Montag, 26. Dezember 2011

Arbeitszeit für E-Mails

Man mag es kaum glauben, aber die Deutschen waren einst echte Kerle. Als die Römer - schneidige Jungs, wie wir wissen - den ebenfalls nicht zur Zimperlichkeit neigenden Galliern gezeigt hatten, wo die Streitaxt hängt und mit der gleichen Beherztheit bei den Germanen einmarschierten, kamen sie bekanntlich nicht weit. Sie scheiterten - an schlechtem Wetter und dichten Wäldern. Die Germanen hingegen wussten einen ordentlichen Regenguss zu schätzen, und an zu viel Bäumen ist noch nie jemand gestorben.

Die Zeiten haben sich geändert. Aus den kampferprobten Recken wurden Anzugträger, die im Internet die Wettervorhersage aufrufen, bevor sie das Haus verlassen. Mit dem Anzug kam die Einstellung, dass es dringend an der Zeit ist, über alles und jeden zu jammern, und was es da nicht alles zu jammern gibt: fünfstellige Postleitzahlen - kann sich doch keiner merken, Rechtschreibreform - wir werden alle verblöden, weil wir unseren Hass nicht mehr mit "ß" ausleben dürfen und vor allem: die Politiker, dieses Pack. Da hinterlassen wir denen alle vier Jahre detaillierteste Anweisungen, wie sie sich verhalten sollen, und am Ende handeln die wieder ganz anders. Saubande.

Alles soll sich ändern, nur nicht für mich, für mich soll alles besser werden. Vor allem aber: Schuld haben immer die Anderen. Wenn ich mich ständig verspäte, liegt es am Stau. Wenn ich mich nicht ordentlich konzentriere, liegt es an der Elektrosmog. Wenn ich viel zu dick bin, ist es ein genetischer Defekt. Wenn ich keinen klaren Satz aufs Papier bringe, bin ich Legastheniker. Wenn ich bei der Erziehung meiner Kinder vollständig versage, haben die Bälger ADHS. Wenn ich keine Lust zum Arbeiten habe, leide ich an Burnout.

Burnout ist sowieso das Tollste, was man überhaupt haben kann, deutet es doch an, dass man so unglaublich gerackert hat, dass man ganz dringend einmal ausspannen muss. Hier und jetzt, und ihr müsst mich dafür sogar noch bemitleiden. Bei vielen von denen drängt sich mir jedoch die Frage auf: Freund, dir ist klar, dass man zur Überarbeitung irgendwann einmal mit arbeiten angefangen haben muss? Ich bezweifle ja nicht, dass es hierzulande reichlich Menschen gibt, die allen Grund haben, ausgebrannt zu sein: Krankenpfleger, Polizistinnen, Supermarktkassierer, aber wenn ich mir ansehe, wer in den letzten Wochen in Folge entsprechender Fernsehberichte an sich Burnout diagnostiziert, sollte es mich nicht wundern, wenn sich bald auch Weinbergschnecken melden, weil sie zu viel Stress haben.

Es gehört zum guten Ton, sich über die allgegenwärtige Erreichbarkeit zu beklagen, über die ständige Flut an Anrufen, SMS, Twitter- und Facebookmeldungen, die man bewältigen müsse. Es mag an meinem fortgeschrittenen Alter liegen, aber wenn euch eure Sammlung an Elektrospielzeugen so furchtbar nervt, warum lasst ihr sie dann nicht einfach zu hause? "Es könnte ja was Wichtiges passieren." Oh ja, Babsi hat den "Like"-Knopf gedrückt, das muss man natürlich sofort wissen.

