Donnerstag, 13. Juni 2013

Keiner hat die Netzbewegung lieb

Der Netzbewegung muss es unglaublich gut gehen. Erfolg muss sich an Erfolg reihen. Aktive rennen ihr praktisch die Tür ein. Anders ist nicht zu erklären, dass sie alles daran setzt, ihre Leute zu vergraulen - und sich dann noch beklagt, die Leute engagierten sich nicht ausreichend. Zum Verständnis skizziere ich eine beliebige Diskussion auf der Mailingliste einer netzpolitischen Organisation. Ich könnte den Namen nennen, aber eigentlich ist es egal. Das Muster wiederholt sich bei den anderen Organisationen.

Tag 0:

A schreibt in einem Posting: "Wasser ist nass."

B (hat mit A schon lang ein Hühnchen zu rupfen und nimmt begeistert den Ball auf): "Nein, Wasser ist nicht nass." 

C (hat schon seit fast zwei Stunden keine Formaldebatte mehr geführt): "Wir müssen unbedingt vorher definieren, was 'nass' ist." 

A: "Äh, H20." 

B (beschließt, dass Umgangsformen ohnehin nur eitler Tand sind): "Das ist wieder einmal eine weitere Lüge, lies doch endlich mal meine Mails, aus denen einwandfrei hervor geht, dass Wasser viel mehr als einfach nur H20 ist." Es folgen zwei Seiten Rant. 

C: "B hat vollkommen Recht. Wasser besteht eben nicht nur aus H20, sondern noch aus H3O+ und OH- sowie diversen dissoziierten Mineralstoffen und Metallionen. So lange du diesen wichtigen Umständen keine Rechnung trägst, hast du das Wesen von Wasser nicht verstanden, weswegen ich micht jetzt notgedrungen auf dein Niveau begebe und dir Elementarunterricht in Wasserkunde gebe." 

D: "Es heißt Wasser_in."

E: "H3O+ ist zwar ein guter Ansatz, aber leider noch nicht präzise genug. Wie können wir über diese Sache diskutieren, ohne wenigstens diese grundlegenden Begriffe geklärt zu haben?"

Tag 1:

A (schreibt einen zweiseitigen Aufsatz über Wasser)

C: "Das reicht leider nicht aus. Wir müssen auch noch klären, was 'nass' ist." 

A: "Naja, wenn man halt Wasser abbekommen hat." 

E: "Das ist viel zu unpräzise. Ab welcher Menge Wasser spricht man von 'nass'? Reden wir von absoluten oder relativen Mengen? Deckt dieser Begriff auch schweres Wasser ab?" 

A (schreibt einen Konsensantrag) 

B (ist dagegen, weil der Antrag von A ist, offiziell aber, weil Piratenschiffe auf dem Wasser unterwegs sind) 

Zeit (drängt) 

C und E (diskutieren eine Policy, die das Nasssein von Wasser_in regelt - unter der besonderen Berücksichtigung der Tatsache, dass Wasser aus biologischem Anbau an primzahligen Wochentagen bei Menschen mit Migrationshintergrund andere Assoziationen von 'nass' hervorrufen könnte)

Tag 2:


Zeit (drängt noch etwas mehr) 

F (schreibt einen Eilantrag) 

C (findet einen Formfehler und erklärt die Abstimmung für ungültig) 

E (ist generell gegen Schnellanträge und begründet das mit Regularien aus dem Wiki)

F: "Entschuldigung, das Wiki ist so wahnsinnig gut strukturiert, ich kann leider die entsprechenden Regeln nicht finden." 

E: "Jetzt reicht's mir aber. Wie oft muss ich das denn noch erklären? Wer sich auch nur ein bisschen für die Sache interessiert, sollte wenigstens die Zeit aufbringen, das Wiki zu lesen." 

F: "Hab's verstanden. Wo liegt die Seite nun?" 

E: "Meine Güte, das ist doch sonnenklar: wiki/intern:Abstimmungen/Diverses/2003/Meetings/Berlin/Abgeschlossen/Antraege/Policies/Meta/Schnellabstimmung. Ich weiß wirklich nicht, was du bei uns mitreden willst, wenn du nicht einmal das weißt." 

A: "Ich will ja nicht drängeln, aber die Zeit wird nun wirklich knapp." 

C: "Hättest du mal von Anfang an die Sache sauber durchgezogen, müssten wir jetzt nicht wieder hopplahopp alles übers Knie brechen." 

A: "Dann lass uns doch eine normale Abstimmung durchziehen." 

C: "Geht nicht, die Schnellabstimmung läuft doch schon." 

A: "Ich dachte, die sei ungültig." 

C: "Es gibt keine Policy, die das regelt." 

E: "Wir brauchen unbedingt, eine Policy, mit der wir bestimmen, wie über das Abstimmen über Definitionen entschieden wird."

C: "Wie stimmen wir über diese Policy ab?" 

E: "Stimmt, wir brauchen unbedingt eine Policy, die über das Abstimmen über Policies entscheidet, die über das Abstimmen über Definitionen regeln." 

C: "Wo wir gerade dabei sind, sollten wir unbedingt die Policies im Wiki überarbeiten, da sie nicht klar genug regeln, ob Abstimmungen auch dann durchgeführt werden können, wenn der Browser keine Cookies zulässt."

