Die Frage für mich lautet eher, welcher Staat als nächster dran ist und ob der Aufkleber "Hey, wir gehören zur Nato, uns darfst du nicht angreifen" irgendwen beeindruckt. Zur Zeit des Kalten Krieges stritt sich der Westen darum, was schlimmer sei: rot oder tot. Ich halte beide möglichen Antworten für vertretbar.<br /></p><p><br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-68495684906561970272021-08-22T02:14:00.011-07:002022-03-06T01:56:26.842-08:00Die Drei von der Resterampe<p>Jetzt ist es offiziell: Laschet sieht keine Chancen mehr, das Rennen um die Kanzlerschaft zu gewinnen.</p><p>Das sagt er natürlich nicht so. Er verhält sich aber, wie sich die CDU immer verhalten hat, wenn sie nicht mehr daran glaubt, es aus eigener Kraft noch schaffen zu können: Er gräbt ganz tief in der Klamottenkiste herum und zerrt die schon reichlich ausgeleierte <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Socke">Rote-Socken-Kampagne</a> hervor. Diese Nummer hat noch nie funktioniert, im Gegenteil: Die Warnung vor einem <a href="https://www.deutschlandfunk.de/wahlkampfauftakt-laschet-warnt-vor-linksruck.1939.de.html?drn:news_id=1293236">Linksruck</a> hatte dem politischen Gegner stets in die Arme gespielt, hinterließ sie bei den Wählerinnen doch den (irrigen) Eindruck, durch die Wahl einer anderen Regierung wirklich einen politischen Wandel herbeiführen zu können. Das ist natürlich Quatsch, denn zumindest mit der SPD an der Macht wird es alles geben, nur keine linke Politik. Hartz IV, erster echter Kriegseinsatz der Bundeswehr, ein ganzes Bündel menschen- und bürgerrechtsverletzender Anti-Terror-Gesetze, die vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wurden: SPD-Kanzlerschaft. Mindestlohn, Frauenquote in Führungsetagen, Ehe für alle, Ausstieg aus der Kernkraft: Kanzlerin Merkel, zugegeben bis auf vier Jahre zusammen mit der SPD. Ich weiß, das ist in dieser Überspitztheit nicht wahr, aber es bleibt die Feststellung, dass mehrere klassisch linke Forderungen bizarrerweise unter einer CDU-geführten Regierung umgesetzt wurden. Selbst die Streichung des <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/%C2%A7_175#Streichung_des_%C2%A7_175">§ 175 StGB</a> fand unter Kohl statt (wenngleich die CDU danach den Mut verlor und sich gegen die Rehabilitierung Verurteilter wehrte). Wie dem auch sei, wenn von einer SPD-geführten Regierung eins nicht zu erwarten ist, dann ein Linksruck.</p><p>Doch genau davor warnt Laschet. Offensichtlich traut nicht einmal er selbst sich noch genug Eigenschaften zu, um von sich zu überzeugen. Böse Zungen fragen: Hat dieser Mann überhaupt irgendwelche Eigenschaften? </p><span><a name='more'></a></span><p></p><p>Laschet gilt als absolutes Mittelmaß, und viele stellen das so hin, als sei das ein Mangel. Das sehe ich anders. Jahrzehntelang wurde dieses Land von Mackern regiert, die nicht nur selbst keine Zweifel an ihrer eigenen Göttlichkeit hatten - wir hatten sie auch nicht. Insbesondere Adenauer, Schmidt, Kohl und Schröder waren bis an den Rand der Verhaltensauffälligkeit nicht mittelmäßig. Das änderte sich erst mit Merkel, die als graue Maus sich ohne besondere Höhen und Tiefen bis zur Kanzlerkandidatur manövriert hatte und von der selbst dann, als sie das Amt innehatte, viele Leute glaubten, sie sei da nur als Kanonenfutter, das zwischen den beiden Giganten CDU und SPD verheizt wird, bis sich ein richtiger Kanzler findet. Sie sollte eine der ganz Großen werden.</p><p>Dabei war ihre Regierungszeit wenig von großen Momenten geprägt. Ihr gelang keine Wiedervereinigung, keine Geiselbefreiung, kein Wiederaufbau. Abgesehen von ihrem - wie ich finde, völlig zu Unrecht gescholtenem - "Wir schaffen das" war Merkel selten von Emotionen getrieben, entschied sich selten gegen Sachargumente, sondern meistens für Umsetzbarkeit und Pragmatismus. Ein solcher Regierungsstil birgt wenig Überraschungen, wenig glanzvolle Momente, wenn sich eine scheinbar gegen die Vernunft durchgesetzte Entscheidung als der ganz große Wurf herausstellt. Merkel wurschtelte sich durch, und das heißt nichts Anderes als: Sie sah sich eine Situation lange an - für viele zu lang -, analysierte und entschied sich dann meist für die Lösung, die sich ohnehin abgezeichnet hatte. Mit anderen Worten: Sie hörte auf ihre Beraterinnen. Kein "Basta" eines Gerhard Schröder, kein dampfwalzenartiges Durchziehen eines Helmut Kohl, statt dessen behutsames Verhandeln und nachvollziehbare Beschlüsse. Mittelmaß eben.</p><p>Laschets Problem besteht nicht in seiner Mittelmäßigkeit. Sie besteht in seiner absoluten Unfähigkeit, eine Situation ernst zu nehmen, genauer: zu vermitteln, dass er eine Situation ernst nimmt. Er ist die vollkommene Verkörperung des rheinischen "et hätt noch immer jotjejangen", einer Grundhaltung, die im Positivfall optimistisches Anpacken, im Negativfall fahrlässiges Verkennen von Gefahren bedeutet. Eine Klausur zu verbummeln, ist peinlich genug. Sich dann einfach die Zensuren auszudenken und dabei so doof anzustellen, sogar Studentinnen eine Note zu geben, welche die Klausur gar nicht mitgeschrieben haben, ist ein typisches Beispiel dafür, wie jemand die Lage komplett falsch einschätzt, sich keinen Rat holt, die Sache zu vertuschen versucht und dann leider nicht clever genug ist. Beim stundenlangen Stapfen durch ein Katastrophengebiet sich die Anspannung von der Seele zu lachen, ist vollkommen in Ordnung. Dafür den Moment zu wählen, bei dem im Vordergrund der Bundespräsident zur Nation spricht, deutet ebenfalls auf die komplette Unfähigkeit hin, in ernsten Situationen angemessen zu handeln. Das ist kein Zeichen für Mittelmaß, das ist ein Zeichen für Schönwetterpolitik. So lange alles gut läuft, kann selbst ein Ludwig Erhard das Land regieren, aber in einer Krise sind dann doch eher Leute gefragt, die kompetente, zur Not auch unpopuläre Entscheidungen treffen und für die auch einstehen. Leute wie Adenauer, Schmidt oder - trotz aller stilistischen Unterschiede - Merkel. Sie hatte schneller als viele Ministerpräsidenten bei der ersten Welle der Corona-Pandemie erkannt, dass sich dieses Problem nicht weglächeln lässt und dass wir, wenn wir Menschenleben retten und Bilder wie in Norditalien vermeiden wollen, hart handeln müssen. Ich bin zwar der Meinung, dass durch einen echten, hart durchgezogenen Lockdown mehr erreicht hätte werden können, aber wenigstens war Merkel schon im Krisenmodus, während Laschet allen Ernstes glaubte, millionenfaches Herdenschunkeln im Karneval werde das Virus schon vergraulen. Na gut, wenn ich mir die Idiotenmucke anhöre, die sie da spielen, ist die Vermutung nicht ganz aus der Luft gegriffen.</p><p>Einen mittelmäßigen Kanzler zu haben, sehe ich deswegen nicht als Gefahr an. Einen unfähigen, der dann, wenn Führungsstärke gefordert ist, bei jeder kleinsten Kritik sofort einknickt, hingegen schon.</p><p>Doch so weit wird es wie schon gesagt nicht kommen. Laschet hat inzwischen selbst aufgegeben, für sich zu werben, was bei einem Mann ohne Eigenschaften auch denkbar schwierig ist. Statt dessen warnt er vor dem politischen Gegner. Das aber trägt als Argument nicht. Im Karneval übernimmt das Prinzenpaar je nach Tradition irgendwann zwischen Weiberfastnacht und Karnevalssonntag die Macht im Rathaus, um sie dann zuverlässig am Aschermittwoch wieder zurückzugeben. Gründe für den fröhlichen Putsch gibt es reichlich, und die werden bei der Erstürmung auch wortreich vorgetragen. Wir mögen Narren sein, aber die Anderen sind noch viel schlimmer. Allzu lang trägt diese Argumentation aber nicht. Sie reicht für ein paar kräftige Besäufnisse und etwas Bonbonschmeißen am Rosenmontag. Danach müssen wieder die Profis ran. Die mögen ihre Fehler haben, aber wenigstens sind sie fähig, den Karren selbst dann noch zu fahren, wenn es mehrere Tage lang regnet und die Wege matschig sind. "Wählt mich, denn die Anderen sind noch viel schlimmer" ist sowas wie der argumentative Volkssturm: das letzte Aufgebot, gerade einmal genug, um beim zügig anrückenden Gegner ein "was soll denn das schon wieder?" hervorzurufen, ansonsten aber kein ernsthaftes Hindernis darzustellen. Die Alten wissen, dass diese Strategie nichts bringt, nur die Jungen glauben an solchen Blödsinn, bis auch sie merken, dass sich damit keine Kriege gewinnen lassen.</p><p>Nur der politischen Ausgewogenheit halber: Der "Stoppt-Strauß"-Wahlkampf der SPD oder die Kampagne gegen Stoiber bei dessen Kanzlerkandidatur war keinen Deut besser. Schröder konnte die sicher erscheinende Niederlage auch erst dann abwenden, als er mit Gummistiefeln durchs Oderhochwasser stapfte und sich damit als brauchbare Alternative inszenierte. Wie wir jetzt wissen, bekommt Laschet nicht einmal mehr das hin.</p><p>Armin Laschet, mich interessiert nicht, warum ich die Anderen nicht wählen soll. Ich will wissen, was Sie auszeichnet, und ich kann Ihnen verraten, dass es nicht reicht, so zu lächeln, als wäre Regieren eine Rund-um-die-Uhr-Kappensitzung. Ich bezweifle keinen Moment, dass Sie ein feiner Kerl sind, freundlich, umgänglich und hilfsbereit, aber vom nächsten Bundeskanzler erwarte ich mehr: Konzepte, Strategien, Standfestigkeit, Kompetenz. Ich erwarte nicht, dass Sie auf jede Frage eine Antwort haben - im Gegenteil, solche Leute sind mir suspekt -, aber ich erwarte, dass Sie, wenn Sie allein nicht weiterkommen, sich gute Leute holen, Einwände abwägen und dann eine informierte Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, zu der Sie auch stehen und sie gegen Kritik zu verteidigen bereit sind. Eine Entscheidung, bei der ich mich nicht fragen muss, welcher Wirtschaftslobbyist Ihnen das Gehirn gewaschen und welcher Klüngel die Fäden gezogen hat.</p><p>Wie verzweifelt muss ein Volk sein, das eine komplett abgewirtschaftete Partei, deren monatelang als reiner Zählkandidat geltender Spitzenmann durch Finanzskandale und einen Bürgerkrieg während eines G20-Gipfels diskreditiert ist, inzwischen als aussichtsreiche Option für die Regierung ansieht? Die SPD sollte sich allerdings nichts auf ihre derzeitige Popularität einbilden. Ähnlich wie bei der Schröder-Wahl 1998, bei der die Leute alles wollten, nur nicht vier weitere Jahre Kohl, sympathisieren die Wählerinnen mit der SPD nicht etwa, weil sie in den vergangenen Jahren so überzeugende Arbeit geleistet hat, sondern weil ihr Spitzenkandidat sich nicht ganz so deppert anstellt wie die Lachnummer von der CDU oder die Klassensprecherin der Grünen.</p><p>Das Phänomen ist jedoch nicht neu. Schon seit Jahren treten zu den Wahlen überwiegend Langweiler an, weichgewaschene, glattgebügelte Nichtse mit maximaler Massenkompatibilität. Krawallbrüder wie Boris Palmer oder Alice Weidel sind Ausnahmen, nicht die Regel. Große Figuren wie Kurt Biedenkopf gibt es entweder nicht mehr, oder ihr Ausscheiden aus der Politik ist wie bei Winfried Kretschmann absehbar. Wir können das bedauern, als Zeichen einer langsam zerbröselnden Demokratie ansehen. Vielleicht ist es aber auch gut, dass die Zeit der Platzhirsche vorbei ist, dass auch schlechte Rednerinnen wie Angela Merkel zuverlässig Wahlen gewinnen und dass ihre drei möglichen Nachfolgerinnen wie von der Resterampe wirken. Vielleicht ist es kein unglücklicher Zufall, dass kein strahlender Führer uns in eine glorreiche Zukunft zu leiten verspricht. Vielleicht ist genau die Regentschaft des Mittelmaßes ein Zeichen einer stabilen Demokratie.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-9507200084839124192021-07-17T17:04:00.004-07:002021-07-21T00:28:17.608-07:00Lasch et<p>Das war's. Der Wahlkampf ist gelaufen. Annalena Baerbock wird die nächste Kanzlerin. Die CDU kann viel Geld sparen, indem sie ihre Wahlkampfteams nach hause schickt. Vielleicht lohnt es sich, zu versuchen, noch ein paar Prozentpunkte zu retten, aber die Hoffnung auf eine weitere CDU-Kanzlerschaft kann die Partei aufgeben. Nicht mit Armin Laschet. Nicht mit einer Witzfigur, über die exakt einer lacht: er selbst.</p><p>In Wahlkämpfen entscheiden weniger die nüchternen Sachargumente, es entscheiden Emotionen. Denken Sie daran, wie Schröder in Gummistiefeln einen schon verloren geglaubten Wahlkampf doch noch für sich entscheiden konnte. Etwas Ähnliches hatte Laschet auch vor. Statt sich auf einer CSU-Klausur von der bayerischen Schwesterpartei auszählen zu lassen, weil er sich mit aller Macht gegenüber dem Selbstdarsteller Söder durchsetzen musste, der über ein Jahr lang als Krisenmanager in der Coronakrise punkten konnte, nutzte er die Gunst der Stunde, um sich in die Flutkatastrophengebiete Nordrhein-Westfalens zu begeben und dort den fürsorglichen Landesvater zu mimen. Das war im Kern auch eine sehr gute Idee, und wahrscheinlich hätte das Wahlkampmanöver funktioniert, hätte Laschet nicht in einigen wenigen Sekunden der Unachtsamkeit alles verspielt.</p><span><a name='more'></a></span><p>Es ist nichts Ungewöhnliches, auch in ernsten und schlimmen Situationen zu lachen. Das passiert immer wieder, weil sich über die Stunden und Tage Spannung aufbaut, die sich irgendwann entlädt. Menschen gehen unterschiedlich mit Trauer um, und nicht immer ist der Umgang logisch. Niemand hätte es Laschet verübelt, wenn er in der langen Zeit, die er mit Leid, Elend, Tod und Zerstörung konfrontiert war, an passender Stelle zur Auflockerung auch eine witzige Bemerkung fallen lässt. An passender Stelle. Nicht dann, wenn der Bundespräsident vor laufenden Kameras darüber spricht, wie sehr ihm diese Schicksale nahegehen.</p><p>Laschet ist seit Jahrzehnten im Geschäft. Sein Hauptargument gegenüber seiner gefährlichsten Konkurrentin besteht genau in der Erfahrung, die er ihr voraus hat, oder sagen wir besser: haben sollte. So ein Fehler, wie sich beim Herumblödeln filmen zu lassen, während das eigene Staatsoberhaupt den Ernst der Lage beschreibt, wäre selbst der sich mit der diplomatischen Sensibilität eines Polizeiräumkommandos agierenden grünen Spitzenkandidatin nicht passiert.</p><p>Es ist egal, worüber gesprochen wurde, worüber er gelacht hat. Die paar Sekunden, in denen Steinmeier redete, hätte Laschet sich beherrschen müssen. Statt dessen verbreiten sich die Aufnahmen der im Hintergrund feixenden rheinischen Frohnatur und rufen eine ähnlich katastrophale Öffentlichkeitwirkung hervor wie seinerzeit die Bilder von George Bush jr., als er sich mit einem <a href="https://www.usnews.com/news/the-report/articles/2015/08/28/hurricane-katrina-was-the-beginning-of-the-end-for-george-w-bush">Hubschrauber</a> über das im Wasser versunkene New Orleans fliegen ließ. Da fragt niemand mehr über die konkreten Umstände und Hintergründe. Die Bilder sprechen für sich. Sie verbreiteten sich viral in den sozialen Medien, und die üblichen Berufsempörten stürzten sich hysterisch schreiend auf das zwanzigsekündige Video. Auf Sachebene hatten sie Laschet nicht in Bedrängnis bringen können. Nun jedoch haben sie die emotionale Keule, welche Laschets Genick brechen wird. Es ist Wahlkampf, da ist Profilierung wichtiger als die Leben Tausender, deren Existenz ein einer Nacht fortgespült worden war. Wenn es eine Geste gibt, die noch massiveres Desinteresse an menschlichen Schicksalen als Laschets dümmliches Grinsen ausdrückt, sind es die Tweets, in denen jedes Pixel der Filmaufnahmen analysiert wird, um mit einem vor Moral besonders triefenden Tweet ein paar Likes abzuräumen.<br /></p><p>Wäre Laschet dieser Publicity-Fehler irgendwann im März oder April unterlaufen, hätte er die Scharte vielleicht noch auswetzen können, aber Mitte Juli, knapp zwei Monate vor der Wahl ist es zu spät. Die überschwemmten Gebiete werden noch lange die Schlagzeilen dominieren, und ebenso lang wird Laschet sich bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit fragen lassen müssen: Na, Armin? Spaß gehabt? Ist schon lustig, wie die Leute um einen herum verrecken, wenn man jederzeit in den Bundeswehr-Helikopter steigen und sich zum schön trockenen eigenen Häuschen in Aachen fliegen lassen kann. Hach, Reichsein ist was Schönes.