Montag, 19. September 2016

Warum ich die AfD wähle

Blödsinn, natürlich wähle ich die AfD nicht, aber mit dieser Überschrift bekomme ich wenigstens eure Aufmerksamkeit. Korrekterweise hätte ich schreiben sollen: Warum ein Viertel der Wahlberechtigten AfD wählt, aber dann hättet ihr euch gedacht, zu wissen, was jetzt kommt: Oh ja, die böse CSU ist schuld mit ihren Rattenfänger_innenparolen. Horst Seehofer, der Schuft. Die ehemals große Koalition mit ihrer Kaltlandpolitik. Die Hater.innen mit ihren komplett jeder Schulbildung entkleideten Facebookkommentaren. Besonders schuld sind aber die Wählend*innen, die einfach dreist auf dem Wahlzettel ankreuzen, was ihnen in den Sinn kommt. Ohne euch vorher zu fragen, ob sie das dürfen. Was fällt denen ein?

Die Ursachensuche ist komplex, aber in der Politik will man von Komplexität nichts wissen. Einfache Antworten müssen her, und so sucht man nach der einen plakativen Erklärung. Die armen Abgehängten des vom Neoliberlaismus gemeuchelten Sozialstaats sollten es sein, die ihr Heil in den Heilsversprechen der AfD suchen: Es stellt sich heraus: So wahnsinnig schlecht geht es denen gar nicht. Ja, einige von ihnen gehören zu denen, die durch Hartz-IV von genau dem Staat im Stich gelassen werden, in dessen Kasse sie vorher Jahrzehnte lang Steuern und Sozialbeiträge zahlen mussten, aber diese Leute sind nicht das Gros. Es sind auch nicht die Leute, welche in Gegenden mit hohem Ausländeranteil die Schwächen schlecht konzipierter Integrationspolitik erleben. Die gibt es natürlich auch, aber die AfD ist gerade dort stark, wo man schon gezielt nach Ausländern suchen muss, wenn man welche hassen will. Tatsächlich ist allein schon aus numerischen Gründen die AfD-Wählerschaft nicht nur bei irgendwelchen spinnerten rechten Randgruppen zu suchen, sondern mittendrin in der gesellschaftlichen Mitte, bei den, wenn nicht gut, dann doch wenigstens befriedigend Situierten, bei denen mit einer ordentlichen Wohnung, mit einem halbwegs vernünftig bezahlten Arbeitsplatz und mit einer gewissen sozialen Sicherheit. Überspitzt gesagt wählen genau diejenigen deu AfD, die dazu gar keinen Grund haben, und genau hier liegt eine mögliche Ursache.

In der AfD sammeln sich nicht die materiell Ausgegrenzten, sondern diejenigen, die sich vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen fühlen. Jetzt kommen wir auch langsam auf die Idee, wer über Jahre dafür gesorgt hat, dass immer mehr Menschen das Gefühl bekommen, Politik fände nicht mehr mit ihnen, sondern vor allem gegen sie statt: das wart nämlich ihr.

Was? Wir? Wir sind doch so wahnsinnig tolerant und weltoffen. Wir integrieren doch alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist. Wir sind doch für ein buntes Land, voller Vielfalt und faszinierender Subkulturen, ein Land ohne Rassismus, Sexismus, Ableismus und welche -ismen uns noch so in den Sinn kommen. Danke. Ihr habt gerade beschrieben, wie bei euch Ausgrenzung funktioniert.

In eurem Eifer, jede noch so kleine Minderheit zur berücksichtigen, habt ihr eines der zentralen Prinzipien der Demokratie ausgehebelt: Mehrheiten entscheiden. Statt dessen entscheidet, wer sich möglichst theatralisch als Opfer inszeniert. Habt ihr beispielsweise einmal überlegt, wie viele Leute ein Problem damit haben, eine Toilette zu benutzen, weil sie sich nicht entscheiden können, durch welche Tür sie gehen wollen? Wie viele Leute nutzen die Zeit, die ihr beim Sprechen des Gender Gaps lasst, tatsächlich dazu, sich das Geschlecht zu denken, das ihrer Meinung nach am besten passt? Es ehrt euch, Minderheiten zu berücksichtigen. Deren Interessen höher als die der Mehrheit zu werten, treibt die Mehrheit in die Arme derer, die ein allgemeines Gefühl der Unzufriedenheit bedienen.

