Samstag, 29. April 2017

Herrschaft der Helikoptereltern

Wenn es eines letzten Beweises bedurfte, dass wir eine Gesellschaft voller aufgedunsener Vollidioten mit Luxusproblemen sind, dann ist es diese Meldung: der Aufruf zu den Aktionstagen "zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten". Es geht mir nicht um die Frage, ob diese Aktion sinnvoll ist oder nicht. Es geht mir um eine Welt, in der solche Aktionen überhaupt sinnvoll werden könnten.

Offenbar gibt bringen so viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule oder zum Kindergarten, dass sich hieraus echte Schwierigkeiten ergeben und ein Gegensteuern nötig wird. Da es unwahrscheinlich ist, dass Kinder von allein auf die Idee kommen, sie müssten unbedingt von Mami oder Papi chauffiert werden, frage ich mich, was in den Köpfen dieser Eltern vor sich geht. Was reitet solche Leute, dass sie ihren Kindern nicht einmal zutrauen, ein paar hundert Meter zur Schule zu gehen?

Zu meiner Kindheit gab es dieses Problem nicht, und es ist mir schleierhaft, wie es entstehen konnte. Damals gingen unsere Eltern mit uns den Schulweg ein paar mal mit, damit wir wussten, wo die Ampeln sind, aber spätestens nach einer Woche lautete die Ansage: Da Ranzen, dort Tür, du hast 20 Minuten. Natürlich, ab und zu wurden wir gefahren, aber das blieb die Ausnahme und brachte auch kaum Vorteile. Dass sich seit dieser Zeit eingeschliffen hat, Kindern nicht einmal mehr einen kurzen Fußweg zumuten zu wollen, lässt mich ernsthaft am Verstand der Eltern zweifeln. An der Länge der Schulwege hat sich in den letzten Jahrzehnten nichts geändert. Wir haben weiterhin die gleiche Schuldichte in den Stadtteilen. An der Gefährlichkeit des Straßenverkehrs hat sich allenfalls zum Positiven etwas geändert, weil die Unfallzahlen stark zurück gingen, obwohl immer mehr Autos auf den Straßen fahren. Niemand kann also behaupten, dass der Schulweg derart zum unkalkulierbaren Risiko verkommen ist, dass dieser Gefahr nur noch mit Mamis SUV begegnet werden kann.

Allein schon der Aufruf "schlaue Laufaktionen" zu ersinnen, lässt tief blicken. Es sollte doch nichts einfacher sein, als seinem Kind zu sagen: Pass auf Maximilian-Alexander, du bist jetzt groß genug, ab morgen gehst du zu Fuß zur Schule. Doch die Kinder sind allem Anschein nach auch nicht die Schwierigkeit. Liest man sich den Text auf der Webseite durch, so gewinnt man den Eindruck, dass es hier vor allem darum geht, durchgeknallten Helikoptereltern zu erklären, wie behämmert und kontraproduktiv ihre Idee ist, Kinder vor jedem noch so abwegigen Risiko bewahren zu müssen. Ich habe Helikoptereltern bislang für ein medial aufgebauschtes Phänomen gehalten, über das sich Gymnasiallehrer auf Erfahrungsautauschwochenenden beklagen. Es scheint aber so real zu sein, dass der VCD und das Kinderhilfswerk eine ganze Kampagne dafür lostreten. Wie übersättigt, wie dekadent muss ein Land sein, dass massenweise ihre Kinder im Auto kutschierende Eltern zum Problem werden?

Seit dem 7.4. ist damit amtlich: Wir sind ein Land von Bekloppten und Bescheuerten.

Sonntag, 16. April 2017

Deutsche Riten Teil 3: Das Grundrecht zum Zappeln

Wer in diesem Land lebt, muss eine gewisse Vorliebe für Wiederholungen haben, wenn er nicht verzweifeln will.

Nein, es geht nicht ums Fernsehprogramm, sondern um die Tendenz der hier lebenden Menschen, regelmäßig einen unglaublichen Tanz darum zu veranstalten, dass Dinge immer noch so sind wie vorher.