</p><p>Natürlich denkt Laschet nicht so - wenn er denn mal denkt. Das interessiert aber niemanden. Was interessiert, sind die Bilder. Umgekehrt könnte sich jetzt herausstellen, dass Baerbock schon beim Abitur vom Nachbarn abgeschrieben und während ihres Studiums nicht einmal ihre Seminararbeiten selbst verfasst hat. Das will im Moment niemand wissen. Was die Öffentlichkeit derzeit bewegt, ist die Erkenntnis: Die Grünen predigen seit ihrer Parteigründung die Gefahren des Klimawandels. Extremwetterlagen, Stürme, Überschwemmungen, das alles haben sie schon vor 40 Jahren prophezeit, und sie lagen nur insofern falsch, als dass ihre Szenarien früher eintraten als von ihnen befürchtet. Möglicherweise ist es weniger wichtig, ob Daimler schöne Gewinne verzeichnet. Vielleicht geht es erst einmal ganz platt um unser Überleben. Wir haben uns über das ganze Moralisieren und die vielen Verbote mokiert, die von den Grünen gefordert werden, aber es sieht so aus, als hätten sie recht.</p><p>So doof kann sich Baerbock gar nicht anstellen, dass sie diese Traumvorlage in der entscheidenen Wahlkampfphase nicht sicher verwandelt.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-14306438175762339772021-07-17T02:42:00.003-07:002021-07-21T00:27:49.478-07:00Toll<p>Damals, in den Achtzigern, da war die Welt noch in Ordnung.</p><p>Natürlich war sie nicht in Ordnung. Wir hatten sauren Regen, Helmut Kohl, den Kalten Krieg, der jeden Moment ein Atomkrieg werden konnte, und wir hatten Rudi Carrell.</p><p>Rudi Carrell war nicht wirklich schlimm, er war eher sowas die der deutsche Disney: omnipräsent, solide und ein bisschen langweilig. Wann immer das deutsche Fernsehen eine familientaugliche Unterhaltungssendung brauchte, in der es was zu Lachen gab, musste der freundliche Niederländer mit der Barrettfrisur auf die Bühne. Er war lustig, aber nicht zu lustig. Sein Humor war harmlos und leider auch vorhersagbar, mit anderen Worten: ideales Familienprogramm.</p><p>Ein Wort mochte der Moderator besonders gern: toll, oder wie er es mit seinem leicht nuschligen Akzent gerne sagte: "doll". "Doll" war das Universalattribut der Anerkennung, welches Carrell hervorzukramen pflegte, wenn er versuchte, aus seinen meist zutiefst bürgerlichen Gästen interessante Details ihres Lebens herauszukitzeln. Die Büroangestellte hat drei Katzen? "Oh, daschischdoll." Der Lohnbuchhalter einer Kartonagenfabrik sammelt Bierdeckel? "Daschischdoll." Die passionierte Skatspielerin hat die Kreismeisterschaftgewonnen? "Daschischunglaublischdoll."</p><span><a name='more'></a></span><p>Sie merken schon, "toll" ist ein Wort, das nicht gewählt wird, weil es einen Sachverhalt besonders präzise beschreibt. Es ist eher eine Platzhaltervokabel für: "Mir fällt gerade nichts Besseres ein, die Leute erwarten von mir irgendein Wort der Anerkennung, aber leider gibt es nichts Konkretes, was ich hervorheben könnte - weil es wirklich nichts gibt, weil ich mich nicht informiert habe oder weil es mich einfach nicht besonders interessiert. Also sage ich etwas Unverfängliches."</p><p>Gegen das Wort an sich ist nichts einzuwenden, nur gegen dessen inflationären Gebrauch gerade im politischen Bereich. Da sprechen die Grünen von einem "<a href="https://www.sueddeutsche.de/politik/gruene-wahlkampf-plakate-1.5349794">tollen Spitzenduo</a>". Christian Lindner hat auf einem "<a href="https://www.facebook.com/lindner.christian/photos/a.180235568657688/1299507186730515/?type=3">tollen Parteitag</a>" ein "<a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/lindner-mit-93-prozent-als-fdp-vorsitzender-bestaetigt-17341423.html">tolles Team geformt</a>". Friedrich Merz betont, dass wir in einem "<a href="https://taz.de/Christian-Linder-und-Friedrich-Merz/!5726730/">tollen Land</a>" leben. SPD-Politikerinnen schwärmen von einem "<a href="https://jutta-steinruck.de/fazit-landtagswahl/">tollen Wahlkampf</a>" und die "Unternehmensdemokraten" von "<a href="https://twitter.com/ud_berlin/status/1406912180444880896">tollen Podiumsgästen</a>". In eher linken Kreisen ist ein Podium dann "toll" besetzt, wenn es ungeachtet jeder fachlichen Qualifikation gelungen ist, eine Homosexuelle, eine Trans-Person, eine "Person of Color" und maximal ein sich als männlich identifizierendes Wesen auf die Bühne zu bekommen, das aber keinesfalls älter als 30 sein darf, weil sonst die Veranstaltung wieder patriarchal von alten weißen Männern dominiert wird.</p><p>Überboten wird die Leervokabel "toll" allenfalls noch von "spannend". Google liefert knapp 83.000 Treffer auf "spannende Diskussion" und sagenhafte 968.000 für "spannende Themen". Im Gegensatz zu "toll" hat "spannend" sogar eine Bedeutung. "Spannung" tritt dann auf, wenn es irgendwo Unterschiede gibt. Elektrische Spannung ist die Ladungsdifferenz zweier Pole. Mechanische Spannung beschreibt das Wirken unterschiedlicher Kräfte in verschiedene Richtungen auf einen Punkt. Gesellschaftliche Spannungen herrschen zwischen Arm und Reich, links und rechts sowie verschiedenen religiösen Auffassungen. Es geht also um Konflikte, die in irgendeiner Weise aufgelöst werden müssen. Das kann weit variieren, angefangen bei der für Schülerinnen eher schwer zugänglichen Spannung, in der sich Goethes Werther befindet bis hin zur etwas massenkompatibleren Spannung der beiden Antagonisten in "Stirb langsam".</p><p>So, und jetzt überlegen Sie einmal, wann Sie zuletzt bei einer Podiumsdiskussion Spannung erlebt haben, wann Sie nägelkauend einem Vortrag gelauscht haben, weil er so spannend war oder wann sie um ihre ach so spannende Kreistagskandidatin gebangt haben. Merken Sie's? Das war so gut wie nie "spannend", viel öfter "interessant", "horizonterweiternd", "überraschend", "meinungsverändernd", "kenntnisreich", "anregend" oder "die eigene Haltung herausfordernd". Das soll nicht heißen, dass Sie sich aus den von mir vorgeschlagenen Alternativen eine neue Lieblingsvokabel heraussuchen sollen, zumal einige davon auch schon reichlich ausgelutscht sind. Das soll heißen, dass Sie die rund <a href="https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Zum-Umfang-des-deutschen-Wortschatzes">12.000 Begriffe</a> Ihres aktiven Wortschatzes auch nutzen und sich nicht hinter Nichtaussagen verstecken. Wenn Sie Ihr Wahlkampfteam schätzen, speisen Sie es nicht mit der gleichen Vokabel ab, mit der Sie Ihre Lebenspartnerin, Ihre Partei, Ihr Land und die Qualität der Pizzeria an der Ecke beschrieben haben. Das sind Menschen, die wochenlang (schlechtbezahlt) wenn überhaupt viele Stunden pro Tag mit dem Verteilen von Flugblättern, Plakatieren und Standbetreuung verbringen. Irgendwas muss doch speziell dieses Team auszeichnen, was mehr rechtfertigt als ein pauschales "toll". Das gebietet allein schon der Respekt.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-87556742412686284622021-07-04T05:03:00.001-07:002021-07-21T00:26:51.324-07:00Grüne Dünnhäutigkeit<p>Das mit dem Wahlkampf ums Bundeskanzlerinnenamt müssen die Grünen noch üben.</p><p>Zugegeben, es ist in den 40 Jahren nach Parteigründung auch das erste Mal, da darf man sich etwas deppert anstellen. Eigentlich sollte mich eher beunruhigen, wie wenig Fehler ihnen trotz fehlender Übung unterlaufen. Daran sehe ich, wie bürgerlich-spießig die Partei inzwischen ist. Früher, da hätte sich bei so guten Umfragezahlen längst irgendein siegestrunkener Depp zu Wort gemeldet und einen Benzinpreis von 5 Mark, den Ausstieg aus der NATO oder irgendwas Anderes gefordert, was inhaltlich gar keine schlechte Idee, aber leider auch perfekt geeignet ist, Leute zu verschrecken, die zwar Änderungen wollen, aber bitte in Nanoschritten. In die Falle mit dem Benzinpreis zum Beispiel wollen sie dieses Mal nicht tappen, indem sie vorrechnen, dass sie zwar höhere Steuern wollen, sie aber zurückzahlen. Das ist natürlich Quatsch. Keine Regierung seit Gründung der Bundesrepublik hat jemals Steuern erhoben, um die dann wieder zurückzuzahlen, und selbst wenn sie es täte: Hat jemand mal nachgerechnet, wie viel des eigenommenen Geldes am Ende wieder zurückgegeben werden soll? Im Zweifelsfall bietet eine Payback-Karte bessere Rendite.</p><p>Interessanterweise spielt diese Diskussion im Moment aber keine Rolle. Die Leute haben geschluckt, dass unter jeder Regierung deutlich höhere Energiekosten auf sie zukommen und dass die Grünen mit ihren Forderungen auch nicht weit über denen der Union liegen. Das stört also niemanden. Was die Öffentlichkeit viel mehr bewegt, ist die B-Note der Kanzlerkandidatin.</p><span><a name='more'></a></span><p>Dabei hatten die Grünen einen Traumstart hingelegt.Während die Union die Wahl zwischen einem über Leichen gehenden Selbstdarsteller und einem aussagelosen Gute-Laune-Bären hatte, die SPD gar nicht erst versuchte, einen brauchbaren Kandidaten auszugraben, weil inzwischen dem Letzten klar ist, dass nach Jahrzehnten der Selbstdemontage die Fünf-Prozent-Hürde ein wesentlich akuteres Thema als das Kanzleramt darstellt, standen die Grünen vor dem Luxusproblem, zwei gleichermaßen vorzeigbare Optionen zu haben und sich entscheiden zu müssen, welches Narrativ besser zündet.</p><p>Weniger verklausuliert ausgedrückt: Habeck wusste, wenn Baerbock die <a href="https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-06/saarland-landesparteitag-gruene-buendnis-saar-angefechtung-landesliste-verstoesse-bundestagstagswahl">Frauenkarte</a> zieht, sticht sie alle anderen, und wer in der Partei auch nur den Hauch einer Zukunft haben will, ist gut beraten, das Spiel mitzuspielen und sich so zu verhalten, als sei die Wiederkunft des Messias ein Klacks zu Baerbocks Kanzlerkandidatur.</p><p>So geschah es auch. Im öffentlichen Freudentaumel störte sich niemand daran, dass die Kandidatenkür mit der Entscheidungstransparenz der chinesischen KP stattfand. Im Vergleich zur Resterampe der beiden Konkurrenzparteien konnte Baerbock gar nicht anders als glänzen. Für ein paar Tage sah es so aus, als müssten die Grünen einfach nur ein paar Wochen abwarten und sich dann in aller Ruhe aussuchen, wem sie das Mitregieren anbieten wollen.</p><p>Alles schien perfekt choreografiert und mit der Professionalität eines US-Wahlparteitags in Szene gesetzt - bis sich die Grünen Fehler auf absolutem Anfängerniveau leisteten.</p><p>Einfach gesagt war ihnen einfach nicht in den Sinn gekommen, jemand könnte etwas gegen ihre Spitzenkandidatin haben. Völlig blind von der Überzeugung der eigenen moralischen Überlegenheit hatten sie vorausgesetzt, jedes politisch denkende Wesen sänke angesichts so klarer Argumente automatisch in die Knie, um dem Jubelchor mit einzustimmen.</p><p>So funktionieren Demokratien aber nicht. Sie leben vielmehr davon, dass gerade bei der Neubesetzung hoher politischer Ämter genau hingesehen wird. Ist der Posten erst einmal verteilt, mag es einen gewissen Mangel an Experimentierfreude geben, aber bis es so weit ist, müssen sich die Aspirantinnen Zweifel an ihrer Göttlichkeit gefallen lassen.</p><p>Diese Zweifel drehen sich nicht unbedingt um sachliche Fragen. Ich erinnere nur an die peinlichen Rollstuhlwitze über Schäuble oder das Herumgemäkel an Merkels Frisur. Oft sind solche Sticheleien das Letzte, was einem einfällt, wenn die Argumente ausgegangen sind und es nur darum geht, ob sich das Objekt des Spotts provozieren lässt. So widersinnig dies auf den ersten Blick erscheinen mag: Derartige Angriffe müssen sein, denn zur Führungsqualität zählen nicht nur Sachargumente, sondern auch die Fähigkeit, unter Druck die Nerven zu behalten. Hier staucheln die Grünen derzeit.</p><p>Es begann mit Stümpereien, die ich sonst nur in Bewerbungsschreiben auf Praktikumsstellen sehe. Weil die Biografie zu diesem Zeitpunkt wenig Bemerkenswertes vorzuweisen hat, werden Banalitäten zu Sensationen gepimpt. Hast du schon mal aus dem Urlaub eine Ansichtspostkarte geschickt? Schreib: "umfangreiche Auslandserfahrungen im internationalen Logistikgewerbe". In wie vielen Sprachen kannst du "guten Tag" sagen? Schreib: "beherrscht fließend Spanisch, Englisch, Italienisch und Polnisch". Hast du deine Tochter zum Brötchenkaufen für die Geburtstagsfeier geschickt? Schreib: "Führungsposition mit Personal- und Budgetverantwortung im Eventmanagement". Nichts davon ist gelogen, es streckt die Wahrheit nur ein wenig.</p><p>In normalen Bewerbungsverfahren stört das nicht. Wir alle wissen, wie solche Texte zu lesen sind und filtern sie automatisch auf ein realistisches Maß. Am Ende zählt ohnehin nur, was die Bewerberin im Alltagsgeschäft liefert. Sollte sie an den entscheidenden Stellen gelogen haben, fällt das auf, und die nicht entscheidenden prüft ohnehin niemand. Genau für solche Realitätsabgleiche sind Probezeiten da.</p><p>Nun sieht das Grundgesetz bekanntlich keine Probezeiten für Bundeskanzlerinnen vor, Umso genauer untersucht die Öffentlichkeit die Lebensläufe im Vorfeld. Baerbocks Herumgepose wäre bei jeder Bewerbung in einer Firma glatt durchgegangen, aber eben nicht beim Kandidieren ums mächtigste Amt einer Industrienation. Da kann sie noch so oft wiederholen, wie sehr "sie das selbst am meisten" geärgert hat - neben der angekratzten Glaubwürdigkeit bleibt vor allem der Makel fehlender Professionalität.</p><p>Auf der anderen Seite ist mir Baerbocks Biografie relativ egal. Es steht so oder so nichts drin, was mich positiv oder negativ beeindruckt hat. Zumindest aus meiner Sicht war die ganze Flunkerei völlig überflüssig. Bedenkenswert für mich ist, dass ihr ein derartiger Anfängerfehler überhaupt unterläuft. Wenn sie schon nicht einmal einen ordentlichen Lebenslauf schreiben kann, was kann sie dann noch nicht?</p><p>Bücherschreiben, wie sich herausstellt. Sagen ihre Kritiker. Ich halte das für Blödsinn.</p><p>Seit den republikanischen Anfangstagen schreiben Aspiranten mehr oder weniger lesenswerte Pamphlete, in denen sie darlegen, wie tolle Hechte sie doch sind und was hier alles anders wird, wenn sie erst einmal an der Macht sind. So auch Baerbock. Jetzt hat sich ein Plagiatsjäger, über dessen Kamin schon einige Trophäen hängen, nicht entblödet, mit den gleichen Kriterien, die er bisher zum Auseinanderpflücken von Dissertationen ansetzte, Baerbocks Buch zu zerpflücken, und was er da gefunden hat, reichte meiner Einschätzung nach selbst bei Doktorarbeiten nicht aus, sich mehr als eine Rüge einzufangen. Das Wichtigste aber ist: Hier geht es nicht um eine wissenschaftliche Facharbeit, bei der jede Aussage entweder die eigene oder auf eine präzise benennbare Quelle rückführbar sein muss, sondern "nur" um ein politisches Spitzenamt. Da muss gar nicht jeder originelle Gedanke von ihr stammen, es reicht, wenn sie ihn teilt. Es ist natürlich nicht falsch, zu erfahren, ob eine Passage von den Webseiten der Bundeszentrale für politische Bildung oder irgendwelchen Schriften der Grünen stammt, an deren Zustandekommen Baerbock im Zweifelsfall ebenfalls Anteil hatte - ohne dass im Gegenzug ihre Beiträge als Zitat gekennzeichnet worden wären. Wichtig für das Verständnis des Buchs oder der Einschätzung Baerbocks politischer Agenda ist es jedenfalls nicht. Noch einmal: Sie will Kanzlerin werden, nicht Doktor. Ihr Buch wendet sich nicht an eine Handvoll Akademikerinnen, die Lust dabei empfinden, sich durch endlose, verquastete Schachtelsätze jenseits der Lesbarkeitsgrenze zu quälen. Es wendet sich an Millonen Wahlberechtigte, die eine Entscheidungshilfe für die kommende Bundestagswahl haben möchten. In meinem Regal stehen hunderte Bücher, viele davon Sachbücher, einige davon politisch. Keines davon zitiert auch nur ansatzweise so sauber wie eine Doktorarbeit. Niemand regt sich darüber auf.</p><p>Dass meine Sympathien für Baerbock überschaubar sind, sollte klargeworden sein. Sie und die Grünen sind für mich nicht gänzlich unwählbar. Das ist aber schon alles, wenn auch viel mehr, als ich über die meisten anderen Parteien sagen könnte. Egal, wie im Herbst meine Wahlentscheidung ausfallen sollte - Baerbocks aufgeblähter Lebenslauf und ihr Buch haben darauf keinen Einfluss, wohl aber die Art, wie sie und ihre Mitstreiterinnen mit Kritik umgehen. Von "Rufmord" ist da die Rede, von einer "Kampagne". Ich warte noch darauf, dass jemand von "Gotteslästerung" spricht, denn als genau das empfindet die Partei die Ruchlosigkeit, mit welcher der Pöbel der Spitzenkandidatin die Gefolgschaft verweigert. Natürlich ist es nicht nett, wie sie gerade behandelt wird, aber so erging es bislang allen, die sich um dieses Amt bewarben. Unter Feuer zu stehen, nicht wie ein getretener Dackel herumzukläffen, sondern souverän zu bleiben - darin zeigen sich Kanzlerqualitäten. Oft entscheiden nicht die großen Lebensentwürfe darüber, wer die Wahl gewinnt. Mitunter reicht ein <a href="https://www.sueddeutsche.de/politik/peer-steinbrueck-stunk-mit-dem-stinkefinger-1.1769511">Mittelfinger</a>.