Die SPD feiert sich für den Abbau des Sozialstaats und ist zu einer neoliberalen FDP-Kopie verkommen. Die Grünen finden Krieg auf einmal total prima, haben einige der schlimmsten und nebenbei auch verfassungswidrigen Überwachungsgesetze mit beschlossen und befinden sich tief im linken Flügel der CDU. Gleichzeitig hat die CDU reihenweise Themen der SPD und der Grünen übernommen. Die Kernkraftwerke - hat die CDU abgestellt. Die Frauenquote in Unternehmensspitzen - hat die CDU eingeführt. Die beiden großen Blöcke schrumpfen und schmelzen zu einem diffusen Meinungsbrei zusammen, der immer weniger Leuten schmeckt. Die sinkenden Prozentzahlen bei Wahlen sind schon beunruhigend genug. Hinzu kommen die absoluten Werte, in denen sich sinkende Wahlbeteiligungen wiederspiegeln. Dort, wo entgegen dem Trend wieder Wähler mobilisiert werden - wandern sie überwiegend zur AfD.

Gerade die Reaktion auf den Effekt, dass aktivierte Nichtwähler vermehrt die AfD wählen, verrät viel über euer Demokratieverständnis. Jahrelang lautete "wählen gehen!" euer Mantra. Hohe Wahlbeteiligung, so glaubtet ihr, sei das Patentrezept gegen Stimmgewinne der Extremisten. Jetzt steigen die Werte, aber leider nicht so, wie ihr euch vorgestellt hattet. Wählen gehen - schön und gut, aber dann gefälligst die Parteien, die euch in den Kram passen! Diese, sagen wir, nicht ganz perfekt durchgezogene Logik taucht bei euch übrigens mehrfach auf. So gilt seit einiger Zeit euer Kampf der so genannten Hate Speech. Was das ist, sagt ihr nicht so genau, und ich habe den Eindruck, ihr wollt euch ganz bewusst nicht festlegen lassen. Der Gag ist nämlich, dass sich alle einig sind, dass Hate Speech etwas Böses ist, und damit habt ihr ein wunderbares Etikett, mit dem ihr nach Belieben alles Unangenehme diskreditieren könnt. Das ist bequem, erspart es euch doch jede inhaltliche Auseinandersetzung. "Hater" draufkleben, Diskussion erledigt. So schmeißt ihr locker zusammen, was nicht zusammen gehört. Die sich in Mord- und Vergewaltigungsfantasien ergehenden Idioten, die auf Facebook keinen Satz zustande bekommen, der die deutsche Sprache nicht weit hinter die Gebrüder Grimm zurückwirft, sind für euch das Gleiche wie Don Alfonso, der für seine Kritik nicht nur deutlich gewähltere Worte findet, sondern viel gezielter ansetzt und die Punkte präziser benennt. Mit dem könntet, mit dem müsstet ihr euch beschäftigen, aber dafür fehlt euch der Schneid. Also nennt ihr ihn "Hater" und glaubt, ihn damit widerlegt zu haben.

Der Verdacht, dass es euch in Wirklichkeit nicht darum geht, rechtlich bedenkliche oder gar zu Gewalttaten aufstachelnde Texte mit rechtsstaatlichen Mitteln zu beseitigen, sondern das Netz in bester orwellscher Manier zurechtzusensieren, dass es euren Spießerfantasien von einem ordentlichen Wohnzimmer mit Knick in den Sofakissen entspricht, erhärtet sich zur Gewissheit, wenn man sich die Bigotterie ansieht, mit der ihr Inhalte beseitigt wissen wollt. Auf der einen Seite drescht ihr wochenlang auf Facebook ein, es solle sich nicht hinter formaljuristischen Argumentationen verstecken, sondern einfach drauf los löschen. Ihr bejubelt die Äußerung des Bundesjustizministeriums, beim Kampf gegen "Hate Speech" solle man auch ruhig ohne rechtsstaatliche Grundlage vorgehen.

Und dann löscht Facebook.

Ja, nee, so hatten wir das auch wieder nicht gemeint, also bitte, ja? Löschen schön und gut, aber doch nicht das. Gemeint ist das Foto des "Napalm Girls", jenes Mädchens, das weinend von einem während des Vietnamkriegs von den US-Truppen bombardierten Dorf wegrennt. Facebook sagte sich: klar, Nacktheit, das passt nicht in unser sauberes Social-Media-Disneyland. Dass diese Argumentation aus jedem beliebigen Blickwinkel einfach idiotisch ist, brauchen wir nicht zu diskutieren. Entscheidend ist: Genau das passiert, wenn man nicht nach klaren Regeln vorgeht, aber das passt in eure Spatzenhirne nicht rein. Ihr fordert Willkürmaßnahmen und beschwert euch dann, wenn sie sich gegen euch richten.