Wer der Aufassung anhängt, aus der technischen Möglichkeit, immer und überall erreichbar zu sein, leite sich die Pflicht ab, jede Sekunde seines Daseins in der Bereitschaft zu verbringen, auf jede eintrudelnde elektronische Kommunikation sofort zu reagieren, wer dies als Belastung empfindet, aber gleichzeitig nicht auf die in ihrer Einfachheit unschlagbare Lösung kommt, wird vielleicht auch die Neuigkeiten von VW begrüßen. Dort kam nämlich der Betriebsrat auf die Idee, nicht nur die  Angestellen hätten sich an die tariflich vereinbarten Arbeitszeiten zu halten, sondern auch der Mails an die Blackberries der Mitarbeiter versendende Server müsse außerhalb der Kernarbeitszeiten in den wohlverdienten Feierabend geschickt und abgeschaltet werden. Fairerweise muss man sagen, dass selbst der Betriebsrat nicht glaubt, dass eine gestresste CPU nach 19 Uhr völlig ausgelaugt nach hause geht und erst einmal 'ne Runde fernsieht, sondern es geht natürlich um die Angestellten, die in ihrer Freizeit nicht mit dienstlichen Mails behelligt werden sollen.

Es gibt eine ganze Reihe Dinge, die mich an diesem Konzept stören. Erstens versucht man hier wieder einmal, ein gesellschaftliches Phänomen technisch zu bekämpfen. Zweitens verwechselt man Ursache mit Wirkung, drittens gibt es reichlich Möglichkeiten, die Flickschusterei zu umgehen.

Es ist nicht der Mailserver, der sich an die Regelarbeitszeiten halten muss, es sind die Menschen, die ihn benutzen. Wenn irgendein Wichtigtuer meint, seine Firma überlebe keine Nacht, ohne dass er seine Mails liest, hat dieser Mensch eine starke Divergenz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, die er dringend mit seinem Therapeuten besprechen sollte. Wenn ein despotischer Chef den Unterschied zwischen Angestellten und Leibeigenen nicht begriffen hat und erwartet, dass sie auch um Mitternacht noch auf Mails reagieren, gehören ihm diese Flausen schnellstmöglich ausgetrieben, aber eben so, dass er versteht, warum er mit seinen Untergebenen anders umspringen muss und nicht so, dass er technisch daran gehindert wird.

Das Stichwort ist "verstehen", und genau darum geht es nicht, wenn ich Serverprozesse abschalte. Es wird weiterhin Mailjunkies geben, es wird weiterhin Chefs mit totalitären Ansprüchen geben. Ich baue vielleicht eine weitere technische Hürde vor ihnen auf, aber ich ändere nichts an ihrer Haltung. Sie werden ihre unheilige Allianz weiter pflegen, und ich sage auch gleich, wie.

In der Gegend und Zeit, aus der ich stamme, gab es etwas, das den Wracks, die ihre geistige Leere zwischen Sohschlmihdija und Weppzwainull austoben, offenbar total uncool vorkommt, wahrscheinlich, weil es dafür keine Äpp gibt: Schalter. OK, sollte sich einer von denen der unerhörten Herausforderung gestellt und diesen Text gelesen haben, der niederträchtigerweise nicht in einen Twiht passt, erkläre ich den Begriff: Wenn ihr euren verkalkten Grämmpa besucht, und der will, dass das Licht ausgeht, dann quatscht der nicht mit Siri, der patscht auch nicht auf den Eikens eines Ei-Fohns herum, der drückt so einen Knopf an der Wand, für den er noch nie ein Appgreht daungelohdet hat, aber er päfoomt richtig supi, und - schwupp! - ist es dunkel. Einfach so. Das Gleiche geht auch mit Hänndihs. Es ist zwar mitunter etwas umständlicher, man muss etwas warten oder noch eine Rückfrage beantworten, aber danach wird das Dissplehj dunkel, und es hat sich was mit weltweiter Kommunikation. Einfach so.

"Ja, aber das geht ja nun überhaupt nicht." Warum, weil ihr zu blöd seid, euer Telefon auszuschalten? "Nein, weil mich dann auch meine Freunde nicht mehr erreichen können." Davon abgesehen, dass wir unter "Freunden" Unterschiedliches verstehen und ich die Zombies, die meine Facebook-Wall mit ihrer Artikulationsunfähigkeit besudeln, nicht als meine Freunde ansehe - warum sollte dich irgendwer von denen auf deinem Dienstapparat anrufen? "Na, weil, den nutze ich auch privat."

