Mittwoch, 30. Dezember 2009

Let me see you stripped

Es gibt Kombinationen von Zeitpunkten und Nachrichten, bei denen man allen Beteiligten mindestens zwei Wochen Zwangspause verordnen möchte, damit jeder Zeit hat, über die Sache nachzudenken. Terrormeldungen zum Jahreswechsel gehören in diese Kategorie. Beim Wort "Terrorismus" schalten die Leute ohnehin schon gern die höheren Hirnfunktionen ab, und wenn sie dann noch über die Feiertage reichlich Zeit haben, all das, was ihnen gerade durchs glühweindurchtränkte Stammhirn wabert, ins nächstbeste Mikrofon zu erbrechen, kann dabei nur Unsinn heraus kommen.

Die Situation in Kürze: Acht Jahre nach dem letzten Flugzeugattentat versucht wieder jemand, eine Maschine beim Landeanflug auf Detroit zu sprengen. Pech für ihn, Glück für die anderen Passagiere: Er ist zu dämlich, den Zünder auszulösen. An dieser Aufgabe scheiterten vor ihm auch die Leute, die den Regionalexpress nach Koblenz in die Luft jagen wollten. Was immer man den Jungs in den Ausbildungslagern beibringt, Bombenbauen ist es offenbar nicht.

Nun hätte man den gescheiterten Anschlag zum Anlass nehmen und in Ruhe darüber nachdenken können, welche Konsequenzen man daraus zieht. Statt dessen stürzt man sich auf schnelle Lösungen wie eine Rugbymannschaft auf den Ball. Wie üblich werden die Durchsuchungen an den Flughäfen verschärft, und ich wage die Vorhersage, dass man nur ein paar Wochen warten muss, bis die Sicherheitskräfte die Sache wieder etwas laxer sehen. Als wenn Anschläge grundsätzlich nur im Bündel aufträten und nach spätestens zwei Wochen kein Terrorist mehr Lust hat, Leute umzubringen. Das ist etwa genau so dämlich wie die Leute, die wie verrückt in die Eisen treten, nachdem sie von einer Radarfalle geblitzt wurden. Es mag euch ja intellektuell überfordern, Freunde, aber Geld spart man, wenn man deutlich vor der Falle bremst, nicht dahinter.

Einzelne Fluglinien erwägen jetzt, Handgepäck komplett zu verbieten. Politiker wie Vural Öger von der SPD schlagen in einem Interview vor, Medikamente und Flüssigkeiten nur noch nach vorherigem Antrag an Bord nehmen zu dürfen. Großartige Idee, am besten vier Wochen vorher, damit hätten wir bei dieser Gelegenheit auch diese lästigen Last-Minute-Flüge abgeschafft. Warum schicken wir die Passagiere nicht gleich nackt an Bord - oder, noch besser: Wir lassen gar keine Menschen mehr an Bord, die Maschine fliegt leer ans Ziel, und die Reisenden fahren mit einer Kutsche hinterher, wo sie dann reichlich Gelegenheit haben, sich an die Zeiten zu erinnern, als die Technik noch dem Menschen diente und nicht umgekehrt.

Auch in anderer Hinsicht ist Ögers Interview bemerkenswert. Wer es mit den rhetorischen Meisterwerken von der Leyens oder Schäubles vergleicht, stellt auffällige Ähnlichkeiten in der Wahl der sprachlichen Mittel fest. Da wird die böse Botschaft ("Wir wollen teures Spielzeug für eine Sicherheitssimulation und den ehrlichen Fluggast spüren lassen, wie willkürlich er uns ausgeliefert ist") gerade einmal in Halbsätzen angerissen, während jede Möglichkeit genutzt wird, blitzartig das Thema zu wechseln, sich in langen Monologen über unstrittige Fragen auszulassen ("Wir müssen die Ursachen des Terrorismus ergründen", "Ich bin für vereinfachte Kontrollen") und natürlich geht es immer wieder um das Wort "Sicherheit". Acht mal benutzt er es innerhalb weniger Minuten. Das Wort "Freiheit" fällt nur zweimal. Begriffe wie "Menschenwürde" oder "Persönlichkeitsrechte" gebraucht, wenn überhaupt, der die Fragen stellende Journalist Jasper Barenberg.