<br /></p><p><br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-24072027264617181482021-06-09T22:50:00.000-07:002021-06-09T22:50:29.559-07:00Schutz ja, aber nicht für Arme<p>Eines muss ich der sich ohne erkennbaren Anlass "sozialdemokratisch" nennenden Partei lassen: Egal, wie niedrig die Ansprüche liegen - und sei es bündig mit dem Estrich - die SPD schlängelt souverän drunter durch. Dabei gelingt ihr das Kunststück, selbst Lachnummern wie Jens Spahn souverän und kompetent erscheinen zu lassen. Jüngstes Beispiel ist der Versuch, einen 15 Monate alten Fehlkauf als Wahlkampfmunition zu missbrauchen und Spahn als menschenverachtenden Zyniker hinzustellen. Beeindruckend ist hierbei, wie die SPD aus einer nahezu lückenlosen Kette von Fehlentscheidungen und Managementkatastrophen ausgerechnet den einen Punkt herauspickt, der sich am wenigsten für einen Skandal eignet. Der Vorwurf an den Minister lautet: Im März des Jahres 2020 habe der Minister für einen Milliardenbetrag aus China Masken liefern lassen, die sich bei näherer Prüfung als ungeeignet erwiesen. Daraufhin habe er überlegt, sie an soziale Einrichtungen und Obdachlose zu verschenken, oder wie es seine Kritiker ausdrücken: Die Masken taugen zwar nichts, aber für ein paar Hartz-IV-Empfänger reicht es.</p><span><a name='more'></a></span><p>Was diejenigen, die mit vor Empörung bebender Stimme daraus einen Skandal zu konstruieren versuchen, dabei übersehen, ist das Datum. März 2020. Für die, deren Erinnerungsvermögen weiter reicht als das eines <a href="https://www.dw.com/de/von-wegen-dumm-warum-wir-fische-untersch%C3%A4tzen/a-40236716#:~:text=Wissenschaftler%20haben%20herausgefunden%2C%20dass%20sich,einmal%20auf%20ihn%20hereingefallen%20sind.">Goldfischs</a>: Das war der Monat des ersten Corona-Lockdowns. Die Bundesrepublik schlidderte praktisch unvorbereitet in diese Situation. Es mangelte an allem, selbst an Massenartikeln wie Gesichtsmasken. Die Leute banden sich Halstücher und Schals vor die Nase. Die etwas Geschickteren nähten sich selbst irgendwelche Stoffe zurecht. In den Hackspaces liefen 3D-Drucker im Dauerbetrieb, um für Krankenhäuser und Arztpraxen "Face Shields" zu drucken, im Prinzip vor dem Gesicht hängende Plastikfolien, um sich wenigstens etwas vor Tröpfcheninfektionen zu schützen. Die Haltung war: Egal, wie schlecht diese improvisierten Masken schützen, alles ist besser als nichts. Behalten Sie diesen Satz im Kopf.</p><p>Hemdsärmligkeit war angesagt, und wenn Jens Spahn eins kann, ist es: Erst handeln, dann denken. Der zweite Teil kann aus Zeitgründen gelegentlich auch wegfallen. Die Aufgabe war klar: Es mussten Masken her. Alles schrie nach der Hilfe des Staats, der gefälligst welche herhexen sollte. Also begab sich der Minister auf die Suche, wurde in China fündig - zu nicht gerade günstigen Konditionen, aber immerhin - und klickte auf "bestellen". Später stellte sich heraus, dass er besser einmal die Produktbeschreibung gelesen hätte. Dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass den Masken die den Einsatz in Krankenhäusern nötigen Prüfsiegel fehlten. So aber spielte sich wahrscheinlich eine Szene ab, die aus "<a href="https://www.youtube.com/watch?v=y1O71OF_kYs&t=135s">Papa ante portas</a>" stammen könnte: Im Foyer des Bundesgesundheitsministerium stapelten sich Masken, für die niemand Verwendung hatte und die jetzt wieder weg sollten.</p><p>Nun war "niemand" als Mengenangabe der Maskenbedürftigen nicht ganz korrekt. Bei genauerem Hinsehen belief sich die Zahl auf ungefähr 80 Millionen, nämlich all denen, die nicht in Krankenhäusern arbeiten, sondern sich einfach im Alltag schützen wollen und dabei mehr schlecht als recht improvisierten. Egal, was da aus China geliefert worden war, es war im Zweifelsfall um Klassen besser als die selbstgeschneiderten Gesichtstücher. Vor allem war es besser als nichts, was ziemlich genau der Zahl an Schutzmasken entsprach, die sozial Schwachen zur Verfügung stand. Die SPD versucht jetzt, es so hinzustellen, als habe man Müll an Obdachlose abgeben wollen. Umgekehrt ergibt es Sinn: Die Masken waren zwar nicht für den Klinikbetrieb, wohl aber für den Alltag geeignet, und es gab die Überlegung, sie an Leute abzugeben, die sich anders kaum hätten schützen können. Die sich mir stellende Frage lautet: Warum blieb es nur bei den Überlegungen?</p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-984033213807296932021-04-10T10:04:00.007-07:002021-04-11T03:08:39.112-07:00Pandemiebekämpfung durch Herumposen<p>Dass CDU und SPD in den letzten Jahrzehnten bis zur Ununterscheidbarkeit zusammengerückt sind, ist keine besonders hellsichtige Erkenntnis. Dass die Nähe so weit geht, dass die CDU sogar in Sachen Stümperei der SPD den Rang abläuft, überrascht mich dann aber doch.</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Viele Jahre hatte ich zwar nicht Merkels Politik, wohl aber ihren Killerinstinkt bewundert. Ähnlich wie Kohl hatte sie dafür gesorgt, dass um sie herum ihr niemand gefährlich wurde. Im Gegensatz zu Kohl walzte sie dabei aber nicht wie eine Horde wildgewordener Nashörner alles platt, sondern sorgte dafür, dass sich ihre Gegner selbst ins Abseits manövrierten. Besonders geschickt fand ich ihre Fähigkeit, Regierungspartner totzukoalieren. Konnte man bei der ersten von ihr geführten Großen Koalition noch wirklich von einer reden, war nach deren Ende die SPD schon deutlich geschrumpft. Zeit, sich der FDP anzunehmen, die während Schwarz-Gelb ähnlich implodierte wie zuvor die SPD. Die wiederum stürzte sich alle Warnsignale ignorierend wie ein Dackel auf die Fleischwurst in die nächste schwarz-rote Koalition, verlor weitere fünf Prozent und sagte sich 2017: "Super, das ging schon zweimal richtig daneben, lass uns gleich noch einmal ins Verderben stürmen." Im Moment sehen Umfragen sie zwischen 15 und 18 Prozent.</p><p>Über Jahre verstand es Merkel, sämtliche Erfolge ihrer Regierung als ihren Verdienst zu verkaufen, während alle Peinlichkeiten aufs Konto des Koalitionspartners gingen. Zugegebenermaßen war das bei einer von Machtgier und grenzenloser Selbstüberschätzung getriebenen Partei wie der SPD auch nicht weiter schwierig. Die verwechselte "staatstragend" mit "Grundrechte und Sozialstaat bekämpfend" und legte, was peinliche Parteivorsitzende und Spitzenkandidaten angeht, eine beeindruckende Abwärtsspirale der Unwählbarkeit hin. Solche Fehler, sollte man meinen, passieren der CDU nicht.</p><p>Doch.</p><p>Die CDU schliddert gerade in genau die Situation, die sie nach dem Ende der Ära Kohl schon einmal durchleiden musste: Nach einer übermächtigen und über Jahre - fast zu - erfolgreichen Führungsfigur sind alle fähigen Nachfolgerinnen verschlissen. Was bleibt, ist eine Mischung aus Neofaschismus, Korruption und bestenfalls Mittelmaß. Annegret Kramp-Karrenbauer hat innerhalb weniger Wochen das Kunststück vollbracht, von einer über die Parteigrenzen hinaus als mögliche Kanzlerin respektierten Spitzenpolitikerin zur absoluten Lachnummer zu verkommen. Ihre Nachfolge trat Armin Laschet an, der eine ganz ähnliche Karriere hinlegte, nur dass er bereits deutlich niedriger ansetzte. Ich gebe zu, im Rheinland mag es als eine respektable Leistung gelten, das Osterwochenende nicht sturzbetrunken auf der Couch, sondern mit etwas zu verbringen, was dem spaßverliebten Rheinländer ohnehin suspekt ist, nämlich Nachdenken. Den Rest der Republik, wo man das Abitur nicht schon dafür bekommt, beim Karneval nicht gänzlich unter die Räder geraten zu sein, beeindrucken derartige Ankündigungen nur mäßig, insbesondere dann, wenn das einzige Ergebnis im Wort "Brückenlockdown" besteht. Wenn Laschet nicht innerhalb der nächsten Tage einfällt, wie er durch die Republik eilen und durch Handauflegen Leute heilen kann, darf er sich das Thema Kanzlerschaft von den glücklich strahlenden Wangen putzen.</p><p>Am Beispiel des "Brückenlockdowns" sehen wir aber auch die Verzweiflung der politisch Verantwortlichen. Sie haben kaum noch mehr Ideen, und die wenigen verbliebenen Einfälle versanden im Kompetenzgerangel. Zwischen März und September 2020 fiel es nicht so sehr auf, wie kaputt die regelmäßigen Provinzfürstenrunden mit der Kanzlerin waren. Damals war es fast egal, was beschlossen wurde, weil zu diesem Zeitpunkt noch eine relativ ungefährliche Version des Coronavirus im Umlauf war, die sich mit einfachen Stoffmasken, Abstandhalten und vor allem Begegnungen an der frischen Luft in Zaum halten ließ. Da konnte auch eine sinnvolle Idee komplett zerredet werden, ohne dass die Infektionszahlen gleich ins Unkontrollierbare stiegen. Dann aber kam der Herbst, die Leute hielten sich wieder mehr drinnen auf, die Infektionszahlen stiegen, doch die Strategien blieben die gleichen. Die Ministerpräsidentinnenkonferenz befand sich teils im Streit um Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur, teils in Vorbereitung diverser Wahlkämpfe und ließ sich wenig von epidemologischen Aspekten, dafür umso mehr von der Frage leiten, welche Maßnahme wohl mehr Stimmen brächte. Ui, mein Konkurrent ist für härtere Beschränkungen? Dann muss ich für mehr Öffnungen sein, egal, ob das sinnvoll ist oder nicht, ich muss mich irgendwie abgrenzen. Als Ergebnis haben wir seit Wochen bundesweite Inzidenzwerte über 100, und der einzige Grund, warum das niemanden mehr aus der Ruhe bringt, liegt darin, dass wir 100 als die neue 50 definiert haben. Zur Erinnerung: 50 ist der Wert, ab dem die Gesundheitsämter die Verfolgung aufgeben.</p><p>Die Meisten sind zermürbt, viele sogar aggressiv. Ich muss nur in meine Twitter-Timeline sehen, deren Herumschrei-Niveau selbst für Twitterverhältnisse ungewöhnlich hysterisch ist. Kaum noch jemand schreibt etwas Lustiges, statt dessen dominieren immer wütender werdende Postings, es sei Zeit für einen harten Lockdown.</p><p>Doch der wird nicht kommen.</p><p>Egal, wie laut ihr herumschreit, es wird keinen Lockdown geben. Was wir seit einigen Monaten haben, ist kein Lockdown, es ist eine Marktbereinigungsmaßnahme - hart genug, um kleine Händler und Hotels in die Pleite zu treiben, aber locker genug, damit die großen Ketten und die Industrie überleben. Die Menschen assoziieren mit dem Begriff "Lockdown" vor allem eins: schwachsinnige, widersprüchliche und vor allem unwirksame Regeln. Das Zeitfenster, in dem ein wirklich harter Lockdown durchsetzbar gewesen wäre, ist längst vorbei, und selbst die noch aktiven Maßnahmen werden falsch aufgefasst. Allein schon die Frage, ob "man sich noch treffen dürfe" zeigt ein grundfalsches Verständnis. Es geht nicht um das Einhalten von Vorschriften, es geht um das Eindämmen einer Pandemie. Ich kann unter strengster Einhaltung der Vorschriften an einem Nachmittag viele Dutzend Leute infizieren, indem ich sie alle nacheinander besuche. Das waren jedes einzelne Mal zwei Haushalte, nur dass einer davon die Krankheit einmal quer durchs Dorf geschleppt hat. Ich bin keine Virologin, aber ich kann versichern: Das Virus liest keine Verordnungen und denkt sich: "Oh, da hält sich einer an die Regeln, auch wenn er sie komisch auslegt, da darf ich jetzt nicht anstecken."</p><p>Die Coronabekämpfung ist seit Wochen reines Schaulaufen. Kuschelregeln werden umetikettiert, um immer sagen zu können: "Was wollt ihr eigentlich? Wir haben doch einen Lockdown, vielleicht sogar bald einen Brückenlockdown. Der ist noch härter, denn das Wort ist länger." Tatsächlich aber lassen wir die Sache laufen. Die Stadt, in der ich wohne, hat eine Intensivbettenbelegung von knapp 96 Prozent. Dennoch twittert der Bürgermeister über weitere Öffnungen. Das Kalkül ist einfach: Mit härteren Maßnahmen gewinne ich keine verlorenen Stimmen zurück, aber wenn ich öffne, freuen sich die Leute über wiedergewonnene Freiheiten.</p><p>Weil aber langsam der letzte Depp die verbale Verhohnepiepelung durchschaut, müssen andere Pseudomaßnahmen her. Eine neue App zum Beispiel. Die hext wie Bibi Blocksberg einfach das Virus weg. Wie bitte, das hatten wir schon, das war die Corona-Warn-App und hat damals schon nicht funktioniert? Ja, natürlich, aber diesmal stehen echte Experten dahinter. Ein Rapper zum Beispiel, der in seinem gesamten Leben keine einzige Zeile funktionierenden Code verfasst und von Epidemologie etwa so viel Ahnung wie irgendein Typ hat, den Sie zufällig auf der Straße ansprechen. Wovon er allerdings viel Ahnung hat, ist Geldscheffeln. Bislang musste er mit seiner Band von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort reisen und abends stundenlange Bühnenshows hinlegen. Jetzt muss er nur eine Handvoll Talkshows abklappern, die praktischerweise oft in Berlin stattfinden und ein paar knackige Sprüche über seine App raushauen. Seine App? Ach ja, fast vergessen, ihm (genauer: der Fantastic Capital Beteiligungsgesellschaft UG) gehören <a href="https://www.heise.de/tp/features/Die-Luca-App-Dilettantisch-und-sinnlos-6007111.html?seite=2">22,9 Prozent</a> der Culture4life GmbH, die gerade für Millionenbeträge Lizenzen an verschiedene Bundesländer verkauft, deren Ministerpräsidenten sogar damit kokettieren, sie hätten <a href="https://twitter.com/ard_bab/status/1373722027794792450?">nicht die leiseste Idee</a> davon, ob und wie die App funktioniert, aber einfach mal mit <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/scheitern-der-corona-apps-der-grosse-streit-um-die-digitale-pandemiebekaempfung/27071752.html">1,2 Millionen Euro</a> um sich schmeißen, weil das viel cooler ist, als sich mühsam zu informieren. Da kommt selbst Laschets Nachdenkwochenende vergleichweise intellektuell rüber.</p><p>Nun ist erst einmal nichts Verwerfliches dabei, Geld mit einer App zu verdienen. Es hätte nur einen gewissen Reiz, auf diese Tatsache hinzuweisen, weil es vielleicht erklärt, warum ausgerechnet diese App und nicht etwa eines der zahlreichen Konkurrenzprodukte der ultimative Heilsbringer sein soll. Ja, ich weiß, das ist ein Ad-hominem-Angriff, also der Versuch, eine Sache zu diskreditieren, indem ich deren Apologeten kritisiere, aber in diesem speziellen Fall scheint mir das angebracht, weil ein bekannter Musiker seine Popularität missbraucht, um aus angeblich uneigennützigen Motiven ein nachweislich unausgereiftes Produkt zu propagieren, von dem er nicht viel mehr verstanden haben kann, als dass es ihm viel Geld einbringt, und das finde ich unredlich.<br /></p><p>Auf der anderen Seite stößt die Rapper-App nur in eine Lücke vor, die eine an Arbeitsverweigerung grenzende Öffentlichkeitsarbeit für die Corona-Warn-App gelassen hat. Seit der Erstveröffentlichung im Juni 2020 gab es kleinere Bugfixes, ein paar Schönheitskorrekturen, aber keine entscheidenden Fortentwicklungen. Dabei haben Experten wie Linus Neumann vom CCC mehrfach auf fehlende Funktionen hingewiesen, die zu implementieren auch nicht weiter schwer gewesen wäre. Was kam, war ein Kontakttagebuch, im Prinzip ein Texteditor mit der Möglicheit zum verschlüsselten Speichern. Das war zwar nicht falsch, aber nach einem halben Jahr auch nicht besonders viel. Doch nicht nur entwicklungsseitig gab es Versäumnisse, auch die Politik scheute keinen Aufwand, die App zu vernachlässigen. So hieß es, die Corona-Warn-App könne gar nicht das Gleiche wie die Rapper-App leisten, weil die Coronaverordnungen eine namentliche Registrierung vorsähen. Die Coronaverordnungen, sind das nicht diese Papiere, die uns die Landesregierungen ungefähr monatlich einmal neu auflegen? Wie viel Aufwand hätte es bedeutet, der Praktikantin zu sagen, sie möge doch bitte die Passage mit den Namen einmal kurz aus der Textverarbeitung löschen und damit eine Clustererfassung mittels Corona-Warn-App ermöglichen? Was, das ginge nicht so einfach? Ist das etwa so schwer, wie die Notwendigkeit der schriftlichen Einwilligung zu streichen, welche die Nutzung der Hiphop-App konterkariert hätte? Das ging nämlich überraschend einfach.