Es war das Jahr 2009 - das Jahr der Netzbewegung. Lang hatte es sich angebahnt, jetzt war offenbar der Zeitpunkt gekommen. Das Internet war lang genug schnell und billig, um nicht nur ein paar Technikenthusiasten und Berufssurfer anzulocken, sondern um Heimat für alle zu bieten, die wussten, was ein Browser ist. Ganz zart deutete sich bereits an, dass auch mobiler Datenverkehr eine große Zukunft haben könnte. Zwar saß in der Bahn noch nicht jeder über sein Telefon gebeugt, aber selten war dieser Anblick auch nicht mehr. Vieles war im Auf- oder Umbruch. Soziale Netze waren das große Thema, aber welche von ihnen am Ende übrig blieben, war noch nicht entschieden. Eine Bundestagswahl stand an - eine Wahl, in der die ohnehin nicht als Liebeshochzeit zustande gekommene Große Koalition klären wollte, wer künftig weiter regieren sollte: Schwarz-Gelb oder Rot-Grün. Das große Aufregerthema des kommenden Wahlkampfs war noch nicht gefunden, aber eins wusste man: Wer dieses Thema besetzen kann, verbessert seine Chancen enorm.
In dieser etwas aufgeladenen Stimmung kam die damalige Bundesfamilienministerin auf die Idee, sich als die große Kinderschützerin zu profilieren. Der Weg sah vermeintlich idiotensicher aus: Man baut im traditionell technophoben Deutschland das Internet als Feindbild auf. Dort, so lautete die Botschaft, wimmle es nur so von Menschen, die Kinder vergewaltigten, davon Bilder anfertigten und sie für horrende Summen verkauften. "Millionenbeträge" wechselten dort monatlich den Besitzer, verkündete die Ministerin. Die Lösung sei ebenso simpel wie effektiv: Netzsperren, Stopschilder.
Unschuldige Kinder auf der einen, das böse Internet auf der anderen Seite - was konnte da schon großartig schief gehen? Viel. Innerhalb weniger Wochen formierte sich im bis dahin politisch eher desinteressierten Internet ein Protest. Man sprach nicht von "Sperren" sondern von "Zensur", allen voran eine bis dahin komplett unbedeutende Gruppe, die sich "Piratenpartei" nannte und das Sommerthema werden sollte.
Als Nebeneffekt dieses Protests wurde sich "die Netzgemeinde" (ich weiß, dass bei diesem Wort viele Leute zusammenzucken) plötzlich ihrer selbst bewusst. Trotz aller Unterschiede wurde schnell klar: Man teilt gewisse gemeinsame Sichtweisen, Interessen und Humor. So weit im Detail die Auffassungen voneinander abweichen mögen - es gibt eine Gruppe von Menschen, die das Netz als ihren Lebensraum auffassen, und dieses Gefühl begann sich im Jahr 2009 zu manifestieren.
Eine Generation von Netzbewohnern hatte ihr Erweckungserlebnis, und NSFW lieferte den Soundtrack. NSFW, "Not Safe For Work", war ein völlig wirres Podcastexperiment, ins Leben gerufen von Tim Pritlove, einem Podcaster der ersten Stunde, der seinen Freund Holger "Holgi" Klein, einen erfahrenen öffentlich-rechtlichen Rundfunkmoderator einlud, um ohne jedes Konzept einfach über alles zu reden, was ihnen gerade in den Sinn kam. Die beiden Moderatoren konnten unterschiedlicher kaum sein: Tim, CCC-Urgestein, langjähriger Chaosradio-Redakteur und vielen mit seinem davon abgeleiteten Format "Chaosradio Express" bekannt, der eingefleischte und kenntnisreiche Nerd, der aber aus Sicht des Vollblut-Radiojournalisten Holgi nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man dieses Wissen knackig rüberbringt. Holgi hingegen war aus Tims Sicht ein Dampfplauderer, der zwar auf Knopfdruck losreden konnte, dabei aber zu seicht blieb, um von einem Nerd als ernsthafter Inhalt wahrgenommen werden zu können. Tim zauberte ein Nerdthema nach dem nächsten aus dem Hut, und Holgi freute sich mit der liebenswerten Begeisterung eines Kindes darüber oder kommentierte aus der Perspektive des freundlich interessierten Außenstehenden. Sendezeiten spielten keine Rolle. Zwei Stunden waren die Regel, aber es konnten auch schnell drei werden. Obwohl die Sendung kein erkennbares Konzept hatte und sich die beiden auch durchaus einmal nur damit beschäftigten, die verschiedenen Knöpfe ihres Effekgeräts auszuprobieren, funktionierte das Durcheinander großartig. Die Sendungen waren lustig, unterhaltsam, und auch die ernsthafteren Passagen waren sehr anregend. Man musste nicht unbedingt die Standpunkte teilen, aber als intelligenter Denkanstoß taugten sie fast immer.
Die Kunde vom durchgedrehten Chaotenpodcast sprach sich herum, und die Zuhörerzahlen stiegen - so stark, dass die Sendungen rechtlich gesehen schon als Hörfunk einzuordnen waren. Tim und Holgi stümperten sich fröhlich durch ihr nicht vorhandenes Programm, und ihre Hörer lauschten mit Begeisterung.
