Lieber Herr Trittin,
es gibt viele Gründe, Sie und Ihre Partei als politische Gegner zu betrachten: die Oberlehrermentalität, den Drang, Gesetze zu erlassen, wo Überzeugen angebracht wäre, der Krieg, den Sie geführt, die verfassungswidrigen Sicherheitsgesetze, die Sie beschlossen haben und, ja, natürlich auch dieses vollkommen idiotische Dosenpfand, das mich zwingt, Plastikmüll wie rohe Eier zum Pfandautomaten zu schleppen, der das Etikett wegen einer winzigen Falte nicht lesen kann oder gerade verstopft ist und dann, wenn er doch ausnahmsweise funktioniert, Sekunden später die mit höchster Sorgfalt dargebrachte Dose zermatscht. Ich könnte noch lange weiter aufzählen: die Quote, explodierende Energiekosten, Abbau des Gesundheitswesens, Hartz IV, die Internetzensur - alles Errungenschaften, die wir direkt Ihnen zu verdanken haben oder wenigstens von Ihnen mit beschlossen wurden. All dies kreide ich Ihnen - zu recht oder nicht - an, aber eines nicht: dass Sie vor 32 Jahren in Göttingen ein unfassbar dummes Wahlprogramm unterschrieben haben. Unfassbar dumm deshalb, weil es eine Passage zur Straffreiheit von Pädophilie enthielt, die heute kein empfindungsfähiges Wesen mehr so stehen ließe.
Das wissen Sie inzwischen selbst. Mehr als das: Sie gaben sogar eine unabhängige Studie in Auftrag und ließen es zu, dass eine Woche vor der Bundestagswahl Ihr schwerer Fehler aus dem Jahr 1981 noch einmal an die große Glocke gehängt wird. Befänden wir uns mitten in der Legislaturperiode, hätte der politische Gegner ein wenig gelästert, Sie hätten sich brav Ihre Tracht Prügel abgeholt, und die Sache hätte sich erledigt. Nun aber befinden wir uns ausgerechnet in der Woche vor der Bundestagswahl, einer Phase also, in der Sachargumente schon lange völlig uninteressant sind und die CDU die Typen aus dem Keller heraus lässt, die sie sonst da unten wegschließt, weil sie selbst für ihre Maßstäbe peinlich sind. Philipp Mißfelder zum Beispiel. Gegen den wirkt selbst Claudia Roth noch intellektuell.
Die CDU, deren Vorgängerpartei das Ermächtigungsgesetz mit beschlossen hat, deren Mitglieder in der NS-Zeit aktiv mitgemordet haben, deren DDR-Ableger das SED-Regime mit unterstützt hat. Die CDU, Akteurin in diversen Parteispendenaffären, die einen ehemaligen Bundeskanzler vergöttert, der in einem Strafverfahren einfach keine Lust hat, als Zeuge auszusagen und dafür nicht belangt wird - diese Partei, die für alle Zeit das Recht verwirkt haben sollte, Begriffe wie "christlich" oder "Moral" auch nur laut auszusprechen, erdreistet sich jetzt also, sich zur moralischen Instanz über Sie zu erheben, ähnlich wie damals, als es in der katholischen Kirche nicht um irgendwelche theoretisch-programmatischen Kindesmisshandlungen, sondern um ganz reale Fälle in Pastorenwohnungen und Schulen ging? Oh, ich höre gerade, das fand damals keiner in der CDU so richtig schlimm, da forderte keiner rückhaltlose und brutalstmögliche Aufklärung. Naja, mit der Kirche verdirbt man es sich ja auch nicht.
Ich krame uraltes Zeugs aus längst vergangenen Tagen hervor? Genau, ich finde das auch albern. Menschen ändern sich, Parteien ändern sich. Jutta Ditfurth wird Ihnen das bestätigen. Baldur Springmann und Petra Kelly könnten das auch, wenn sie noch lebten.
Deshalb wähle ich Sie nicht - nicht wegen der Dinge, die Sie unterschrieben haben, als ich noch ein Kind war, sodern wegen der Dinge, die Sie und Ihre Partei jetzt gerade verschusseln. Darunter ist nichts, was Ihren Rücktritt als Spitzenkandidat rechtfertigte. Sie verkörpern das, was ich an Ihrer Partei nicht leiden kann, und das ist genau der Grund, warum Sie auf diesen Posten gehören. Sie erledigen Ihre Aufgabe gut, und das meine ich ausnahmsweise nicht ironisch.
Wer jetzt die Grünen nicht wählt, weil vor 32 Jahren ein Göttinger Student und Stadtratskandidat ein blödsinniges Wahlprogramm einer in der Gründungsphase befindlichen Partei unterschrieben hat und sich deswegen heute von den öligen Politplacebos einer CDU-Jugendorganisation ankläffen lassen muss, hat es nicht anders verdient, zur Belohnung weitere vier Jahre von einer Partei reagiert zu werden, die den Stillstand zum rautenförmigen Konzept erhoben hat.
Trotz allem viel Erfolg bei der Wahl und einen fairen Wahlkampf wünscht
Ihre Publikumsbeschimpfung