</p><p>Nach dem Rollout der Corona-Warn-App hätte eine massive Werbekampagne folgen müssen. Kein Tag hätte vergehen dürfen, an dem nicht irgendeine politische Entscheidungsträgerin in irgendeiner Schwafelsendung sitzt und erklärt, warum zwar keine App der Welt Corona besiegen, aber einen messbaren Anteil dazu beitragen kann, die Ausbreitung zu verlangsamen. Wir haben Milliardenbeträge in irgendwelche Prestigeobjekte versenkt. Warum gab es nicht so etwas wie ein Gewinnspiel, das neben Infektionswarnungen jede Woche zehnmal 100 Euro an alle Installationen verteilt? Warum ließ die Politik monatelang die Corona-Warn-App ins Leere laufen, indem sie deren Anbindung an die Gesundheitsämter verschlampte?</p><p>Weil wir schon seit Mitte letzten Jahres im Aktivitätssimulationsmodus laufen. Niemand gibt es zu, aber wir lassen uns seit Monaten von Cornaleugnern, Maskenverweigerern und Verschwörungsspinnern vor ihnen her treiben. Wir haben keine Angst vor Christian Drostens oder Karl Lauterbachs Berechnungen. Die beiden kämen nie auf die Idee, <a href="https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/tausende-querdenker-beim-protest-in-stuttgart,STX5iVC">Steine auf Journalistinnen</a> zu schmeißen. Wir haben Angst vor einem von allen Bildungsidealen befreiten, durchgeknallten Mob, der das Verbreiten einer hoch ansteckenden und bei vielen Erkrankten dauerhafte Schäden hinterlassenden Seuche mit dem <a href="https://www.hna.de/kassel/corona-kassel-querdenker-jana-sophie-scholl-demo-hannover-empoerung-90119142.html">Widerstand</a> gegen ein faschistisches Regime vergleicht, dessen Regentschaft 60 Millionen Kriegstote und die Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen bewirkte. Wir versuchen, Leute zu beschwichtigen, deren "Argumentationsweise" sich außerhalb der Regeln bewegt, die vor über 2000 Jahren in Griechenland definiert und spätestens seit Kant auch in Mitteleuropa als gemeinsame Basis eines logischen Diskurses allgemein anerkannt sind. Es ist schlicht nicht möglich, eine sinnvolle Diskussion mit Menschen zu führen, die anekdotische Indizien mit einem allgemein gültigen Beweis verwechseln. Es ist müßig, sich wissenschaftlicher Denkmuster zu bedienen, an deren Ende die Gegenseite einfach nur "das glaube ich alles nicht" schreien und sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen braucht. Natürlich kannst du glauben, dass der Mond aus Käse, die Erde eine flache Scheibe und die Klimakatastrophe eine Erfindung der jüdisch-zionistischen Weltverschwörung ist, aber dadurch wird es nicht wahrer. Wenn du deinen Facebook-Buddies Bibi, Babsi und Loverboy69 mehr Kompetenz als promovierten Medizinerinnen zutraust, über die Durchlässigkeit von Stoffmasken für <a href="https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Virologische_Basisdaten.html">140 nm</a> (140 * 10^-9 m) kleine Viren zu reden, während <a href="https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-masken-kinder-101.html">3,24 Angström</a> kleine (3,24 * 10^-15 m also zehn Millionen mal kleinere) CO2-Moleküle angeblich zurückgehalten werden, dann haben wir schlicht nichts mehr, worüber wir konstruktiv sprechen können. Ja, auch ein Doktortitel schützt nicht vor zum Teil bestürzenden Fehlern, aber um einzusehen, dass ein aus mindestens <a href="https://abenteuer-universum.de/kosmos/mikromakro3.html">6.000 Atomen</a> bestehendes Virus größer ist als ein aus gerade einmal drei Atomen bestehendes Gasmolekül, brauche ich nicht einmal einen Schulabschluss.</p><p>Doch von genau solchen Leuten, die glauben dass 3 größer ist als 6.000, lassen wir uns gerade unsere Pandemiestrategie vorschreien.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-64749928948576635432021-03-29T01:53:00.001-07:002021-03-29T01:53:21.971-07:00Das Leben ist kein Bällebad<p>"So this is how liberty dies - <a href="https://www.youtube.com/watch?v=DgxZr6LLS34">with thunderous applause</a>." Es dauert eine Weile, sich durch die drei unfassbar mittelmäßigen Star-Wars-Prequels zu quälen, bis endlich dieser eine entscheidende Satz fällt, aber der hat es dafür in sich. Ich drücke es etwas schärfer aus: 56 Jahre Diktatur in diesem Land, zwei verlorene Weltkriege und 28 Jahre Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen haben bei uns nicht etwa die Haltung hinterlassen, dass Freiheitsrechte etwas Heiliges sind, die zu verteidigen wir jede denkbare Anstrengung unternehmen müssen - im Gegenteil. Wir haben geradezu einen Fetisch für Totalitarismus entwickelt, wir geben es nur nicht zu. Doch gib uns das richtige Feindbild, und wir jubeln uns das Imperium genau so herbei wie der Senat in der "Rache der Sith". Niemand hier hat ein Problem mit einem Land, das seine Gegnerinnen in Lager sperrt - so lange wir auf den Türmen stehen und die Anderen hinter dem Zaun, ist alles super.</p><p><span></span></p><a name='more'></a>Das hat der Gesetzgeber natürlich schon längst begriffen, und so baut er seit einigen Jahren nicht mehr Gesetze, in denen drin steht: "Leute, wir schaffen die freie Rede ab, wir schaffen die Privatsphäre ab, wir schneiden nicht nur jedes Wort mit, das ihr miteinander sprecht, wir gucken uns auch jedes Wort an, das ihr nur für Euch allein aufschreibt und bringen euch dafür ins Gefängnis." Nein, er schreibt davor, dass es gegen die doofen Nazis geht oder Leute, die Hate Speech und Fake News verbreiten, und schon sind die Leute dafür. Ich bestreite nicht, dass gegen all dies etwas unternommen werden muss, aber ich glaube nicht, dass dies durch dadurch geschieht, dass wir genau das Regime errichten, das zu verhindern wir uns angeblich auf die Fahnen geschrieben haben. Wir verurteilen Russland, Saudi-Arabien und China für Mittel, die wir bei uns begrüßen, denn WIR sind ja die GUTEN. Da darf man das.<p></p><p>Ich übertreibe? Ja natürlich, aber leider nicht so sehr, wie ich möchte. Nehmen wir ein Beispiel, das von Leuten stammt, die sich vorgeblich der Hackerethik verschrieben haben, einem Regelwerk, in dem Dinge wie der freie Fluss von Informationen drin stehen. Um genau dies sicherzustellen, hat die Hackercommunity schon vor einigen Jahren ein Twitter-Pendant namens Mastodon aufgezogen, das sich rein technisch komplett an alles hält, was die Häckse von Welt mag: Es ist quelloffen und vor allem dezentral. Gerade der zweite Punkt ist wichtig. Jede, die will, kann sich eine eigene Instanz aufsetzen und sie mit anderen vernetzen. Sollte also irgendeine Instanz ausfallen, ist zwar die Kommunikation mit den dort angemeldeten Nutzerinnen unterbrochen, das restliche Netz funktioniert aber weiterhin. Um es mit der Hackerethik zu sagen: Misstraue Autoritäten - fördere Dezentralität.<br /></p><p>Das hört sich in der Theorie ganz toll an - in der Praxis zeigen sich aber erste Lücken. Tatsächlich installiert sich eben nicht jede mal schnell eine dezentrale Mastodon-Instanz, sondern es sammeln sich viele Leute auf wenigen großen Knoten. Chaos.social zum Beispiel mit knapp 7000 Accounts. Ein anderer, nicht ganz so großer Knoten ist Mastodonten.de mit etwas mehr als 1000 Konten, und genau dort tauchte vor einigen Tagen ein Video auf, dessen optischer Inhalt relativ belanglos aus einer in die Kamera lächelnden Frau bestand, die mit ihrem Hund spielte. Der eigentliche Sprengstoff liegt in den Texteinblendungen, die ich hier im englischen Original mit Zeilennummern zitiere, um sie etwas genauer besprechen zu können:<br /></p><p>1 Dear trans "women",<br />2 I'm sorry but...<br />3 You can't have periods<br />4 You body can't grow babies<br />5 You can't give birth<br />6 You weren't born with our equipment<br />7 You shouldn't be in girl only sports<br />8 Because you are not a girl...<br />9 You are a boy</p><p>Zeile 1 enthält die erste Provokation: das Wort "women" in Anführungszeichen. Ein klarer Affront gegen Trans-Frauen, die sich als vollwertige Frauen sehen. Ist diese Zeile verletzend? Ich bin vorsichtig und sage: Sie ist nicht nett.</p><p>Zeile 2 geht in meinen Augen glatt durch, denn da passiert nicht viel, die echten Schläge kommen noch.</p><p>Die Zeilen 3, 4 und 5 stellen meines Wissens medizinisch überprüfbare Tatsachen dar. Ich wüsste nicht, dass bei Geschlechtsanpassungen die vollen Funktionen hergestellt werden können. Es mag für Trans-Frauen, die sich kaum etwas sehnlicher wünschen, als dass ihr Körper genau dem entspricht, als was sie sich sehen, aber zumindest die heutige Medizin ermöglicht das noch nicht.</p><p>Zeile 6 ist auch größtenteils eine Sachaussage, wenngleich mit "you" und "our" klargestellt wird, dass aus Sicht der Verfasserin ein Unterschied zwischen Trans-Frauen und den Frauen besteht, die in den Zeilen 3 bis 5 definiert werden.</p><p>Zeile 7 ist die erste Zeile, die nur aus einer Meinung besteht. Die Frage ist für mich: Wie verwerflich ist diese Meinung? Ich kenne mich mit Sport nicht einmal ansatzweise aus, aber ich habe die Diskussion mitbekommen, die sich darum dreht, ob Trans-Frauen bei sportlichen Wettkämpfen mit anderen Frauen verglichen werden können. Das Argument dreht sich darum, dass sie aus ihrer männlichen Vergangenheit körperliche Eigenschaften mitbringen, die ihnen bei Kraft und Ausdauer verlangenden Disziplinen Vorteile bieten. Die Debatte dauert noch an, und so lange sie nicht entschieden ist, finde ich es völlig vertretbar, hier eine Position zu beziehen, die der Gegenseite nicht gefällt. Der Satz enthält keine Beschimpfungen, keine vulgären Worte, mit anderen Worten: nichts, was nach den in diesem Land geltenden Gesetzen nicht unter freie Meinungsäußerung fiele.</p><p>Zeile 8 ist wieder wertend. Sie besagt, dass es sich aus Sicht der Verfasserin bei Trans-Frauen nicht um Frauen handelt. Auch das ist nicht nett, aber ich vermag hier nichts zu entdecken, was den Rahmen der Meinungsfreiheit über Gebühr ausdehnt.</p><p>In Zeile 9 zieht die Verfasserin den aus ihrer Sicht logischen Schluss: Für sie gibt es genau zwei Geschlechter, und wenn eine Person nicht in die Kategorie "Frau" fällt, muss sie demnach ein "Mann" sein. Wir mögen jetzt darüber diskutieren, ob die Forschung in diesem Punkt zwischenzeitlich nicht weiter ist und statt zweier klar getrennter Geschlechter ein ganzes Spektrum kennt. Wir können uns auch darüber streiten, ob beispielsweise das Kriterium funktionierender Geschlechtsorgane bereits bei der Annahme, es gäbe nur Männer und Frauen, schon zu kurz greift. aber auch hier: Zumindest die gesellschaftliche Debatte ist hier noch lange nicht zu einem allgemeinen Konsens gelangt, und bis dahin muss es möglich sein, diese Meinung zu vertreten. Exakt das ist die Definition von Diskurs. Da muss es nicht nur möglich sein, unterschiedliche Standpunkte zu haben, es ist eine unvermeidliche Bedingung, so wie etwa bei einem Fußballspiel zwei Teams aufeinander treffen und nicht etwa ein Team 90 Minuten lang untätig auf dem Feld herumsteht. Genau wie bei einem Fußballspiel Regeln gelten, müssen wir uns natürlich auch im gesellschaftlichen Streit an bestimmte Umgangsformen halten, aber mit Verlaub: Diese neun Zeilen gehen maximal als rustikale Spielweise durch. Das ist weit entfernt von Gelb, geschweige denn von Rot.</p><p>Das sieht die Administration von chaos.social jedoch anders. Für sie war dieses Posting ein klarer Regelverstoß, der zumindes die Sperrung dieser Spielerin rechtfertigt. Da sie allerdings zum Team Mastodonten gehörte, ging sie zu deren Trainer und verlangte, dass er sie vom Feld nimmt. Der wiederum sah dazu keinen Grund, worauf chaos.social das Spiel abbrach, technisch gesagt: Mastodonten.de komplett von der Kommunikation ausschloss. Begründung: Da es technisch nicht möglich sei, eine Nutzerin einer anderen Instanz zu sperren, müsse eben die ganze Instanz dran glauben, mit über 1000 Nutzerinnen. Ich weiß, wie sehr sich die ach so aufgeklärten Chaotinnen damit brüsten, das dumpfe Christentum intellektuell überwunden zu haben, aber hier fallen sie mal eben 812 Jahre zurück in das Massaker an den Einwohnern <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_Amalrich#Legat_des_Kreuzzugs_%E2%80%93_%E2%80%9ET%C3%B6tet_sie.%E2%80%9C">Béziers</a>, das der Überlieferung nach unter der Maßgabe stattfand: "Tötet sie. Der Herr wird die Seinigen schon erkennen."</p><p>Mit anderen Worten: Wegen eines einzigen Posts einer einzigen Nutzerin werden über 1000 Personen in Sippenhaft genommen und von der Kommunikation mit einer der mächtigsten Instanzen des Fediverse ausgeschlossen. Für solche Aktionen hätten wir die Autokraten in der Türkei, in Ungarn, dem Iran, Libyen oder Ägypten zum Teufel gejagt. Bei chaos.social hingegen überschütten wir die Administration mit Lob. Sie hätten den safe space gerettet, heißt es. Hier gibt es nur Posts mit dem ideologischen Ariernachweis. So wie bei Disney niemals unkeusche Inhalte die zarten Zuschauereinnenseele besudeln sollen, gibt es auch bei chaos.social nur ethisch reinrassige Inhalte, die garantiert niemanden stören. Deswegen verstecken wir selbst die banalsten Inhalte hinter Content Warnings. Es könnte ja jemand durch korrekt formulierte Nebensätze getriggert werden.</p><p>Nichts ist dagegen einzuwenden, sich für einen respektvollen Umgang einzusetzen, und hier darf der Rahmen auch ruhig enger sein als das Strafrecht. Wir müssen nicht erst dann einschreiten, wenn jemand Hakenkreuze malt oder zum Völkermord aufruft. Wir können schon deutlich vorher zeigen, wo für uns die Grenzen der Höflichkeit überschritten sind. Wir haben uns aber zwischenzeitlich in eine Situation manövriert, in der wir nach Möglichkeit niemanden verletzen wollen, und weil wir niemandem vorschreiben wollen, ab wann sie sich verletzt fühlen darf, haben wir uns auf das Kriterium geeinigt, dass wir sofort erschreckt zusammenzucken, wenn nur irgendwer laut genug schreit.</p><p>Das stimmt natürlich nicht ganz. Wenn irgendwer von bis zur Unleserlichkeit totgegenderten Posts genervt ist, wenn irgendwer ein Argument nicht allein deswegen schon ablehnt, weil es von einem Mann über 40 stammt, dessen Eltern den Fehler begangen haben, aus Fallingbostel und nicht aus einem Land zu stammen, dessen Einwohnerinnen vom kaukasischen Erscheinungsbild abweichen, muss sie sich das ganze Kampfvokabular des Neostalinismus gefallen lassen. Naja, und jetzt gehören offenbar auch Frauen mit zum Feindbild, die sich eindeutig einer Geschlechteridentität zuordnen, keinen Stern dahinter schreiben und als Kriterium Merkmale wählen, welche dieser Spezies seit Millionen Jahren den Fortbestand auf diesem Planeten sicherten, und genau das ist der Fehler. Wir bekommen Fragen nicht gelöst, indem wir sie unterdrücken, sondern indem wir über sie reden. Ich bin im Trommelfeuer des Usenet aufgewachsen. Das war keine schöne Zeit, was den Umgangston anging, aber sie hat mich zumindest gelehrt, dass man Dinge diskutieren muss, kontrovers diskutieren muss und dass dabei auch Ansichten zur Sprache kommen, die mir nicht passen. Genau genommen gibt es ganz viele Dinge, die mir nicht passen, die mir ungangenehm sind, aber es gehört zum Erwachsenwerden, damit umzugehen zu lernen. Ab einem bestimmten Alter ist es einfach kein Argument mehr, sich heulend auf den Boden zu schmeißen und sich dramatisch als Opfer zu inszenieren. Statt dessen entwickeln wir uns zurück. Unter dem Deckmantel der Höflichkeit versuchen wir, die Welt in ein Ikea-Kinderparadies zu verwandeln, wo alles ganz toll duftet, es keine Ecken gibt, an denen wir uns stoßen können und jeder Sturz durch ein hüfttiefes Bällebad aufgefangen wird. Alles ist schön, alles ist flausch, alle haben sich lieb.</p><p>Derweil wählen die Leute draußen AfD.<br /></p><p></p><p>"Geschlechter sind ein soziales Konstrukt." Entschuldigung, das ist tautologischer Bullshit. Jeder Begriff, den wir für irgendetwas wählen, ist ein soziales Konstrukt. Mit jedem Wort teilen wir die Welt in zwei semantische Teile: den Teil, auf den der Begriff passt und den Rest. Tische sind ein soziales Konstrukt, weil sich irgendwann eine gemeinsame Auffassung herausgebildet hat, welche Objekte als Tisch gelten und welche nicht. Genau wie beim Geschlecht gibt es auch bei Tischen Fälle, bei denen nicht klar ist, ob es sich noch um einen Tisch handelt. Ein besonders kleiner Tisch könnte auch ein Schemel sein. Letztlich entscheidet also die Nutzung darüber, ob ein Schemel ein Tisch oder ein Tisch ein Schemel ist. Wenn ich von vier Tischbeinen eins absäge, kann der Tisch noch stehen, nur wackliger. Schneide ich ein weiteres Bein ab, ist es weiterhin ein Tisch, aber ein kaputter. Die Frage, bis wann ein Tisch noch ein Tisch und nicht einfach nur ein Stück Holz und ein Berg Sägemehl ist, wird je nach Sichtweise unterschiedlich beantwortet. Auch ein Tisch ist ein soziales Konstrukt. Wir brauchen für diese Erkenntnis nur keine Lehrstühle an Universitäten. Das kriegen wir auch so raus.</p><p>Nun hat es in unserer Gesellschaft nie zu nennenswerten Problemen geführt, die Definition von Tischen verbindlich zu regeln. Die Frage, was ein Mann und was eine Frau ist, führt da schon zu weit mehr Konflikten. Das über Jahrzehnte von der "taz" gepflegte Binnen-I reicht seit langem nicht mehr aus, bezeichnet es doch nur Personen, die sich einem Geschlecht eindeutig zuordnen können. Deswegen malen wir jetzt Sternchen, (Doppel-)Punkte, Unterstriche oder Ausrufezeichen in Worte hinein und sprechen Pausen, in denen wir erwartungsvoll in die Runde schauen, ob auch alle mitbekommen haben, wie wahnsinnig sensibel wir dieses Thema behandeln und allen Zeit lassen, ein wenig in sich zu gehen, den eigenen Gedanken nachzuspüren und sich das Geschlecht zu denken, welches hier dringend hingehört.</p><p>Mir persönlich ist es egal. Gib mir ein Pronomen, mit dem ich Dich