Nun weiß jeder, der sich ein wenig mit Mathematik beschäftigt hat, dass dem Chaos automatisch geordnete Unterstrukturen innewohnen. Für NSFW bedeutete dies, dass sich nach einiger Zeit gewisse Regeln einschliffen. Aus der überraschend eingetroffenen Hörerpost entwickelte sich ein fester Programmbestandteil, in dem sich Tim und Holgi mitunter stundenlang der Aufgabe widmeten, dutzende Pakete auszupacken, deren Absender sich gegenseitig beim Versuch zu übertrumpfen versuchten, immer obskurere Dinge zu verschicken. Genau wie aber ein einzelner vor Begeisterung kreischender Fan komplett untergeht, wenn der Rest des Publikums ebenfalls vor Begeisterung kreischt, verschwammen die immer aufwendigeren Pakete zunehmend zu einer diffusen Wolke aufmerksamkeitsheischender Superlative. Gleichzeitig wurde auch immer deutlicher, wie Tim und Holgi der Fankult zu Kopf stieg. Sie begannen, das ursprüngliche Konzept "Wir veranstalten das, was uns gerade Spaß bringt" mit "Was wir veranstalten, ist toll, egal, ob es euch gefällt oder nicht" zu verwechseln. Aufkeimende Kritik, stundenlanges Herumgeschmatze könne ja wohl kaum ein Sendekonzept ersetzen, wurde mit einem kaltschnäuzigen "dann hört's euch eben nicht an" abgebügelt, begleitet vom Fanboychor, der jede nicht hinreichend laut jubelnde Äußerung als Ketzerei betrachtete.
Doch selbst Tim und Holgi ahnten, dass Geschenkeauspacken und Unterhaltungen über sündhaft teure Büroartikel auf die Dauer langweilen, und so kam es zu dem Streit, der aus meiner Sicht den Anfang vom Ende markierte: Tim schlug vor, als roten Faden in jeder Sendung einen Film von Stanley Kubrik zu besprechen, was Holgi zum Gegenvorschlag veranlasste, lieber alle James-Bond-Filme zu besprechen. Vom folgenden, teilweise auf Kleinkinderniveau ausgetragenen Zank, was genau man unter niveauvoller Unterhaltung zu verstehen habe und was von den Vertretern der jeweiligen Geschmacksrichtung zu halten sei, hat sich die Sendung nie richtig erholt. In der Folge häuften sich Szenen, in denen Tim gedankenverloren im Netz herumsurfte, statt die Unterhaltung am Leben zu erhalten, Holgi das genervt kommentierte und Tim nicht minder genervt konterte, genau dieses schweigende Herumgesurfe sei es, was die Sendung überhaupt am Leben hielte.
Der letzte Tiefpunkt bestand in der im Kern interessanten Diskussion um die Frage, ob die Piraten nun komplett durchgeknallt seien, weil sie im Wahlprogramm die Forderung nach einem Weltraumaufzug stehen haben oder ob hier endlich eine Partei den Mumm hat etwas zu fordern, was über den Tellerrand hinaus schaut. Auch diese Diskussion wäre es wert gewesen, gefǘhrt zu werden. Statt dessen gingen die beiden Moderatoren wie pubertierende Teenager aufeinander los.
Kurz darauf kam auch das offizielle Aus, und ich muss sagen: gerade noch rechtzeitig, bevor es peinlich wurde. NSFW hatte seine Zeit. Er war der Podcast, der die Netzbewegung auf ihrem Weg zur gesellschaftlichen Relevanz und noch ein Stückchen darüber hinaus begleitete. Ich verdanke dieser Sendung das Wissen über zahlreiche Meme und reihenweise Denkanstöße zu Netzthemen. Unvergessen und in meinen Augen unübertroffen bleibt Holgis Kommentar zur Lücke zwischen den im Fernsehalter stecken gebliebenen etablierten Parteien und den Netzbewohnern, der sich an einem Wikipediaartikel über die CDU entzündete. Holgi las nur: "Durchschnittsalter 56 Jahre. Entschuldige mich einen Moment." Es folgte ein zehnsekündiger, brüllender Lachanfall. Unvergessen bleibt auch ein weiterer Holgi-Lachanfall, als er erfuhr, dass Club-Mate früher so ähnlich hieß wie das Standardgetränk aus dem Film "Idiocracy". Um es kurz zu fassen: Der Rest der Sendung war gelaufen.
Inzwischen hat sich die Netzwelt aber weiter entwickelt, und mit dieser Fortentwicklung wuchs auch der Bedarf nach stärkerer inhaltlicher Differenzierung. Wenn Tim stundenlange Monologe über seine Podcastsoftware halten möchte und Holgi im Gegenzug ausschweifend über irgendwelche Details beim Konzept seines WRINT-Podcasts schwadroniert, kann man das auch gut in eine eigene Sendung "Tim und Holgi reden über ihre Projekte" auslagern, anstatt damit einen Podcast zu füllen, dessen Name auf sehr viel weniger ausgelutschte Themen und etwas mehr Anarchie hoffen lässt.
So ist wieder einmal ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende. Tim und Holgi sei Dank für einige großartige Stunden witziger Unterhaltung sowie die Erkenntnis, ein totes Pferd ließe sich nicht dadurch besser reiten, dass man eine größere Peitsche kauft.