Womit wir beim Thema wären: Tanzen. Man sollte meinen, wir seien ein Volk von Musikliebhabern. Vor allem am Karfreitag, da haben wir ja alle frei, da machen wir mal so richtig einen drau - ach nein, geht ja nicht, ist verboten, und jedes Mal veranstalten die Leute ein Theater, als sei das Tanzverbot gestern erst beschlossen worden. Seit Jahren.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich halte das Tanzverbot für eine der idiotischsten Ideen, mit der die Kirchen ihren Machtanspruch behaupten. Rücksichtsnahme kann man nur leben, man kann sie nicht verordnen. Vor allem liefert man mit dieser sauertöpfischen Reglementierungswut den Kirchengegnern eine Steilvorlage, die damit alle Vorurteile bestätigt sehen. Trotzdem finde ich es lächerlich, wie sich die Leute über dieses Verbot aufregen. Die Grundfesten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sehen sie gefährdet, wenn sie einen Tag lang nicht in der Disco herumtoben dürfen. Vergleiche mit den Taliban sind noch das Sachlichste, was durch die Kommentarspalten geht. Die Kirche, der große, totalitäre Gedankenkontrolleur.

Spannend finde ich, dass der Schrei nach dem Ende des Gesinnungsterrors ausgerechnet von denen stammt, die sonst keine Schwierigkeiten damit haben, Minderheiten mit dem Argument der Rücksichtnahme den Vortritt zu lassen. So ist es bei vielen Veranstaltungen des alternativen Spektrums vollkommen normal, dass dort vegetarisch oder sogar vegan gegessen wird, obwohl die Mehrheit der Anwesenden normalerweise Fleisch ist. Warum auch nicht? So lange das Essen schmeckt, ist mir offen gesagt egal, woraus es besteht.

Ich kenne von der Kirche betriebene Jugendzentren, die während der täglichen Verköstigung kein Schweinefleisch servieren, weil dort ab und zu auch Muslime vorbei kommen. Während des Ramadan gibt es auch für die Nichtmuslime nichts zu essen, um die fastenden muslimischen Kinder nicht unnötig zu belasten. Noch einmal: Betreiber ist die Kirche.

Wir finden den Anblick frierender Gestalten vor Kneipen völlig normal, weil drinnen nicht mehr geraucht werden darf. Busspuren, auf denen zweimal pro Stunde Busse fahren, Frauen- oder Behindertenparkplätze, die mitunter tagelang nicht genutzt werden - ja, selbst die CDU hat inzwischen eine Quote. Das sind lauter Beispiele, in denen wir persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen, weil wir es gerecht finden, weil wir Rücksicht nehmen wollen.

Ich wohne in einer Gegend, in der es als Ausdruck der Lebensfreude gilt, sich die letzten Reste eines IQs mit Hilfe von Alkohol unter die Wahrnehmbarkeitsgrenze zu drücken, wo man, wenn man nachts um drei nach hause kommt, gern mal die Party mit voll aufgedrehter Anlage weiter gehen lässt, in der es vollkommen normal ist, sturzbetrunken nachts durch die Straßen zu marodieren und die Anwohnerinnen mit mehr herausgeschrieenen als gesungenen Karnevalsschlagern zu unterhalten, eine Gegend, in der man ganze Wochenenden hindurch damit leben muss, bei Freiluftveranstaltungen angefangen vom Soundcheck um 7 Uhr morgens bis hin zum fröhlichen Ausklang gegen 23 Uhr mit Ballermanmucke versorgt zu werden. Da ist es natürlich ein unzumutbarer Eingriff in die Menschenrechte, wenn man an einem Tag im Jahr die verbriefte Garantie hat, Andy Borg nicht hören zu müssen.

Letztlich sind mir die Argumente pro und contra aber auch egal. Ich habe sie gehört. Seit Jahrzehnten. Immer wieder. Die gleichen. Es hat sich nichts geändert. In den sozialen Medien werden dem Anschein nach einfach die Tweets des Vorjahrs ausgegraben und erneut abgeschickt, und jeder kommt sich dabei wahnsinnig witzig und originell vor. Hui, was bin ich mutig, ich lege mich mit der ach so mächtigen Kirche an, schaut her.

Jou, das ist ungefähr so tapfer wie bei der Schulhofprügelei die ganze Zeit daneben zu stehen und am Ende bei dem am Boden Liegenden noch einmal kräftig nachzutreten. Sich mit der Kirche anzulegen, mag in bayerischen Bergdörfern tatsächlich noch so etwas wie Mumm erfordern, im zivilisierten Rest der Republik ist es einfach nur peinlich.