anreden soll, und ich rede Dich damit an - egal, wie Du aussiehst. Es
gibt einen Grundrespekt, den ich praktisch allen Menschen gegenüber
habe, und dazu gehört, Deinem Wunsch nachzukommen, mit der Dir genehmen
Geschlechteridentität angesprochen zu werden. Wenn ich Dir so leicht
einen Gefallen erweisen kann - gern. <br /></p><p>Zumindest die Trans-Personen, die ich kenne, haben ihre Geschlechtsidentität nicht aus einer Schnapslaune heraus getroffen. Insbesondere die, welche mit ihren Krankenkassen den Kampf ausfochten, sich die nötigen körperlichen Anpassungen bezahlen zu lassen, haben einen langen und belastenden Weg hinter sich. Nicht zuletzt Verheiratete mit Kindern mussten viel durchstehen. Ich kann mir vorstellen, dass für sie die korrekte Anrede mehr als eine Höflichkeit ist. Es ist eine Frage ihrer Identität. Natürlich ist so ein Text für sie ein Schlag ins Gesicht. Aber seien wir realistisch: Solche Äußerungen begegnen ihnen ständig, und meist sind sie deutlich schärfer formuliert. Unsere Gesellschaft ist noch lange nicht so weit, dass sie Trans-Identitäten schulterzuckend akzeptiert. Hier muss Überzeugungsarbeit geleistet werden. Bei einer Frau, die wie oben ihre Weigerung zum Ausdruck bringt, einen Menschen, dem bestimmte körperliche Eigenschaften fehlen, als Frau zu bezeichnen, sehe ich Chancen, nach einem Gespräch auf eine gemeinsame Position zu kommen. Die Betonung liegt hier auf "gemeinsam", also nicht der Zwangsmissionierung der Gegenseite, sondern der ehrlichen Absicht, sich die andere Position anzuhören und die eigene Position nicht als unabänderliches Heiligtum zu betrachten. Vor allem heißt es, mit der Gegenseite in einen echten Dialog treten und sie nicht mit einem vor Neoanglizismen und wirren Abkürzungen strotzenden Kampfvokabular erschlagen zu wollen.</p><p>Ich finde es begrüßenswert, eine friedliche und konfliktfreie Welt schaffen zu wollen. Ein Blick in meine Twitter-Timeline reicht aus, um sicher zu sein, dass einige von uns in Sachen Umgangsformen in einen frühen Entwicklungsstadium den falschen Abzweig genommen und erheblichen Nachholbedarf haben. Das heißt aber nicht, dass wir uns eine cremefarbene Scheinwelt schaffen dürfen, die aussieht, als sei sie direkt einer Paradiesdarstellung eines Zeugen-Jehovas-Heftchens entsprungen. Konflikte sind nicht per se böse, allenfalls die Art, wie sie geführt werden. Der einzige Weg, sie zu zu lösen, ist sie zu führen. Verweigern wir uns dem, werden sie uns irgendwann einholen, gern zu einem ungünstigen Zeitpunkt und heftiger als zuvor. Wie können wir erwarten, in der Debatte um Internetzensur ernst genommen zu werden, wenn wir intern mit genau den Mitteln reagieren, die wir nach außen hin verdammen? Der politische Gegner wird mit Freude zur Kenntnis nehmen, dass Netzsperren jetzt wohl auch bei deren ursprünglichen Gegnerinnen als angemessenes Mittel gefeiert werden.<br /></p><p><span color="unset" style="-moz-box-align: unset; -moz-box-direction: unset; -moz-box-flex: unset; -moz-box-ordinal-group: unset; -moz-box-orient: unset; -moz-box-pack: unset; -moz-context-properties: unset; -moz-control-character-visibility: unset; -moz-float-edge: unset; -moz-force-broken-image-icon: unset; -moz-image-region: unset; -moz-orient: unset; -moz-outline-radius: unset; -moz-tab-size: unset; -moz-text-size-adjust: unset; -moz-user-focus: unset; -moz-user-input: unset; -moz-user-modify: unset; -moz-window-dragging: unset; -webkit-line-clamp: unset; -webkit-text-fill-color: unset; -webkit-text-stroke: unset; animation: unset; appearance: unset; backface-visibility: unset; background-blend-mode: unset; background: unset; block-size: unset; border-block: unset; border-collapse: unset; border-end-end-radius: unset; 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Das fing mit neuen Spielzeugen an, die ich zum Dazugehören unbedingt besitzen musste, es erwischte mich richtig schwer mit meinem ersten Computer, der mich bis heute in eine mathematisch-naturwissenschaftliche Laufbahn gelenkt hat und ging über das Internet Mitte der Neunziger bis zu den dadurch ausgelösten Modewellen. Besonders hängen blieben bei mir die Piratenpartei und Twitter. Anlass für diesen Artikel ist das an der Grenze der Unerträglichkeit lavierende Geschrei meiner Filterblase nach einer neuen App, die es Leuten mit einem I-Phone ermöglicht, Audiokonferenzen zu veranstalten. Ich kann mir - Datenschutzbedenken kurz ignoriert - gut vorstellen, dass diese App enorm viel Spaß bringt und Gespräche durch ein paar simple, aber offenbar längst überfällige Optionen auf ein neues qualitatives Niveau hebt. Was sich die Leute komplett schenken können, sind vor Affektiertheit triefende Sätze wie diese:</p><p style="text-align: left;">"Du bist doch heute Abend auch dabei, oder?"</p><p style="text-align: left;">"Nein, auch wenn Du es mir jetzt schon zum vierten Mal erzählst. Ich habe die App nicht."</p><p style="text-align: left;">"Ach ja, stimmt. Du kannst Dir ja kein I-Phone leisten. Ich hätte ja ein Inweit für dich. Ich habe meins übrigens von Sascha bekommen. Sascha Lobo, weißt du? Naja, das ist ja ohnehin nichts für dich, ich muss jetzt aber los, hab gleich noch ein Influenza-Mieting, tschüss denn."</p><p style="text-align: left;">Und schon ist er wieder weg, eine Schleimspur aus Selbstgefälligkeit hinterlassend.</p><p style="text-align: left;"><span></span></p><a name='more'></a><p></p><h4 style="text-align: left;">Standardsituationen der Technologierezeption <br /></h4><p style="text-align: left;">Allein solche Typen wären für mich schon Grund genug, von deren neuer Lieblingsplattform die Finger zu lassen. Ich habe auch lange überlegt, ob ich überhaupt etwas dazu schreiben soll, weil selbst negative Kommentare das Thema im Gespräch und damit die Marketingmasche am Laufen halten. Letztlich siegte aber das Interesse - weniger an der Plattform, die mich auf absehbare Zeit ohnehin nicht als Nutzer zulässt, sondern an der öffentlichen Reaktion, die gerade perfekt Kathrin Passigs "<a href="https://docs.google.com/document/d/1M9JQoEcwBseqkZVAIpdjuI9Iz4c4KR6JVke4VQCtEDU/edit">Standardsituationen der Technologiekritik</a>" durchläuft, angefangen von "Wozu soll das gut sein?" (ist ja nur eine Art Telefonkonferenz, das kann Mumble schon längst) über "Nur seltsame Gestalten oder privilegierte Minderheiten wollen das Neue" (Swingerclub für Apple-Fanboys) bis hin zu "Das Neue ist nicht gut genug" (mangelnder Datenschutz). Die Enthusiasten ihrerseits sind vor allem noch in der Phase "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", indem sie vom Flausch sowie der Aufhebung der unidirektionalen Situation des Podcastens schwärmen, die durch das "Hochheben auf die Bühne" beliebiger sich als kompetent herausstellender Personen erreicht wird. Wer aus dem Bildungsbereich kommt, befindet sich eventuell schon auf der Stufe "Lernen wird ganz einfach", weil das neue Gesprächsformat ganz neue Möglichkeiten für Unterricht und Seminare bietet. Ich finde diese Gedanken nicht etwa bedenklich, weil sie falsch sind. Ich finde sie bedenklich, weil sie so schematisch ablaufen und damit eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Materie verhindern. So albern es ist, sich blind auf alles Neue zu stürzen und willig über jedes Stöckchen zu hüpfen, das die Marketingabteilung hinhält, so albern ist es auch, reflexartig nach Gründen zu suchen, warum etwas Neues völlig überflüssig, ja gefährlich ist, was mir eine Ausrede liefert, mich auf keinen Fall und wenn, dann nur ablehnend damit beschäftigen zu müssen.</p><h4 style="text-align: left;">Hey, ganz neu, wir können jetzt auch schon Radio! <br /></h4><p style="text-align: left;">Besonders bizarr finde ich übrigens, wie an der neuen Audiokonferenz-App die Echtzeit-Kommunikation gelobt wird. Es sei doch faszinierend, wie alles im Hier und Jetzt stattfände, dass es keine Aufzeichnungsmöglichkeit gäbe und die Leute deswegen gezwungen seien, genau zum Veranstaltungsbeginn sich einzufinden, weil sie sonst etwas verpassten. Noch bizarrer finde ich, wenn solche Schwärmereien aus der Podcaster-Szene kommen, genau jenem Medium, das sich der Zeitsouveränität rühmt, der Freiheit, eine Podcast-Folge zu einem beliebigen Zeitpunkt anhören zu können und nicht auf so etwas die Sendezeiten angewiesen zu sein. Eben diese zeitliche Unabhängigkeit war es, die mich vom Fernsehen und Radio weggetrieben hat. Ich wollte mir nicht von der Tagesschau meine Terminplanung vorgeben lassen. Die 20-Uhr-Nachrichten waren um 20.04 Uhr noch genau so wahr, nur dummerweise hatte ich dann schon die Spitzenmeldung verpasst. Es mag ja sein, dass die Flüchtigkeit dieser Plattform als Stärke empfunden werden kann, aber mir das als neu zu verkaufen, beleidigt mein mit dem Alter zugegebenermaßen schlechter gewordenes Erinnerungsvermögen dann doch.</p><p style="text-align: left;">Interessant finde ich auf jeden Fall, sich die Phasen anzuschauen, die solche Hypes durchlaufen. Wenig überraschend lassen sich die Phase der Erstwahrnehmung, die Euphorie der Pionierzeit und die Ernüchterung durch den Massenbetrieb unterscheiden. Robert X Cringely beschrieb in "<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Accidental_Empires">Accidential Empires</a>" die ganz ähnlich ablaufenden Phasen einer Unternehmensgründung und verwendete hier das Bild einer Pioniereinheit, die unter hohen Verlusten einen Strand stürmt, einen ersten Brückenkopf errichtet, ihn im Lauf der Zeit ausbaut, bis dann irgendwann die Bürokraten anrücken, die von der anfänglichen Energie und Opferbereitschaft keine Spur mitbekommen, sondern einfach nur die Aufgabe haben, aus dem hölzernen Fort eine dauerhafte Siedlung entstehen zu lassen. Das Kritische dieser Phase ist der Konflikt zwischen den Pionieren und den Leuten, die am Ende den Großteil der Einwohnerinnen stellen werden. Nur, wenn dieser Übergang befriedigend abläuft, hat die Siedlung Aussicht auf Bestand.</p><p style="text-align: left;">Ganz ähnlich läuft es auf Social-Media-Plattformen ab.<br /></p><p style="text-align: left;"></p><h4 style="text-align: left;">Phase 1: Wasndas?</h4><p>Ich stolpere über einen Begriff, der mir nichts sagt, der aber irgendwie wichtig zu sein scheint. Mitunter ist intuitiv klar, worum es grob geht, beispielsweise der Piratenpartei. Da ärgern sich offenbar Leute über das kaputte Urheberrecht. In anderen Fällen wie Twitter ist die Sache schon schwieriger. "Microblogging" - was soll das sein? Warum sollten Leute in (damals noch) 140 Zeichen etwas schreiben, was sie auf Facebook wesentlich ausführlicher können? Die Schwierigkeit, neue Dinge zu verstehen, besteht darin, dass wir sie uns mit Metaphern, also Bezügen zum bereits Bekanntem erklären müssen. Daher kommen dann Begriffe wie "Datenautobahn" für das Internet, "elektronischer Brief" für E-Mail oder eben "140-Zeichen-Blogposts" für Twitter. Wenn ich Glück habe, zünden die Metaphern wie bei der "Datenautobahn" oder sie hinterlassen wie bei Twitter noch mehr Fragen. Dass Twitter nicht etwa trotz sondern gerade wegen der Längenbeschränkung für Tweets attraktiv ist, lässt sich schwer erklären. Oft kramen die Leute irgendwelche längst überholten Vorurteile hervor und erzählen, von Tweets, wie jemand aufs Klo gegangen ist. Ich persönlich habe solche Tweets nie gesehen, sehr wohl aber andere Trivialnachrichten aus dem Zug, der Vorlesung oder vom Stehimbiss. Es ist schwer zu vermitteln, warum sich jemand für so etwas interessieren könnte. Vor allem das Konzept der Follower, mit dem ich mir aussuche, wessen Nachrichten ich überhaupt lese, scheint uns vollkommen natürlich. Wer aber komplett neu in diese Welt abtaucht, wird selbst mit diesem Begriff Schwierigkeiten haben. Eine häufig gestellte Frage lautet: "Woher weiß ich denn, wem ich folgen soll?" Dass sich sowas einfach ergibt, indem ich auf Verdacht jemandem folge und aus deren Nachrichten weitere interessante Menschen herausfische, ist nicht ohne Weiteres klar. Die Leute müssen es schon selbst ausprobieren.</p><p>Wichtig ist allerdings auch, dass die Leute sich schnell von den Metaphern lösen. Sie stellen nur den Eingang dar, nicht jedoch das Dahinterliegende. Wer sich nur an die Metapher klammert, kommt schnell auf so blödsinnige Begriffe wie "Stoppschilder für die Datenautobahn" oder vermutet, die Piratenpartei kümmere sich allein ums Urheberrecht. Bei der E-Mail glauben die Meisten bis heute, sie sei sicher, weil sie ja diesen schönen Umschlag hat - den sie nur in den wenigsten Fällen in Form von Verschlüsselung besitzt.<br /></p><h4 style="text-align: left;">Phase 2: Euphorie</h4><p>Der Anfang ist ein Traum, gerade in sozialen Netzen. Ich erinnere mich noch, wie einer meiner ersten Tweets eine technische Frage war, auf die ich innerhalb weniger Minuten eine Antwort bekam. Der arabische Frühling spielte sich zu einem wichtigen Teil auf Twitter ab. Bis heute verbreiten sich Neuigkeiten schneller auf Twitter, als klassische Nachrichtenmedien sie melden können. Das gilt nicht nur für ungesicherte Gerüchte irgendwelcher Privatpersonen, sondern auch für mit seriösen Quellen belegte Meldungen.</p><p>Gerade in der Frühphase, wenn die Community noch im Aufbau ist, haben die Leute auch noch so etwas wie Benehmen. Noch stärker wird der Effekt, wenn neue Mitglieder nur auf Einladungsbasis zugelassen werden. Das verstärkt nicht nur das Gefühl der Exklusivität (insbesondere, wenn die ersten Invites gezielt an Prominente gingen), sondern sorgt auch für einen halbwegs gesitteten Umgangston. Wer es sich in Ingeln-Oesselse mit den Nachbarn verdirbt, kann gleich wegziehen. Köln erwartet schon fast von seinen Bewohnern eine gewisse Zivilisationsferne, und in Berlin wird man gar nicht erst reingelassen, wenn man nicht mindestens vorher eine Schlägerei provoziert hat.</p><p>Natürlich gibt es in der flauschigsten WG auch gelegentlich Streit, vielleicht sogar heftigen Streit. Da sich die Beteiligten aber kennen oder wenigstens der gleichen Soziosphäre entstammen, finden sie schnell Mechanismen, mit diesen Konflikten umzugehen. Ein bisweilen sehr komplexes, aber funktionierendes Regelwerk entwickelt sich, alles ist gut.</p><p>Dann kommen die Anderen.<br /></p><h4 style="text-align: left;">Phase 3: Ernüchterung</h4><p>Reden wir nicht drum herum: Spätestens, wenn so unwichtige Würmchen wie ich auf irgendeine soziale Plattform gelassen werden, ist es an der Zeit, sich eine neue zu suchen. Dann nämlich haben sich die Schotts geöffnet, und herein sprudelt der Pöbel. Leute, die von der Gründerzeit nichts mitbekommen, aber gelesen haben, dass alles ganz toll sein soll. Leute, die ihr warholsches Viertelstündchen gekommen sehen und jetzt ganz groß rauskommen wollen. Das war bei den Piraten so, das war bei Twitter so. Die Medien begannen, sich für das Phänomen zu interessieren, und prompt quoll Twitter von irgendwelchen Großmäulern über, aus deren Postings die Botschaft troff: "Die Welt hört mir zu. Ich bin wichtig. Am Sonntag habe ich noch Zeit für Anne Will."