Tag 3:

Nach einigem Hin und Her hat man sich auf eine Resolution geeinigt, die bis hinunter auf Quark-Ebene den Aufbau von Wassermolekülen regelt, jedoch offen lässt, ob es nass ist, weil die Bewohnenden von Überschwemmungsgebieten oder Wüstenregionen sich möglicherweise diskriminiert fühlen könnten. Ab Seite 20 behandelt ein längerer Exkurs die Frage, wie man dazu steht, dass Piratenschiffe auf Wasser fahren können und einigt sich darauf, dass man dies unter der Bedingung akzeptieren kann, dass zeitgleich mindestens eine Entenfamilie und zwei Tannenzapfen in maximal 10 Metern Entfernung schwimmen. Sollte man sich in einem Gebiet befinden, in dem zufällig keine Enten oder Tannen stehen, kann möglicherweise ein Delfinschwarm aushelfen, sofern die Delfine sich vorher eine Woche lang vegan ernährt haben. E und C haben sich wegen schwerer formaler Bedenken am regelkonformen Zustandekommen des Kompromisses dazu entschlossen sich dagegen zu enthalten und erklären auf die verblüffte Nachfrage, was darunter zu verstehen sei, das stünde nun wirklich alles im Wiki und sei in einem Mailinglistenpost aus dem Jahr 2008 verlinkt worden,  wenn man selbst für eine simple Recherche im Mailinglistenarchiv zu faul sei, könne nun wirklich nicht mehr geholfen werden.

Trügerische Ruhe (kehrt ein)

Tag 4:

G: "Wasser ist nass."

A: "Hatten wir das nicht schon mal?" 

B: "Das hättest du wohl gern so. Du hast schon beim letzten Mal ohne jede Absprache das Thema durchgeprügelt. Ich habe endgültig die Nase voll von deiner Gutsherrenattitüde. Wir wissen doch alle, wie gefährlich nasses Wasser sein kann (zwei Seiten Rant folgen)." 

C: "Ich sehe da ebenfalls noch Diskussionsbedarf."

E: "Das müssen wir endlich mal sauber regeln."

Ich breche an dieser Stelle das Protokoll ab. Verstehen Sie jetzt, warum die Netzbewegung nicht voran kommt?

Sonntag, 2. Juni 2013

Buchkritik: Lutz Heuser: Heinz' Life

Dank der Bundeszentrale für politische Bildung kommt man sehr günstig an einige Bücher, die im normalen Buchhandel erheblich teurer und - so meine Meinung im vorliegenden Fall - ihr Geld nicht wert sind. "Heinz' Life" sind die fiktiven Tagebuchaufzeichnungen eines 1962 geborenen Mannes bis ins Jahr 2032. Heinz beschreibt vor allem seine Erfahrungen mit Computern, die anfangs noch riesengroße, den Spezialisten vorbehaltene Klötze sind, in der Gegenwart immer weiter schrumpfen und - so die These des Autorenteams - in der Zukunft sich so weit in Alltagsgegenstände integriert haben werden, dass wir sie als Computer gar nicht mehr wahrnehmen. Die insgesamt 36 Autoren haben dazu jeweils anekdotenhafte und biografische Beiträge gesammelt, die - mal mehr, mal weniger auffällig zusammengestrickt - das Leben des ungebrochen technikeuphorischen Heinz erzählen.

Hier setzen auch meine beiden Hauptkritikpunkte an: Firmenwerbung und bis an die Grenze der Realitätsverleugnung gehende Zukunftsgäubigkeit. Zum Einen merkt man einigen Kapiteln sehr deutlich an, bei welcher Firma deren Verfasser arbeitet. So trifft Heinz mehrfach auf die Firma SAP, und - hey - die macht ja tolle Dinge. Jetzt raten Sie mal, für wen zehn der Autoren arbeiten oder gearbeitet haben.

Doch es ist nicht an mir, die historische Relevanz einer Firma zu beurteilen, die nach meinem Empfinden ähnlich wie Microsoft einen Markt allein deswegen mit einem mittelmäßigen Produkt beherrscht, weil alle Anderen den Kram ebenfalls einsetzen. Fünfzig Millionen Fans können nicht irren. Was mich wirklich ärgert, ist die Blauäugigkeit, mit der Fragen wie Datenschutz, Überwachungsstaat, Umweltverschmutzung, globale Erwärmung und der Abschied vom Erdöl behandelt werden. Datenschutz? Ja, da gab's ein bisschen Ärger, aber da haben wir ein Gesetz geschrieben, und alles war prima. Nicht einmal ein Gesetz brauchte man gegen mangelde Computersicherheit. Auch das war einst etwas ärgerlich, aber dann hat sich ein kluger Kopf ein Programm ausgedacht, und schon hatten die bösen Hacker keine Chance mehr. Mensch, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Klimawandel und abschmelzende Polkappen? Killefitz, da findet schon bald jemand alternative Energieträger. Damit sind dann auch gleich alle Fragen beantwortet, wie man beispielsweise Dünger, Medikamente und Plastik herstellen soll, wenn es einmal kein Öl mehr gibt - und die Polkappen wachsen auch schon wieder. Ich selbst glaube ja auch an eine gute Zukunft, aber in vermute, dass die oben angesprochenen Herausforderungen erheblich mehr als das Fingerschnippen erfordern, mit der sie "Heinz' Life" abhandelt. Solche Kapitel mögen in den 50er und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts noch zeitgemäß gewesen sein, heute sieht man die Lage etwas differenzierter.

Das heißt nicht, dass ich das Buch komplett verdamme. Es liest sich gut, und einige Anekdoten sind durchaus unterhaltsam. Für gerade einmal einen Euro bekommt man schon einen ordentlichen Gegenwert. Mehr Geld hätte mich aber auch geärgert.

Autor: Lutz Heuser, Seiten: 333, Erscheinungsdatum: 13.08.2010, Erscheinungsort: Bonn, Bestellnummer: 1067 Kosten: 1 €