Mit dem Rechtsstaat habt ihr ohnehin eure Schwierigkeiten. Da gab es beispielsweise den Prozess gegen ein drittklassiges Fotomodell, das zuvor mit einer Vergewaltigungsklage gescheitert war. Die junge Frau konnte nicht überzeugend belegen, dass eine sexuelle Handlung gegen ihren Willen geschehen war und musste sich im Gegenzug wegen Rufschädigung verantworten. Sie setzte beim Prozess auf die Strategie, sich weiterhin als Opfer zu inszenieren, und ihr sprangt nur allzu willig auf den Zug auf. Gerichte, rechtsstaatliche Verfahren, alles Firlefanz. Was Recht und richtig ist, das sagt euch euer objektives Gefühl. Dagegen sind selbst die Zwölftafelgesetze noch fortschrittlich.

Die ganze Kläglichkeit eurer Gedankenwelt offenbarte sich Anfang des Jahres, als euch tagelang nicht einfiel, wie ihr mit den Vorfällen vor dem Kölner Hauptbahnhof umgehen solltet. Da waren nämlich Ausländer auf Frauen losgegangen. Nun sind beide Gruppen bei euch als Opfer definiert und damit jede negative Äußerung über sie ein Kapitalverbrechen. Wie beurteilt man aber eine Situation, in der ein armes, hilfloses und nur zu Gutem fähiges Opfer auf ein anderes armes, nur zu Gutem fähiges Opfer losgegangen ist? Zunächst einmal gar nicht, weil dieser Fall in eurer Ideologie niemals hätte eintreten dürfen. Dann aber kam der erlösende Gedanke: Männer. Diese Schweine. Wir ignorieren einfach die Ethnie der Täter und konzentrieren uns darauf, dass es Männer waren, die gegenüber Frauen handgreiflich geworden waren. Puh, Glück gehabt. Fast hättet ihr ernsthaft nachdenken müssen, so jedoch könnt ihr weiterhin eure Schablonen nutzen.

In Eurer Selbstgerechtigkeit geht euch jedes Reflexionsvermögen abhanden. Den militärisch kaum begründeten Mord an tausenden Menschen verhöhnt ihr mit: "Sauerkraut, Kartoffelbrei - Bomber Harris, Feuer frei!" und beklagt euch mit großen Gesten, wenn die Antworten in den sozialen Medien ebenso primitiv ausfallen. Eine Mutter hetzt ihr vierjähriges Kind mit Gedankengut auf, das zum Töten des politischen Gegners aufruft. Doch ihr verurteilt nicht die Verursacherin und deren fragwürdige Erziehungsmethoden, sondern die Äußerungen derer, die sie wild beschimpfen. Hass und Menschenverachtung,so bekommt man den Eindruck, scheinen euch nur dann zu stören, wenn sie von der falschen Seite kommen.

Ab und zu gibt es jedoch Leute, die auf Inhalte Wert legen, aber selbst deren Aktivitäten gehen auf schon fast bemitleidenswerte Weise ins Leere. So feiertet ihr Katharina Nocun für ihre Herkulesaufgabe, das Wahlprogramm der AfD gelesen und nach allen Regeln der Kunst zerlegt zu haben. Dafür gebühren ihr Lob und Anerkennung. Solche Arbeiten wären in einem Seminar für Politologie oder Geschichtswissenschaften hoch willkommen. Politisch gesehen war die Aktion allerdings komplett sinnlos.