</p><p>Verzweifelt versucht die Stammbesatzung, an der alten Zeit festzuhalten. Egal, ob die Mailboxen der Achtziger, das Usenet der Neunziger, Google Plus oder Mastodon - jedesmal, wenn ich dort ankam, schickte mir irgendwer zur Begrüßung ein seitenlanges Pamphlet mit den Regeln, wie man sich hier zu verhalten hat. Das ist deutsche Willkommenskultur. Das syrische Ehepaar zieht im Erdgeschoss ein, und spätestens zwei Stunden später steht Frau Koslowski aus der zweiten Etage mit einem Stück Zitronenkuchen und der ausgedruckten Hausordnung auf der Matte, um den Hinzugezogenen mit lauten Worten (dann verstehen sie es besser) zu erklären, wie sie das Altpapier ordentlich bündeln, dass Fahrräder im Hausflur verboten sind und in der Kehrwoche bis Freitag das Treppenhaus einmal nass gereinig sein muss.</p><p>Dabei ist an den Regeln (für die sozialen Plattformen, nicht für die Mietergemeinschaft Franzisgasse 2) an sich nichts verkehrt. Sie skalieren nur einfach nicht. Immer, wenn ich sowas las, fragte ich mich: Woher kommen die, wer hat die beschlossen, und warum zum Kuckuck sollte ich mich daran halten? Es mag ja sein, dass für Euren kleinen Kuschelverein HTML-Mails bäh und Klarnamen the hottest shit waren, aber warum sollen die Regeln, die ein paar Dutzend Erstbesiedler sich einst ausdachten, unverändert gelten, wenn auf einmal hunderttausend oder sogar eine Millionen Menschen auf die Plattform kommen? "Wir waren aber zuerst hier" ist als Argument so viel wert wie ein Handtuch auf einem Liegestuhl. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir kommt es schon seltsam vor, wenn die gleichen Leute, die elektrisiert aufschreien, wenn irgend ein verschrumpelter Volkstümler was von "Leitkultur" murmelt, es völlig richtig finden, Neuankömmlingen auf Google+ (oder wo auch immer) vorzuschreiben, wie sie ihre Postings zu verfassen haben.<br /></p><p>Das ist aber auch die Crux aller sozialen Phänomene: Wer gesellschaftlich relevant sein will, braucht eine bestimmte Mindestgröße - und handelt sich damit natürlich scharenweise Idioten und Trittbrettfahrer ein. Die Piraten sind an diesem Konflikt gescheitert. Die deutsche Hackerszene ist gerade mitten drin. Twitter ist seit einiger Zeit in einer Phase, in der Leute Richtung Mastodon (oder was sich gerade anbietet) abwandern, weil es da noch schön kuschlig ist. Hier zeigt sich aber auch, wie schwer die Migration fallen kann. Dem Fußvolk mit einer Handvoll Followern kann es egal sein. Es geht dahin, wo die interessanten Leute sind. Sobald aber die eigene Followerzahl ins Fünfstellige geht (was im Vergleich zu den echten Größen praktisch nichts ist), überlegen sich die Betroffenen sehr gut, ob sie diese mühsam aufgebaute Gemeinde aufgeben und bei Mastodon neu anfangen wollen. Organisationen wie Digitalcourage, deren Wurzeln tief in die Community reichen, können einen solchen Schritt gehen. Sie streifen bei der Migration allenfalls die ganzen Spam-Accounts ab. Wer es jedoch in die Tagesschau schaffen will, bleibt. "Zeit", "Spiegel", "Welt", "Süddeutsche", "FAZ" und "taz" zitieren regelmäßig Tweets. Ich habe sie noch nie Mastodon zitieren sehen.</p><h4 style="text-align: left;">Stabilisierung oder Zusammenbruch</h4><p style="text-align: left;">Diese Phase entscheidet über den Fortbestand. Ein wirkliches Zurück zur alten Flauschphase gibt es nicht, siehe Piratenpartei, die es förmlich zerrissen hat. Die klugen Köpfe haben größtenteils entnervt hingeworfen, aber auch die Karrieristen sind längst in andere Parteien abgewandert, die größere Chancen auf einen Referentenjob in einem Abgeordnetenbüro bieten. Die Partei ist wieder klein und unbedeutend, fast so wie im Jahr 2008, aber auch eben nur fast. Sie ist klein wie ein abgebranntes, zusammengestürztes Haus, in dessen Trümmern einige Leute noch traurig nach irgendwas Brauchbarem stochern. Vom Schwung der verschworenen Gemeinde ihrer Anfangszeit ist nichts mehr zu spüren. Die Zeit lässt sich nun einmal nicht zurückdrehen.</p><p style="text-align: left;">Es gibt also eigentlich nur einen Weg: vorwärts. Das aber wirft die Frage auf, was mit den Leuten geschieht, die ganz am Anfang dabei waren und natürlich auch die Sache geprägt haben. Der Chaos Computer Club stand um die Jahrtausendwende herum genau vor dieser Frage: Wau Holland war tot. Der Einfluss der Gründungsmitglieder sank, und es war spürbar, dass sie mit vielen Entwicklungen, die der Club nahm, nicht einverstanden waren. Offensichtlich hat der CCC diesen Übergang geschafft, aber es ist auch klar, dass er ein ganz anderer Verein als Anfang der Achtziger war. Er ist nicht einmal mehr der Verein, der er vor fünf Jahren war.</p><p style="text-align: left;">Der Weg zur Beständigkeit liegt offenbar in der Veränderung. Ein besonders frappierendes Beispiel sind die Grünen. Angetreten unter dem Motto "<a href="https://www.deutschlandfunk.de/oekologisch-sozial-basisdemokratisch-und-gewaltfrei.871.de.html?dram:article_id=126847">ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei</a>" beteiligen sie sich inzwischen an <a href="https://apps.derstandard.de/privacywall/story/2000103137563/wie-vor-20-jahren-der-kosovo-krieg-die-linken-und">Angriffskriegen</a>, schaffen den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Agenda_2010">Sozialstaat</a> ab, sind gegen <a href="https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-11/gruene-bundesparteitag-volksentscheide-buergerraete-grundsatzprogramm">Volksentscheide</a> und bauen <a href="https://www.zeit.de/2020/42/buendnis90-die-gruenen-hessen-regierung-autobahn-umweltschuetzer-protest">Autobahnen</a>. Sie mögen dafür absolut ehrenwerte Gründe haben. Sie haben sich nur einfach von ihren ursprünglichen Werten getrennt. Zur Belohnung lassen sie SPD und Linke in <a href="https://www.wahlrecht.de/umfragen/">Umfragen</a> weit hinter sich. Ganz falsch scheint diese Strategie also nicht zu sein.</p><p style="text-align: left;">Die Kunst besteht darin, den Übergang so hinzubekommen, dass die alte Riege nicht mit großem Knall alles hinschmeißt, sondern selbst erkennt, dass ihre Zeit vorbei ist. Die neue Besatzung ist gut beraten, den Rückzug würdig zu gestalten. Für genau solche Fälle gibt es Alterspräsidenten - Menschen, die eine gewisse moralische Autorität genießen, immer mal wieder um Rat gefrag werden, aber sich bitte aus dem Tagesgeschäft heraushalten sollen. Parteien lagern diese Aufgabe gern in Stiftungen aus. Das klingt zynischer als es gemeint ist. So funktioniert Veränderung nun einmal. Max Planck wird die Aussage zugeschrieben, neue wissenschaftliche Erkenntnisse setzten sich durch, indem die Verfechter der alten irgendwann einmal sterben. Das mag uns nicht gefallen, aber auch wir werden einmal zu denen gehören, auf die das Zitat zutrifft.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-60582897410152424292021-02-01T03:34:00.001-08:002021-02-03T03:38:10.264-08:00Verstehen ist nicht befolgen<p>Als ich gestern beim Spazierengehen durch eine Unterführung ging, fand ich endlich ein schönes Beispiel für den Unterschied zwischen "eine Vorschrift verstehen" und "eine Vorschrift befolgen". Das Eine ist nämlich das komplette Gegenteil des Anderen.</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>In der Unterführung hing ein großes Schild "Plakatieren verboten". Das funktionierte auch prächtig. An der Wand hing kein einziges Plakat. Dafür war alles mit Grafitti zugesprüht.</p><p>Mit anderen Worten: Hier haben sich die Leute perfekt an eine Vorschrift gehalten. Da stand nur was von Plakaten. Von Sprühen war nicht die Rede. Also los geht's.</p><p>Natürlich hatte die Vorschrift etwas Anderes im Sinn. Es ging darum, die Wand sauber zu halten. Das ist eigentlich auch allen klar. Dummerweise hat die Stadt vergessen, dass auch Grafitti eine Wand verunzieren können. So bleiben die Sprühkolonnen unbehelligt, während beispielsweise der Sonntagsflohmarkt während der Veranstaltung nicht einmal für ein paar Stunden mit Klebeband einen Wegweiser aufhängen darf.</p><p>Das kommt Ihnen lächerlich vor? Dann schauen Sie sich die Diskussion um die Befolgung der aktuellen Corona-Regeln an. Da höre ich immer wieder die Frage, ob irgendetwas noch "erlaubt" ist. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, ob das, was ich vorhabe, die Infektionen begünstigt oder nicht. Wenn ich an einem Nachmittag hintereinander fünf Freunde besuche, mag jedes einzelne Treffen die Begegnung von Personen aus maximal zwei Haushalten und damit zulässig gewesen sein. Tatsächlich war ich ein potenzieller Superspreader, weil ich eine Infektion einschließlich des meinigen durch sechs Haushalte geschleppt haben kann.</p><p>Was wir gerade erleben, sind Millionen Menschen, die Vorschriften befolgen, statt sich zu fragen, was der eigentliche Sinn ist. Besonders deutlich wird dies bei der Diskussion um die 15-km-Regel. Wenn ich in einem Gebiet mit besonders hoher Inzidenzzahl lebe, darf ich mich nur maximal 15 Kilometer von meinem Wohnort entfernen. Wir brauchen uns nicht darüber zu unterhalten, dass diese Regel idiotisch ist. Worüber wir uns aber noch weniger zu unterhalten brauchen, ist die Frage, ob die 15 Kilometer vom Ortskern, meiner Haustür oder dem Stadtrand gemessen werden und warum 14,9 Kilometer noch völlig OK, aber 15,1 Kilometer hoch infektiös sind. Ich habe nicht Medizin studiert, aber auch so kann ich Ihnen versichern: So ein Virus schleppt keinen GPS-Empfänger zur Entfernungsbestimmung mit sich herum.</p><p>Das war auch nicht Ziel der Regel. Die Behörden wollten eine Handhabe gegen Leute haben, die zur Erholung aus ihrem Corona-Hotspot übers Wochenende zur Alm-Gaudi nach Oberhof fahren. Die Frage ist nur: Wie formuliert der Gesetzgeber das am besten? Lesen Sie sich einmal die Verordnungen durch, in denen die Kommunen die Grenzen der Innenstadtzonen beschrieben, wo Maskenpflicht herrscht. Da stehen dann Sätze wie "ab Herberstraße 48 bis 64 bis Kreuzung Kronauer Straße 19a bis Berliner Platz, von dort in gerader Linie zur Einmündung Goetheweg linke Straßenseite bis Gonzheimer Gasse..." und so weiter, Sie verstehen das Prinzip. Gern sind diese Beschreibungen auch noch mit Uhrzeiten versehen (außer an Sonn- und Feiertagen, dann eine Stunde später). Das liest kein Mensch, und noch weniger verstehen es. Sinnvoll wäre: "Sobald ihr euch unter Leute begebt, am besten immer, wenn ihr das Haus verlasst - Maske auf." Das sieht nur als Verordnungstext seltsam aus. Und so muss ich mich von irgendeinem besonders eifrigen Uniformträger zurechtweisen lassen, wenn ich mutterseelenallein im Stadtpark auf einer Bank ein Buch lese, während es völlig OK ist, wenn ich wochenlang mit der gleichen verdreckten Maske in der verstopften U-Bahn herumfahre.</p><p>Deswegen: Ich habe keine Lust, mit Ihnen über Maskentypen, Entfernungen, Uhrzeiten und Zahl von Haushalten zu diskutieren. Das Virus liest keine Verordnungen und denkt sich: "Oha, da steht, ich darf Leute erst anstecken, wenn sie sich näher als 1,50 m kommen. Das hier sind aber 1,54 m, ich muss also noch warten." Die Infektionszahlen sind durch die Decke gegangen, nicht etwa obwohl, sondern gerade weil wir uns seit 11 Monaten exakt an die Vorschriften halten. Jede Vorschrift hat Schlupflöcher. Das kennen wir vom Steuerrecht. Da kostet sowas nur etwas Geld. Wenn wir die Schlupflöcher der Corona-Verordnungen ausnutzen, kostet das Menschenleben - im Zweifelsfall das Ihrige.<br /></p><p><br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-66327396735956532902021-01-09T07:32:00.003-08:002021-01-10T23:00:41.989-08:00Nicht jede Revolution ist gerechtfertigt<p>Die Polizei hat vor dem Parlament Stellung bezogen, die Gewehre im Anschlag. Langsam wälzt sich eine Wand aus Menschen auf sie zu. Sie tragen Masken. Ihrem Schritt merkt man ihre Entschlossenheit an. Die Polizeischützen zögern. Zwar haben sie Gewehre, während die Anderen zumindest dem Anschein nach nicht bewaffnet sind. Doch es sind viele. Tausende. Wie lang wird die Munition reichen? Selbst wenn: Werden Schüsse die Situation nicht eskalieren? Natürlich, die vordersten Reihen werden sie damit aufhalten können, aber von hinten dringen unzählbar viele nach. Einige werden durchkommen, und was dann? Nicht zuletzt sind die Herandrängenden das eigene Volk, auf die kann man doch nicht einfach schießen. Erst einer, dann immer mehr Polizisten lassen das Gewehr sinken, während die vordersten Demonstranten sie schon fast erreicht haben. Es fallen keine Schüsse, es gibt nicht einmal ein Handgemenge. Ohnmächtig lässt die Polizei die Leute durchsickern, die sich unaufhaltsam ihren Weg bahnen.</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Das ist eine der aufwühlendsten Szenen aus dem an mächtiger Bildsprache ohnehin nicht armen Film "<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/V_for_Vendetta_(film)">V for Vendetta</a>" aus dem Jahr 2005. Am Ende steht die Sprengung des Parlaments in London. Ich mag diese Szene. Ich mag ehrlich gesagt den ganzen Film. Ich mag den Gedanken, dass sich das Volk gegen ein verbrecherisches Regime erhebt und ein Parlament, das schon längst seine Legitimation verloren hat, für das Volk zu sprechen, in die Luft fliegt.</p><p>Am Abend des 6.1.2021 sah ich <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sturm_auf_das_Kapitol_in_Washington_2021">ganz ähnliche Bilder</a> im Fernsehen, aber ich mochte sie nicht. In Washington hatte sich ein wütender Mob vor dem Washingtoner Kapitol versammelt, angestachelt von ihrem inzwischen komplett durchgeknallten Präsidenten, der nach über 50 erfolglosen Gerichtsverfahren immer noch davon faselt, in einem Erdrutschsieg die Wahl gewonnen zu haben, ein Komplott der Demokraten-Partei die Ergebnisse aber verfälscht und ihn um seinen Sieg betrogen hat. Jetzt, wenige Tage danach, sind die genauen Abläufe noch nicht ermittelt, deswegen mag sich meine Darstellung als falsch erweisen. Im Moment scheint es jedenfalls so, als sei jede Müllkippe besser gesichert als das Parlamentsgebäude eines der mächtigsten Länder der Welt. Die zum Schutz abgestellte Polizei scheint auch weder gut ausgerüstet, noch übermäßig motiviert, ihre Aufgabe zu erfüllen. Irgendwann lässt sie die Leute einfach durch, die daraufhin das Haus stürmen, Büros plündern, den Plenarsaal verwüsten. Im Gebäude scheint es vereinzelt Schusswechsel zu geben. Fünf Personen sterben, sowohl Sicherheitskräfte als auch Zivilistinnen. Einige Stunden treibt sich der Mob im Kapitol herum. Erst als gegen 18 Uhr Ortszeit eine Ausgangssperre in Kraft tritt, gewinnt die Polizei langsam wieder die Kontrolle zurück.</p><p>Aus meiner Wortwahl sollte klar geworden sein, dass ich den Sturm aufs Kapitol verurteile, ebenso wie den deutlich kleiner ausgefallenen "<a href="https://www.tagesschau.de/faktenfinder/reichstag-berlin-sturm-fakenews-101.html">Sturm</a>" aufs Berliner Reichstagsgebäude knapp vier Monate zuvor. Bei aller berechtigten Kritik an den in Schieflage geratenen Demokratien in den USA und Deutschland - allein die Tatsache, dass ich an der Regierung herumnörgeln kann, ohne befürchten zu müssen, nachts von einem Rollkommando abgeholt und in ein Foltergefängnis verschleppt zu werden, belegt, wie gut sie noch funktionieren. Wenn mir etwas nicht passt, kann ich dagegen demonstrieren - zugegebenermaßen zu Pandemiezeiten mit Einschränkungen, aber <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Proteste_in_Deutschland_w%C3%A4hrend_der_COVID-19-Pandemie">immerhin</a>. Ich kann eine Partei gründen, einfach so, ganz ohne Hygieneauflagen. Ich kann frei wählen und muss dabei nicht befürchten, dass die Wahl <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_Wei%C3%9Frussland_2020">manipuliert</a> wird. Natürlich gibt es all das nicht geschenkt. Ich muss mich schon um das Funktionieren unserer Demokratie kümmern, doch so lange ich das noch kann, läuft einiges grundlegend richtig.</p><p>Ich habe ein radikales Demokratieverständnis. Das Parlament ist für mich ein Haus des Volkes. Die darin sitzenden Menschen werden von mir bezahlt und sitzen nur dort, weil ich wählen gegangen bin. Meist bin ich mit meinem Votum in der Minderheit, aber auch das gehört zur Demokratie: verlieren zu können.