Ah, wir kommen der Sache näher. Lassen wir einmal außer Acht, dass mir, wäre ich VW-Mitarbeiter,  lieber die Hand abfaulte als dass ich in ihr länger als unbedingt nötig ein Relikt aus der Steinzeit des Kommunikationszeitalters wie ein Blackberry hielte, stellt sich doch die Frage, was mich auf die Idee bringen könnte, das auch noch privat zu nutzen. Ist es Geiz? Zahlt die VW-IT so karge Löhne, dass es nicht einmal für ein eigenes Telefon langt? Ist es Faulheit? Kann ich zwar vom Notebook bis zum Autoschlüssel allen möglichen Krempel mit mir herumschleppen, aber für ein zweites Telefon ist auf einmal kein Platz mehr? Telefoniere ich privat so wenig, dass sich für die wenigen Anrufe kein eigenes Gerät lohnt? Welche Ausrede ich auch immer wähle: Ich verlange von meinem Arbeitgeber, dass er mir  die Hardware für meinen privaten Fetisch liefert, aber ansonsten soll er sich aus meinem Privatleben heraushalten.

Genau hier liegt der Punkt: Wann immer ich Berufliches und Privates vermische, habe ich Nebenwirkungen, die ich nicht sauber geregelt bekomme. Das fängt beim privaten Surfen am Arbeitsplatz an und endet noch lange nicht beim privat genutzten Diensttelefon. Allein schon aus rechtlicher Sicht kommt man in fragwürdige Situationen, weil dienstliche Kommunikation nicht unter das Brief- Post- und Fernmeldegeheimnis fällt, und die Firma nicht nur das Recht hat, in diese Kommunikation hinein zu sehen, sondern als TK-Anbieter sogar die Pflicht. Heraus kommen gewundene Betriebsvereinbarungen, in denen man zu regeln versucht, dass man die privaten Mails der Mitarbeiter nicht liest, aber es könnte und zur Not auch wird. Eine ähnliche Situation herrscht bei dienstlichen Mobiltelefonen. Hier kommen noch steuerliche Aspekte wie das Gewähren geldwerter Vorteile hinzu. Natürlich sieht die Firma, wann ich wie lange mit wem rede, und den VW-Abteilungsleiter will ich sehen, der, obwohl es ihn eigentlich nichts angeht, nicht neugierig wird, wenn auf der Anrufsliste seiner Mitarbeiter plötzlich Telefonate mit Toyota-Nummern stehen. Doch lassen wir die Paranoia beiseite. Bis 16:59 Uhr darf ich meine Leute mit Mails auf ihr Blackberry bombardieren, aber Gongschlag 17 Uhr ist Ende? In einer funktionierenden Welt sähe es doch so aus: Um 17:08 Uhr schreibt der Teamleiter eine Mail und denkt sich: "Wäre schon, wenn das heute noch erledigt würde, aber es hat auch bis morgen Zeit." Der Mitarbeiter sieht, dass auf dem Dienstmailkonto eine Mail eintrifft, überlegt sich, ob er sie überhaupt nach Feierabend lesen, geschweige denn bearbeiten möchte und entscheidet im Zweifelsfall, dass die Mail auch morgen noch wahr ist. In einer nicht funktionierenden Welt hingegen sitzt der Abteilungleiter in Gutsherrenmanier vor seinem Rechner und entscheidet, dass vier Stunden Schlaf mehr als ausreichend für seine Vasallen sind und dass die so gewonnene Zeit ganz hervorragend mit der Vorbereitung einer Präsentation verbracht werden kann. In einer nicht funktionierenden Welt sieht der Mitarbeiter sein Blackberry blinken, steht sofort innerlich stramm, immerhin ist es ein direkter Befehl von oben und legt los. Glauben Sie wirklich ernsthaft, an diesem Verhältnis ändere sich etwas, wenn man den Mailserver abschaltet? Wissen Sie, was dann passiert? Dann ruft der Chef einfach an, nicht einmal oder zweimal, sondern so lange, bis der Untergebene rangeht, und reagiert der Kerl nicht, dann sieht es schlecht für ihn aus, wenn das nächste interessante Projekt vergeben wird. Übrigens ist entgegen landläufiger Ansicht der VW-Mailserver nicht das weltweit einzige System zum Austausch elektronischer Post. Da gibt es massenweise Alternativen wie web.de, Yahoo, Googlemail, Freenet, Arcor, GMX, nennen Sie irgendwas. Was so ein richtiger Drecksack von Chef ist, lässt sich von seinen Knechten deren private Mailadressen geben, und ich kenne Firmen in denen Abteilungsleiter mit Sitz im Betriebsrat (!) von ihren Mitarbeitern deren private Telefonnummern einsammelten, damit sie über die Weihnachtsfeiertage erreichbar sind. Können Sie sich vorstellen, wie egal solchen Leuten die firmeninternen Mailverteiler sind?