Wer bitteschön liest denn vor seiner Wahlentscheidung die Programme der Parteien? Was soll das bringen? Bis auf wenige Sätze steht da allgemeines Gelalle drin, das im Prinzip jeder unterschreiben kann, und die wenigen Passagen, in denen es wirklich zur Sache geht, sind in der Regel genau die, welche als Erstes im Fall einer Regierungsbeteiligung der Realität geopfert werden. Wie eine Partei zu ihren vollmundigen Versprechen steht, kann man in der Regel nur auf eine Weise herausfinden: Man wählt sie und sieht dann zu, wie sie sich anstellen. Um festzustellen, dass die SPD am besten auf ewig von der Kanzlerschaft ferngehalten werden sollte, musste erst einmal Schröder Kanzler werden. Dass eine der Friedensbewegung entstammende Partei mit Hurra in den Krieg ziehen wird, konnte man auch nur herausfinden, indem man die Grünen ins Außenministerium steckte. Hier liegt übrigens auch meine Hoffnung bei der AfD: Wer von einem Fünftel, mitunter sogar einem Viertel der Wähler ins Parlament geschickt wird, muss Ergebnisse liefern, muss aus der Opposition heraus Druck auf die Regierung ausüben und sie immer wieder vorführen. Dafür fehlt aber vielen AfD-Abgeordneten schlicht das Format. Viel mehr als diffuse Vorstellungen, das alles irgendwie doof ist und denen da oben mal so richtig der Marsch geblasen gehört, haben die meisten nicht. Das wird den Wählern aber nicht reichen. Sie wollen sehen, dass sich etwas ändert, und wenn das ausbleibt, verschwindet die AfD bei der nächsten Wahl auch genau so in der Versenkung wie vor ihr Dutzende anderer Protestparteien.

Sollen wir also einfach abwarten, weil sich das Problem schon von selbst erledigen wird? Nein, das wird nicht ausreichen. Wir haben ein Potenzial von 20 Prozent Unzufriedenen, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen, Tendenz steigend. Sollte sich die AfD selbst demontieren, werden diese Leute nicht reumütig in die Arme der SPD oder CDU zurückkehren. Sie werden verzweifelt jeden wählen, der ihnen sagt, dass es in Ordnung ist, so zu sein  wie die Meisten und nicht irgendwas von "Privilegien checken" murmelt. Sie werden die wählen, die nicht von "People of Color" reden, wenn es um Dunkelhäutige geht, und die nicht hysterisch aufschreien, wenn jemand "Behinderte" statt "Menschen mit Behinderung" sagt. Sie werden für die stimmen, die in einer für sie verständlichen Sprache sprechen und sich nicht verbalonanierend hinter pseudowissenschaftlichem Gequatsche über Cis und Trans verschanzen sowie in Diskussionen ohne Tothauerphrasen wie Derailing, Mansplaining oder Victim Blaiming auskommen. Sie lesen keine Wahlprogramme. Sie lesen auch nicht eure seitenlangen Blogposts, in denen ihr triumphierend darlegt, dass die AfD eben keine soziale Partei ist und dass sie sich genau gegen die wendet, deren Interessen sie zu wahren vorgibt. Während ihr herumkräht, dass alle AfD-Wähler Nazis sind, ein total antirassistisches "Nie wieder Deutschland" euren Followern auf den Weg gebt und mit dramatischem Tonfall verkündet, jetzt helfe wohl nur noch Auswandern, sagen sie sich: Nun, ich kann es mir bedauerlicherweise nicht leisten, einfach mal so auszuwandern, und abgesehen davon: Warum? Ich finde dieses Land gar nicht einmal so furchtbar, wie ihr ständig behauptet. Die Leute, mit denen ich gestern am Informationsstand gesprochen habe, wirkten auf mich ganz vernünftig. Wenn das Nazis sein sollen, dann sind die vielleicht nicht so schlimm, wie ihr immer behauptet. Dann kann man die wohl wählen.

Unsere einzige Hoffnung ist, dass die AfD, sitzt sie erst einmal eine Legislaturperiode lang in den Parlamenten, sich im Pöstchengerangel und parteiinternen Kleinkriegen aufreiben wird. Das ist ein extrem riskantes Spiel, und nicht immer gewinnen es die Richtigen. Ich weiß, man muss bei historischen Vergleichen aufpassen, aber in den frühern Dreißigern glaubte man auch, eine in der Wählergunst starke Partei in den Griff zu bekommen, indem man sie mitregieren lässt. Zwölf Jahre und 50 Millionen Tote stellte sich heraus: keine so tolle Strategie. Nun haben wir heute andere wirtschaftliche und politische Verhältnisse, und der oft bei dieser Gelegenheit zitierte Satz von der sich wiederholenden Geschichte ist in dieser Reinheit natürlich auch nicht wahr, aber wenn ich lese, wie in der Union die ersten Stimmen von der AfD als Koalitionspartner reden, frage ich mich, ob unsere Demokratie wirklich so stabil ist, wie wir in den Sonntagsreden immer behaupten.