</p><p>Das ist möglicherweise eine der wichtigsten demokratischen Erkenntnisse: Die Macht einer Regierung speist sich nur zum Teil aus denen, die sie gewählt haben. Sie speist sich vor allem aus der Kooperation der üblicherweise über 40 Prozent, die sie nicht gewählt haben. Es reicht nicht aus, die eigene Mehrheit zu bedienen, eine Regierung muss die unterlegene Minderheit zumindest so gut behandeln, dass sie sich nur im Rahmen demokratischer Spielregeln wehrt.</p><blockquote><p>"People shouldn't be afraid of their governments. Governments should be afraid of their people." - V in "V for Vendetta"</p></blockquote><p>Allein schon für diesen Satz lohnt es sich, den Film zu sehen, drückt er doch ein elementares Verhältnis von Regierung und Regierten aus. Über Jahrzehnte haben wir uns damit begnügt, pünktlich zur Wahl Zettelchen einzuwerfen und für den Rest der Zeit uns beherrschen zu lassen. Mit der Zeit entwickelte sich dadurch das Bild vom "Raumschiff Berlin", einem Parlament, das gerade genug Theater für die Öffentlichkeit veranstaltete, um den Eindruck von Volksnähe zu erwecken, ansonsten aber ihr eigenes Spiel spielte und insgesamt die Haltung vertrat, so wichtige Dinge wie Politik doch bitte den Profis zu überlassen. Dass "Stammtischpolitik" bei uns als Schimpfwort gilt, sagt eine Menge darüber aus, wie wir diese Haltung verinnerlichten. Was wir, das Volk, zu wollen haben, wissen doch wohl die Akademiker im Parlament noch am besten. Am Stammtisch, ih, bäh, da sitzen Leute rum und meinen einfach so vor sich hin. Ohne Magister in Politologie. Das geht doch nicht. Ich will nicht sagen, dass am Stammtisch die intelligentesten Gedanken geäußert werden, aber den Stammtisch als meinungsbildendes Mittel pauschal zu verunglimpfen, ist <a href="https://www.perlentaucher.de/buch/owen-jones/prolls.html">Dämonisierung der Arbeiterklasse</a> aus der Zeit des Thatcherismus.</p><p>Es war also Zeit, dass sich die Leute wieder auf die Bedeutung des Worts "<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie">Demokratie</a>" als "Volksherrschaft" besinnen. Dass sich diese Bewegung ausgerechnet an der Frage entzündet, ob ein hauchdünnes Stück Stoff vor der Nase einen schwerwiegenden Eingriff in unsere Freiheitsrechte darstellt, befremdet mich dabei. Ehrlich gesagt empfinde ich den erneuten Versuch, weltweit die <a href="https://www.heise.de/hintergrund/EU-Regierungen-planen-Verbot-sicherer-Verschluesselung-4951415.html">Sicherheit elektronischer Kommunikation</a> auszuhebeln, damit Ermittlungsbehörden uns besser überwachen können, als wichtigeren Grund zu protestieren, aber was weiß schon so ein IT-Zausel.</p><p>Ich habe deswegen überhaupt keine Schwierigkeiten damit, dass Menschen vor Parlamente marschieren, um klarzustellen, wer von wem abhängt. Sehr große Schwierigkeiten habe ich damit, wer aus welchem Grund und mit welchen Mitteln dort gerade aufmarschiert.</p><p>Wenn Menschen für die Freiheit auf die Straße gehen, ihr Umfeld mit einer potenziell tödlichen und oft dauerhafte Schäden hinterlassenden Infektionskrankheit anstecken zu dürfen, finde ich das schon seltsam genug. Noch viel bizarrer finde ich es, wenn sich Millionen Menschen in den USA sicher sind, dass es einer Partei gelungen ist, Wahlen in mehreren Bundesstaaten so zu manipulieren, dass kein einziges Gericht diesen Betrug erkennt. Mit viel gutem Willen nehme ich hier schlichte Blödheit an. Viel wahrscheinlicher finde ich, dass Millionen US-Bürgerinnen sich eine Diktatur wünschen und Wahlen nur dann anerkennen, wenn sie in ihrem Sinn ausfallen. Diese Leute wollten nicht putschen. Sie waren überzeugt, ihrem Land zu dienen. Weder in Berlin, noch in Washington handelten sie im Bewusstsein, Recht zu brechen, sondern sogar umgekehrt in der Überzeugung, Recht und Freiheit zu verteidigen. Dass diesen Leuten ihr wahres Handeln nicht klar ist, stellt die eigentliche Gefahr dar.</p><p>Ich finde es nicht schlimm, wenn das Volk gelegentlich die Muskeln spielen lässt, selbst wenn der Anlass noch so idiotisch sein mag. Der Spaß hört dann auf, wenn sie wie in Berlin geschehen, Abgeordnete bedrohen oder, schlimmer noch, das Parlament an seiner Arbeit hindern. In Washington hatte es eigentlich eine reine Formalie zu erledigen, die im Lauf der Jahrhunderte streng genommen überflüssig geworden war. Die Auszählungen waren abgeschlossen, die Einsprüche abgearbeitet, die Neuauszählungen ebenfalls, die Wahlleute hatten den neuen Präsidenten schon bestimmt. Es ging nur noch darum, in einem feierlichen Akt noch einmal festzustellen, dass die nun aus den Bundesstaaten nach Washington geschafften Stimmen auch korrekt ausgezählt worden waren. Es gab keinen Anlass, daran zu zweifeln. Schon der Versuch einiger republikanischer Abgeordneter, in diesem Stadium noch etwas ändern zu wollen, ist an Absurdität kaum zu überbieten. Hitlers Herumgeschiebe längst aufgelöster Truppenverbände im Berliner Führerbunker hatte mehr Realitätsbezug als dieses Vorhaben. Das Parlament schloss also ein nach allen demokratischen Spielregeln juristisch komplett geklärtes Vorgehen ab. Es kam exakt seinen Aufgaben nach. Es hierbei zu behindern, ist keine Lappalie, kein in irgendeiner Weise gerechtfertigter Protest. Die Behinderung des Parlaments ist schlicht ein Verbrechen, das ganz tief in demokratische Prinzipien eingreift. Wenn mir etwas nicht passt, habe ich das Recht, Gerichte einzuschalten. Ich darf Petitionen aufsetzen, Protest organisieren, Abgeordnete anrufen, meinetwegen auch ihre Sprechstunden besuchen. Das kann sogar was bringen. Wenn aber ein frei, geheim und gleich gewähltes Parlament zusammentritt, um sich entsprechend seiner verfassungsgemäßen Rolle zu beraten, dann ist ein Moment erreicht, an dem es nicht gestört werden darf. Das ist kein romantisches Ideal, sondern eine Erfahrung, die wir immer wieder sammeln mussten. Gerade in Deutschland haben wir gesehen, was ein Parlament wert ist, das nur noch als Kulisse für Ansprachen seines Diktators dienen darf. Nein, die Ungestörtheit des Plenums ist eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie.</p><p>Und all das ist bei "V for Vendetta" nicht gegeben.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-40466093782688598282021-01-09T04:21:00.005-08:002021-01-24T08:00:40.540-08:00Triage auf den Straßen<p>Vielleicht hilft es, den ganzen verlogenen Corona-Debatten der vergangenen Wochen zu etwas mehr Ehrlichkeit zu verhelfen, indem wir die eigentliche Frage einmal aussprechen: Wie viele Leute sind wir bereit, für den Erhalt des Kapitalismus zu töten?</p><p><span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Besonders ärgert mich die Scheinheiligkeit bei der Frage, ob und wie wir die Schulen wieder öffnen wollen. Welch Horrorszenarien da heraufbeschworen werden, von Horden verblödet durch die Gassen irrender Kinder, wenn wir sie nicht sofort wieder den Segnungen unseres modernen Bildungssystems aussetzen, mit abbruchreifen Klassenräumen, heruntergewirtschaftetem Unterrichtsmaterial und akademischer Ausschussware als Lehrkräften.</p><p>Jahrzehntelang war uns als Gesellschaft Bildung völlig egal. Wer hier investiert, erwartet bestenfalls in einem Jahrzehnt, eher in zwei irgendwelche Erfolge - viel zu weit entfernt für eine Politik, die in spätestens vier Jahren zur nächsten Wahl etwas vorweisen muss. Also haben wir irgendwelche auf Massenabfertigung optimierten Schulgebäude in die Gegend gepflanzt, unsere Kinder reingestopft und den Apparat dann sich selbst überlassen. Ich weiß, das ist nicht gerecht, immerhin gibt es Elternbeiräte, aber die waren meist auch nicht mehr als das Aufeinandertreffen von Leuten, die per definitionem keine Ahnung von Pädagogik haben mit solchen, die eigentlich Ahnung hätten haben sollen. Letztlich war es auch egal, am Ende der Schullaufbahn purzelten zuverlässig genug Leute raus, die wir gewinnbringend in die Büros und Fabriken schicken und somit das System laufen lassen konnten.</p><p>Das alles brach im März 2020 zusammen, als viele von uns in die Heimarbeit geschickt wurden, wo wir auf ein paar ratlose Gesichter stießen, die sich als unsere Kinder vorstellten und uns mitteilten, wir sähen uns in den nächsten Wochen wohl etwas häufiger, weil die Schulen geschlossen sind.</p><p>Wer so wie die meisten von uns in Mietskasernenwohnungen wohnt, die für längeren Gebrauch unter Vollbelegung nicht ausgelegt sind, wird sich an die wochenlangen Reibereien während der Ausgangsbeschränkungen erinnern sowie die Erleichterung, als im Frühsommer die Infektionszahlen sanken und wir uns draußen wieder fast normal bewegen konnten. Die Kinder konnten wieder raus, wir wieder zur Arbeit, und die Kassandras, die uns für den Herbst, spätestens Winter eine zweite Infektionswelle ankündigten, gegen welche die Ereignisse im Frühling ein seichtes Plätschern waren, konnten uns gepflegt den Buckel runterrutschen.</p><p>Mit anderen Worten: Wir hatten ein Vierteljahr Zeit. Drei Monate, in denen wir uns hätten ansehen können, ob <a href="http://Stud.IP">Stud.IP</a>, <a href="https://moodle.org/">Moodle</a>, <a href="https://www.microsoft.com/en-ww/microsoft-365/microsoft-teams/group-chat-software">Teams</a>, <a href="https://zoom.us/">Zoom</a>, <a href="https://www.collaboraoffice.com">Collaboraoffice</a>, <a href="https://www.onlyoffice.com/">Onlyoffice</a> oder irgendeines der anderen Werkzeuge, das wir uns im März unter enormen Zeitdruck gegriffen haben, auf lange Sicht wirklich zu uns passt. Wir hätten unsere hemdsärmlig improvisierten Konzepte überarbeiten und überlegen können, wie wir den gewohnten Schulunterricht nicht 1:1 ins Internet hieven, sondern mit den sich ergebenden Einschränkungen umgehen und die neuen Möglichkeiten nutzen. Das ist keine Aufgabe, die wir wie im März innerhalb weniger Tage lösen können, aber drei Monate ernsthafte Arbeit hätten etwas gebracht. Statt dessen haben wir - nichts unternommen.</p><p>Genau genommen war es sogar noch weniger als nichts. Wir haben zurückgebaut. Das kollektive Aufseufzen aus den Lehrerzimmern war schon fast hörbar. Ein Glück, wir können zurück zum gewohnten Trott, wir müssen uns nichts Neues ausdenken, wir verhalten uns einfach so, als hätte es den Lockdown im Frühjahr nie gegeben. Ich habe Schulen erlebt, in denen die hastig angeschafften Laptops und Tablets hastig weggeschlossen und den Lehrerinnen verboten wurde, sie zu benutzen. Begründung: Diese Geräte seien ausschließlich für den Fall da, dass während eines Lockdowns Kinder aus armen Familien welche ausleihen können. Das ist etwa so als weigere sich Rewe, Lebensmittel zu verkaufen, damit am Freitag genug abgelaufene Ware für die Tafeln da ist - in gewisser Weise der richtige Gedanke, aber trotzdem unfassbar doof.<br /></p><p>Ich habe in dieser Zeit viel Radio gehört. Keine Woche verging, an der nicht irgendeine Bildungsexpertin die Alternativlosigkeit der Präsenzunterrichts verkündete. Ich will gar nicht bestreiten, dass es bestimmte soziale Erfahrungen gibt, die sich digital nur schwer vermitteln lassen: in der Klassenhackordnung ganz unten zu stehen und damit klar zu kommen, vom Schulbulli jeden Tag verprügelt zu werden und von den Eltern erklärt zu bekommen, man dürfe sich nur mit Worten, nicht mit Fäusten wehren oder den Charakter zu stärken, indem man sich wegen seiner Kleiderwahl jahrzehntelang hänseln lässt. Mobbing gehört auch zum Arbeitsalltag Erwachsener, und je früher wir lernen, dass es besser ist, am austeilenden als am einsteckenden Ende der Hierachie zu stehen, umso besser. Irgendwoher muss ja auch die FDP ihre Mitglieder bekommen. Doch Sarkasmus beiseite: Wir sind analoge, keine digitalen Wesen, und selbst in relativ nüchternen Disziplinen wie Mathematik und Naturwissenschaften gibt es Erkenntnisse, die unser Gehirn schneller erfasst, wenn der Körper sie begreifen darf. Pun intended.<br /></p><p>Gleichzeitig schauen wir auf den Kalender, stellen fest, dass wir inzwischen ganz offiziell im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gelandet sind und sich die Realität der Digitalisierung nicht wegdiskutieren lässt. Ich kenne Leute, die das ganz schrecklich finden und am liebsten wieder in die Achtzigerjahre wollen, wo es drei Radio-, drei Fernsehsender, eine Tageszeitung, ein Festnetztelefon, einen Stapel Bücher sowie zwei Deutschlands gab und an dem jeden Abend um 20.00 h in der Tagesschau 15 Minuten lang die Wahrheit verkündet wurde. Eine Zeit, in der Falschmeldungen noch nicht Fake News und Arschlöcher noch nicht Hater hießen, in der zwei große Volksparteien knapp 80 Prozent der Wählerinnen hinter sich vereinten und wir nicht überlegen mussten, ob es "Wähler und Wählerinnen", "Wahler* und Wählerinnen*", "Wahlbevölkerung", "WählerInnen", "Wählende", oder "Wähler_innen" heißt und ob das Suffix mit Stern, Doppelpunkt, Punkt oder Ausrufezeichen angemessen abgetrennt wird. Wir mögen viele Entwicklungen der letzen 40 Jahre ablehnen, aber dadurch gehen sie nicht weg, siehe Klimawandel, und wenn wir alles, was wir doof finden, aus der Schulrealität raushalten, ziehen wir uns lauter kleine Donald Trumps heran. Das können wir gern, aber dann soll sich niemand beschweren, wenn eine Horde Bekloppter den Reichstag stürmt, weil sie die Wahrheit nicht verkraften.</p><p>Doch es ging die ganze Zeit über nicht um Bildung. Es ging darum, Kinder und Jugendliche werktags zuverlässig für ein paar Stunden außer Haus zu schaffen und örtlich definiert wegzusperren (sie freitags für ein paar Stunden draußen rumlaufen und für besseres Klima demonstrieren zu lassen, ging gar nicht), damit ihre Eltern in dieser Zeit im Dienst des Kapitalismus ausgebeutet werden können. Deswegen durfen Fußballspiele nur ohne Publikum stattfinden, weil die Fans sich samstags in überfüllten Bussen und Zügen anstecken könnten. Die gleichen überfüllten Busse und Züge waren aber an Werktagen total unbedenklich, wenn es darum ging, Schülerinnen und Arbeitskräfte durch die Gegend zu karren. Unwidersprochen durften die Verkehrsbetriebe behaupten, es sei ihnen kein einziger Fall bekannt, bei dem sich jemand in öffentlichen Verkehrsmitteln angesteckt hätte: JA NATÜRLICH NICHT, IHR PENNER, WEIL ICH BEI JEDER DRITTKLASSIGEN DÖNER_INNENBUDE MEINE KOMPLETTE STASIAKTE ZWECKS KONTAKTVERFOLGUNG HINTERLEGEN MUSS, WÄHREND DAS EINZIGE, WAS EUCH IN DER RB23 NACH MICHELSDORF INTERESSIERT, MEIN TICKET IST. Wo ihr nichts messt, könnt ihr auch nichts finden, ist das so schwer zu verstehen?</p><p>Nein, ist es nicht. Jeder Depp weiß, dass draußen 1,5 Meter Abstand mit Maske vielleicht einigermaßen Schutz bieten, in einem 26 Meter langen Bahnwaggon mit geschlossenen Fenstern und Türen an den jeweiligen Enden 0 Meter Abstand eine schlechte Idee sind. Doch darum ging es auch nicht. Es ging darum, dass mein Stammgrieche an der Ecke sich gegen eine Ministeriumsauflage nicht wehren wird, während der Versuch ein Daimler-, VW- oder Bayer-Werk sowohl die Betriebsführung als auch die Gewerkschaften in Rage bringt. Mit denen legt man sich lieber nicht an. Deswegen stellen die 5 Minuten Fußweg zum griechischen Restaurant eine tödliche Gefahr dar, während die 80 Minuten, die ich jeden Tag in der Bahn auf dem Arbeitsweg verbringe, total töfte sind. Deswegen muss der Grieche, der die Tische auseinanderrückt, Trennwände aufstellt und auf das Maskentragen achtet, schließen, während meine Tochter acht Stunden täglich ohne Maske dicht gedrängt im schlecht gelüfteten Klassenzimmer sitzen muss. Epidemologisch ergibt das keinen Sinn. Wirtschaftlich sehr wohl. Wir werden schon genug an den insolventen Gaststätten, Hotels und Einzelhandelsgeschäften zu knabbern haben, da können wir uns nicht noch eine zusammenbrechende Industrie leisten. Um das sicherzustellen, müssen wir die Leute dort hinschicken, und damit sie das können, müssen ihre Kinder betreut werden. Also müssen wir die Schulen öffnen. Natürlich werden sich dabei Menschen infizieren, und natürlich werden dabei auch Menschen sterben, aber Hand aufs Herz: Wir haben genug Arbeitslose, die das wieder auffüllen können. Wir opfern jetzt ein paar tausend Leben, weil der komplette Zusammenbruch unserer Wirtschaft noch viel mehr kostet. Im Prinzip haben wir jetzt schon die Triage, nur nicht wie erwartet auf den Intensivstationen, sondern landesweit, in den Schulen, Kindergärten, Fabriken, Bussen und Bahnen.