Was der VW-Betriebsrat da unter allgemeinem Jubel und mit großer Geste durchgesetzt hat, ist eine typische Placebomaßnahme, die man dann ergreift, wenn man zu dumm, zu faul oder anderweitig nicht in der Lage ist, die Verhältnisse zu ändern, aber mit irgendeiner tollen Meldung an die Öffentlichkeit treten muss, um die Illusion von Engagement zu hinterlassen. Was heraus kommt, sind Ideen, die im frühen 19. Jahrhundert funktioniert und ihre Berechtigung hatten, heute aber Bevormundungen und Potemkimsche Dörfer sind. Man erschießt den Boten. Was tatsächlich gebraucht wird, ist eine Änderung im Betriebsklima, ist eine Arbeitswelt, in der es nicht darum geht, die vertraglich vereinbarte Regelarbeitszeit abzusitzen, sondern Aufgaben zu erledigen. Ich habe Teams erlebt, in denen gute Zusammenarbeit und Ergebnisse im Zentrum standen, in denen Chefs und Mitarbeiter Regeln flexibel auslegten und jeder am Ende zufrieden war. Formal gesehen hätten die gegenseitigen Zugeständnisse gereicht, um das ganze Team fristlos vor die Tür zu setzen, aber komischerweise waren es gerade diese Teams, die unternehmensweit die besten Ergebnisse vorzuweisen hatten. Das Rezept war Souveränität. Jeder gestand dem Anderen zu, selbst entscheiden zu können, wie er seine Arbeit gestaltet. Gute Arbeit wurde nicht dadurch schlechter, dass sie vor 15 Uhr, und schlechte nicht dadurch besser, dass sie nach 23 Uhr erledigt wurde.

Wer wirklich etwas für die Arbeiter erreichen will, sorgt für eine Welt, in der nicht eine Regel bestimmt, wann sie gefälligst glücklich zu sein haben, sondern in der sie glücklich sind, eine Welt, in der Vorgesetzte Teams leiten, die ihr Wissen nicht aus BWL-Seminaren und Managementschulungen sondern aus dem Leben beziehen, eine Welt, in der die Arbeit, die ich notgedrungen leisten muss, um überleben zu können, keine Beleidigung der menschlichen Spezies darstellt, sondern einen Sinn ergibt. Sinn, wohlgemerkt. Das ist etwas Anderes als ein Aktienkurs.

Das ist natürlich weit mehr, als ein einzelner Betriebsrat je wird leisten können, aber er kann seinen Beitrag dazu geben. Man braucht dazu allerdings Phantasie und echtes Interesse an seiner Aufgabe - mehr jedenfalls als einen Cronjob auf einem Mailserver.