</p><p>Wäre schön, wenn das jemand ehrlich zugibt.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1956406460779136823.post-30165642198647238222020-12-24T13:09:00.006-08:002020-12-26T10:18:08.096-08:00Die Sehnsucht nach dem Führer<p>Wer so wie ich in einer Firma arbeitet, deren Daseinszweck nicht darin besteht, irgendeinen realen Wert zu schaffen oder gar etwas zu leisten, sondern die einzig dazu dient, die Aktionäre zu befriedigen, kennt den in solchen Firmen üblichen erratischen Führungsstil. Das ist auch nicht verwunderlich, denn letztlich ist die Börse nichts mehr als eine Zockerbude für BWLer. Ich weiß, jetzt schreien wieder ein paar Leute auf und erzählen mir aufgeregt was von Trendanalysen, Anlagestrategien und Benchmarks. Ich will auch nicht bestreiten, dass es gewisse Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten gibt, aber das ist ungefähr so wie der Unterschied zwischen Roulette, Black Jack und Fußballtoto. Natürlich ist es wahrscheinlich, dass Bayern wieder Meister wird, aber wenn das von vornherein klar wäre, bräuchten wir keine Bundesliga, und insbesondere, wenn wir nicht auf die komplette Saison, sondern einzele Spiele wetten, wird die Sache schon arg spekulativ. Auch Köln kann gegen Bayern gewinnen.</p><p><span></span></p><a name='more'></a>Ähnlich ist es mit dem Börsenwert eines Unternehmens. Nehmen wir als Beispiel die Deutsche Telekom. Auf Anhieb fällt mir kaum ein berechenbareres Unternehmen ein. Seit dem Börsengang fährt dieser träge Tanker stur seinen Kurs, kauft hier und da was ein, stößt eine andere Sparte ab, aber letztlich müsste schon ein Wunder geschehen, um die Telekom ernsthaft in Bedrängnis zu bringen - zumindest, was das von ihr verkaufte Produkt angeht: Kabel verbuddeln und Signale durchschicken. Als ehemaliges Staatsunternehmen mit einem monopolartigen Marktanteil ist sie darin weder besonders gut noch besonders schlecht, aber genau das reicht zum Bestehen aus. Es geht nicht darum, mit Kampfpreisen neue Kundschaft zu gewinnen, sondern nur, nicht so lausig zu sein, dass die Leute quasi zur Konkurrenz zu gehen gezwungen werden. Ginge es nach diesen Kriterien, müsste ihr Aktienkurs eine Gerade parallel zu X-Achse sein. Tatsächlich startete sie bei etwa 16 €, war im Jahr 2000 kurzzeitig knapp 97 € wert und dümpelt seit dem kurz darauf einsetzenden Crash knapp unter 15 € herum - ohne dass sich am Geschäftsmodell oder den Rahmenbedingungen irgendetwas geändert hätte. Seit 30 Jahren ist Netzbandbreite eine ständig stärker nachgefragte Ressource, und die Telekom bedient diese Nachfrage, indem sie aus dem längst obsoleten Kupferkabel bis zuletzt noch Leistung herausquetscht und sich das Verlegen von Glasfasern üppig vergüten lässt. Mit anderen Worten: Aus minimalen Investitionen zieht sie maximalen Gewinn, also genau das, was Aktionäre lieben. Warum schlägt sich das nicht im Aktienkurs nieder?<p></p><p>Weil es nicht um die wirtschaftliche Leistung eines Unternehmens geht, sondern darum, was die Spekulaten glauben, wie sich die Kurse entwickeln. Genau genommen geht es auch nicht darum, sondern darum, wie die Spekulanten glauben, was die anderen Spekulanten glauben, wie sich die Kurse entwickeln. Noch genauer genommen geht es auch nicht darum, sondern darum, was die Spekulanten glauben, was andere Spekulaten glauben, was wiederum andere Spekulanten glauben, wie sich die Kurse entwickeln. Wenn Sie bis hierhin durch die ständig wirrer werdenden Satzkonstruktionen durchgestiegen sind, werden Sie von selbst darauf kommen: Dieses Spiel lässt sich beliebig weiter treiben, und da niemand genau weiß, welcher Spekulant bis zu welchem Abstraktionsgrad noch mitkommt, ist genau hier die Grenze zum Glücksspiel erreicht. Zugegeben mit einer abschätzbaren Komponente, aber nichtsdestotrotz ein Glücksspiel. Das ist nicht etwa ein ungewollter Nebeneffekt, sondern genau der Grund, warum es überhaupt modernen Börsenhandel gibt. Wäre alles komplett oder wenigstens zum großen Teil berechenbar, interessierten sich viel weniger Leute dafür. Sie kaufen Aktien von Thyssen-Krupp, weil Sie darauf vertrauen, dass es immer Kriege auf der Welt gibt und Sie mit daran verdienen wollen? Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit mag so etwas vielleicht von Belang sein, wenn Sie die Aktien für einige Jahrzehnte halten wollen. Wenn Sie das schnelle Geld (loswerden) wollen, nehmen Sie einen obszön hohen Betrag, investieren den irgendwohin - absurderweise funktioniert der Trick sogar bei fallenden Kursen -, hoffen, dass die Aktie kurz in die gewünschte Richtung schwankt und sammeln mit etwas Glück den Gewinn ein, der allein dadurch entstand, dass der riskierte Betrag ausreichend groß war. Ob das Unternehmen mit Schnellfeuergewehren oder Impfstoffen handelt, kann Ihnen vollkommen egal sein, Sie schauen nur auf Kursschwankungen.</p><p>Mit anderen Worten: Ein börsennotiertes Unternehmen zu leiten, setzt keinerlei Ahnung von Wirtschaft oder - Root bewahre - dem voraus, mit dem das Unternehmen handelt. Jedes Seminar für Leitungspositionen wird Ihnen Management als generischen Prozess predigen, der unabhängig vom gemanagten Objekt funktioniert - sei es ein Krankenhaus oder ein Konzentrationslager. Doch auch das ist Unsinn. Ob Ihre Firma auch nur eine einzige Schraube produziert, interessiert an der Börse niemanden, so lange der Aktienwert stimmt, und das hat zumindest in den Zeiträumen, in denen Aktionäre - nennen wir es freundlicherweise "denken" weniger Bezug zur Wirtschaft als zur Psychologie - Kinderpsychologie, um genau zu sein. Kinderpsychologie für extrem verwöhnte Einzelkinder mit ADHS. Auf Koks. Kinder, die eine brandneue Spielekonsole geschenkt bekommen und sich schreiend auf den Boden schmeißen, weil nur 5 Spiele dabei liegen und nicht 10. Ein paar Minuten später reicht ihnen auch das nicht, weil sie jetzt ein Pony wollen.</p><p>Wer ein Unternehmen leitet, das in Quartalszahlen denkt und nur darauf bedacht ist, kurzfristig bei den Aktionären für gute Stimmung zu sorgen, merkt sehr schnell, auf welch glitschigem Parkett der Tanz stattfindet. Es ist reines Glück, wenn sich der Börsenkurs in dieser Zeit gut entwickelt, und letztlich besteht die ganze Kunst vor allem darin, für vielleicht zwei, drei Jahre ein sattes Gehalt einzustreichen, zu beten, dass keine größeren Katastrophen eintreten und sich rechtzeitig zu verdrücken, bevor selbst der letzte Depp merkt, dass auch die aktuelle Unternehmensführung keinen Schimmer von dem versteht, was in und mit der Firma passiert.</p><p>Im Prinzip ist das Dasein an der Firmenspitze ein reiner Bluff. Die einzig nötige Expertise ist die Fähigkeit zur Selbstdarstellung. Eine der ungeschriebenen Regeln für eine neue Leitung besteht unter anderem darin, nach 100 Tagen Amtszeit eine neue Strategie zu präsentieren. Das heißt nicht, dass die alte schlecht war. Das heißt nur: Seht her, ich zeige Handlungsstärke, indem ich den ganzen Laden einmal umkremple, Abteilungen umbenenne, einige auflöse, andere neu einrichte und jede Menge Leute quer durchs Organigramm schicke. Es ist auch völlig egal, wie viel das kostet, wie sehr die Produktivität nach unten geht oder ob sich tatsächlich etwas ändert. Es geht nur darum, den Aktionären Präsenz zu vermitteln.</p><p>So lautet das Spiel. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich habe inzwischen so oft das Büro und die Abteilung gewechselt, dass inzwischen außer dem Empfang und den Reinigungskräften schon jeder einmal mein Vorgesetzter gewesen ist. Seit Jahren packe ich meine Umzugskartons gar nicht mehr aus. Es lohnt sich einfach nicht. Das soll mir recht sein. So lange ich in Ruhe meinen Kram erledigen kann, will ich nicht klagen.</p><p>Es geht ums Handeln um des Handelns Willen. Ein tieferer Sinn steckt nicht dahinter. Das darf natürlich niemand zugeben, und deswegen wird der ganze Aktionismus in ein wirres Theoriegebäude gesteckt und mit Parolen versehen, die aus dem Motivationskalender nordkoreanischer Diktatoren stammen könnten, von der englischen Sprache einmal abgesehen. Das heißt dann "Customer First" oder "Leading with Brain, Heart and Guts" oder "We value". Dahinter verstecken sich Banalitäten wie "Wir versuchen, beste Qualität zu liefern" oder "Wir behandeln einander mit Respekt". Ich sage es etwas deutlicher: Wenn ein Unternehmen so weit gesunken ist, dass es nötig wird, solche Selbstverständlichkeiten als neue Ziele auszugeben, kann es sich schon einmal nach einem guten Konkursverwalter umsehen.</p><p>Natürlich ist auch der Unternehmensführung klar, was für einen verbalen Blödsinn sie von sich gibt. Noch einmal: Es geht nicht darum, real etwas zu ändern, sondern nur um den schönen Schein. Da liegt es doch nahe, gerade solche in der Praxis völlig klaren Werte zu formulieren. Die verstehen alle, es ist ein Leichtes, sie umzusetzen, und gleichzeitig nach außen zu vermitteln: Sieh her, die sprechen ihre Probleme klar aus.</p><p>Es ist ein Schauspiel, und wir Komparsen sorgen dafür, dass es auf der Bühne gut aussieht. Dafür bekommen wir Geld. Was mich bei der Geschichte peinlich berührt, sind die Leute, die den Blödsinn ernst nehmen.</p><p>Kaum ist die Videokonferenz vorbei, in der die neue Leitung ihre neue Strategie mit Hilfe eines Foliensatzes aus der McKinsey-Versatzstückkiste vorgestellt hat, geht es im Intranet-Diskussionsforum hoch her. Wie großartig die Ansprache doch gewesen sei, wie inspirierend sie gewirkt, welch tiefe Einblicke und doch Weitsicht sie gewährt habe. Na gut, ein Teil wird von den üblichen Schleimern abgesondert, die sich noch nach oben glibschen müssen. Was mich viel mehr beunruhigt, sind die vielen Leute, die den Blödsinn tatsächlich glauben. Leute, die sich den Foliensatz extra noch einmal herunterladen, um ihn sich genau anzusehen und zu verinnerlichen. Nun könnte ich das als Naivität oder Leichtgläubigkeit abhaken, aber ich fürchte, hier offenbart sich etwas Ernsteres: der Glaube an eine Hierarchie der Heiligkeit.</p><p>Für klassische Hackordnungen mag die Ahnnahme, ein Machtgefälle ginge auch mit verschiedener fachlicher Kompetenz einher, noch ansatzweise zutreffen. Der Leitwolf im Rudel konnte schneller, fester und ausdauernder zubeißen als seine Rivalen. Er ist mit einiger Wahrscheinlichkeit das stärkste Tier der Gruppe. Banden und Clans mögen ebenfalls ähnlich funktionieren. Der Mensch an der Spitze schießt schneller, schlägt härter zu, hat weniger Skrupel und hat im Zweifelsfall die meiste Erfahrung. Wer das nicht glauben mag, kann sich gern mit ihm anlegen. </p><p>Firmenhierarchien hingegen funktionieren anders. Oben sitzt nicht unbedingt die Schlaueste oder die mit der meisten Ahnung vom Geschäft. Oben sitzt einfach die Person, die das meiste zu sagen hat. Warum? Weil sie auf diesem Posten sitzt, nichts weiter. Sie ist weder intelligenter, noch erfahrener noch in irgendeiner anderen Weise qualifizierter als der Rest. Zum Glück ist sie auch nicht unfähiger. Sie ist einfach da, wo sie ist, und ihre Aufgabe besteht darin, Entscheidungen zu treffen.</p><p>Besonders schön sehen Sie sowas in militärischen Hierachien. Ganz oben stehen Leute, die körperlich nicht einmal mehr in der Lage wären, mit einem Gewehr ein Scheunentor zu treffen, geschweige denn in irgendeiner Kampfsituation länger als einen Atemzug zu überleben. Die letzten beiden Kriegsministerinnen dieses Landes haben wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Schuss abgefeuert. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie müssen einfach nur Entscheidungen treffen, und diese Entscheidungen sollten nicht allzu blödsinnig ausfallen. Mitunter ist selbst das egal, so lange die Entscheidungen nur schnell genug getroffen werden. Wenn Sie mit Ihrer Einheit auf einem Bahndamm laufen und sich ein Zug nähert, ist es auch relativ egal, in welche Richtung Sie ausweichen, auch wenn links Stacheldraht und rechts ein Sumpf ist. Wichtig ist nur, dass Sie überhaupt ausweichen. Über den Rest denken Sie später nach.</p><p>Ähnlich ist es mit einer Firmenhierarchie. Nur selten noch arbeitet sich hier jemand klassisch hoch. Oft genug kommen Führungskräfte direkt von der Uni oder einer Beraterbutze. Sie bringen nicht unbedingt mehr Erfahrung oder mehr Kompetenz mit als ihre Untergebenen. Die Frage ist nur, ob sie eine von oben herabgereichte Entscheidung in Teilaufgaben gliedern und nach unten durchsetzen können. In einem Schiennenetz werden die Weichen auch nicht größer oder stabiler, wenn Sie näher an den Hauptbahnhof kommen.</p><p>Die Person ganz oben an der Spitze ist also in keiner Hinsicht intelligenter oder weitsichtiger als die Anderen. Sie hat lediglich Zugriff auf andere Informationen und kann deswegen andere Entscheidungen treffen. Wenn sie also eine neue Strategie ausgibt, ist das nichts weiter als eine Richtungsansage, die jede andere Person in dieser Position ebenfalls hätte vornehmen können. Wenn der Kapitän eines Schiffs sagt, wohin es fahren soll, ist der alleinige Sinn, dass nun alle Bescheid wissen. Niemand gratuliert ihm oder klatscht, sondern nimmt die Anweisung zur Kenntnis. Zu nichts weiter ist diese Art von Hierarchie da.</p><p>Den Unterschied zwischen einer natürlichen und einer Firmenhierarchie wollen aber viele nicht wahrhaben. Für sie ist eine Firma so etwas wie die apostolische Sukzession in der katholischen Kirche: Ganz oben steht der Papst mit oberster Lehrautorität als Stellvertreter Christi, draunter die Kardinäle, dann die Bischöfe bis hin zum kleinen Dorfpfarrer. Sie alle stehen in einer Segensreihenfolge und damit nach Kirchenverständnis auch in einer Reihenfolge, was göttliche Autorität angeht. Bischof sticht Pfarrer, weil heiliger, und der Allerheiligste ist der Heilige Vater. Was der sagt, ist sozusagen per definitionem wahr.</p><p>Ich weiß, theologisch ist das alles etwas differenzierter, aber mir geht es um die Obrigkeitsgläubigkeit des normalen Kirchenmitglieds, das wirklich daran glaubt, dass die Sonntagspredigt des Parrers wahrer ist als die eigenen Vorstellungen, aber nichs im Vergleich zu dem, was die oberen Ränge von sich geben. Genau diese Sehnsucht nach einer durch Hierarchie gespeisten Wahrheit spiegelt sich in der Art wieder, mit der Firmenansgestellte auf die Ansagen der Unternehmensspitze reagieren. Es ist der Wunsch, nicht nur eine Anweisung, für deren Befolgen sie ihr Geld bekommen, erhalten, sondern eine göttliche Offenbarung empfangen zu haben. Es ist die Hoffnung, der eigene Platz in der Rangordnung sei nicht mehr oder weniger zufällig, sondern irgendwie gerechtfertigt und irgendwer da oben habe wirklich den Durchblick, verstünde, wie der Laden funktioniert und lenke mit Weisheit und Intelligenz die Geschicke der Firma. Seit unsere Spezies denken kann, sucht sie nach Struktur im Chaos, forscht nach dem Sinn im Durcheinander. Der Gedanke, einfach in eine Welt geworfen zu sein, ohne einen besonderen Grund oder eine Aufgabe, scheint vielen unerträglich. Als Kinder wuchsen wir in der festen Überzeugung auf, unsere Eltern seien allwissende Überwesen, die jedes noch so große Problem meistern und deren Führung wir uns deswegen blind anvertrauen können. Eines der ersten großen Traumata des Heranwachsen besteht in der Erkenntnis, dass unsere Eltern die Welt ganz und gar nicht im Griff haben und mit mehr Glück als Verstand ständig am Rand des Abgrunds herumtänzeln. Statt diese Erfahrung neben vielen anderen hinzunehmen, bleiben wir statt dessen auf der Suche. Es kann doch nicht sein, dass sich alle einfach durchs Leben stümpern. Irgendwo muss es sie doch geben, die Übereltern, deren Gebote wir ungefragt befolgen, in der Gewissheit, das dadurch alles gut wird. Es kann doch nicht sein, dass wir uns ein (Arbeits-)Leben lang irgendwelchen Typen unterwerfen, die keinen Deut besser als wir sind, im Wesentlichen würfeln und uns als Offenbarungsschrift verbrämte Verbaldiarrhoe in der verzweifelten Hoffnung vorsetzen, es möge niemand merken, dass sie genau wie wir auf Sicht durch den Nebel schippern.</p><p>Doch, kann.<br /></p>Publikumsbeschimpfunghttp://www.blogger.com/profile/10054136468612618534noreply@blogger.com0