Als die ultimative Waffe gegen den internationalen Terrorismus gelten im Moment Nacktscanner. Wenn man erst den Passagieren bis auf die Haut gucken kann, so ist man überzeugt, dann können die auch nichts mehr an Bord schmuggeln. Einigen Leuten ist freilich nicht ganz wohl beim Gedanken, sich ungewollt nackt vor einem Flughafenmitarbeiter aufbauen zu müssen, weswegen auch schnell Order ausgegeben wurde, die Maschinen künftig Ganzkörperscanner zu nennen. Die gelieferten Bilder bleiben wohlgemerkt die gleichen, aber sie klingen doch gleich viel netter. Um noch einmal auf Öger zurück zu kommen: Er spricht von "fortschrittlicher Technik".

Bemerkenswert bedeckt halten sich derzeit die Fluggesellschaften. Für sie läuft es natürlich prächtig. Jedes Kilo, das nicht als Handgepäck an Bord darf, muss in die Koffer und dort möglicherweise extra bezahlt werden. Jeden Bedarfsgegenstand, den der Fluggast im Koffer lässt, muss er sich möglicherweise an Bord teuer besorgen. Völlig neue Geschäftsfelder eröffnen sich beispielsweise für Mietnotebooks, an denen die Leute während des Fluges arbeiten können. So trennt sich endlich wieder Spreu von Weizen. Der Student soll brav die Zeitung vom Vortag lesen, während der Herr Manager neben ihm die Geschicke seiner Firma leitet.

Wenn Sie wirklich und in Zahlen nachweisbar etwas dagegen unternehmen wollen, dass Leute getötet oder verkrüppelt werden, dann setzen Sie sich für besser ausgebildete Ärzte ein. Damit retten Sie allein in Deutschland jedes Jahr so viele Menschen, wie beim Anschlag auf das WTC starben. Verbieten Sie das Rauchen - nicht ein bisschen, mit Aufklebern und in Restaurants, nein komplett. Auf diese Weise retten jährlich Sie so vielen Deutschen das Leben, wie bei der Schlacht um Kiew ums Leben kamen. Sorgen Sie dafür, dass die Leute vernünftig Auto fahren, und Sie retten jedes Jahr eine Landstadt wie Heimbach im Kreis Düren. Gut, der kulturelle Verlust mag sich in Grenzen halten, wenn Heimbach von der Landkarte verschwände, aber es handelt sich immerhin um vier- bis fünftausend Menschen, die im Zweifelsfall lieber leben als tot herumliegen.

Das sind jetzt nur die Zahlen für Deutschland. Sorgen Sie weltweit für bessere Ärzte, weniger Drogen und vorsichtige Autofahrer, und al-Qaida hat keine Chance, die Zahl geretteter Leben auch nur halbwegs wieder wegzubomben.

Aber nein, statt dessen brauchen wir Nacktscanner - möglichst schnell, möglichst teuer, möglichst viele. Es geht ja nicht darum, real etwas zu unternehmen, um unsere Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen, es geht um Populismus und Aktionismus. Politiker lassen sich offenbar lieber neben teurem High-Tech-Krempel fotografieren als vor 100.000 durch ein Nichtraucherprogramm geretteten Menschen.

Noch einmal: Die einzig wirklich sicheren Flugzeuge stehen unbenutzt im Hangar. Sobald jedoch sich eines in die Luft erhebt, sprechen alle bislang bekannten Statistiken und Naturgesetze dafür, dass es irgendwann auch wieder unten ankommen wird. Die Frage ist nur wie sanft und in wie vielen Teilen. Nehmen wir für den Augenblick an, die Wahrscheinlichkeit einer sanften Wiederankunft ließe sich durch Eingangskontrollen wie für Gefängnisinsassen signifikant erhöhen. Dann bliebe die Frage, ob sich die Terroristen nicht einfach ein neues, leichteres Ziel aussuchen - Züge zum Beispiel. Ich weiß, die Diskussion, ob wir an den Bahnhöfen nicht ähnliche Sicherheitsmechanismen wie an Flughäfen installieren sollen, wurde schon geführt, aber die Frage ist so dümmlich, dass ich sie nur mit einem Satz würdige: Was meint ihr, worin der einzige verbliebene Vorteil von Zügen als Verkehrsmittel ist, wenn es schon nicht Geschwindigkeit oder Preis sind?

Doch selbst, wenn man jetzt auch eine Stunde vor Abfahrt eines Zuges durch die Kontrollen gelangt sein müsste, was will man als nächstes schützen? Kaufhäuser? Das Wiesbadener Kreuz? Vor Schulen haben wir ja bereits mit Eingangskontrollen angefangen, in Kinos werden wir mit Nachtsichtgeräten kontrolliert, und jede U-Bahn hat mehr Kameras als der Big-Brother-Container. Glauben wir ernsthaft, uns gegen jede denkbare Bedrohung schützen zu können? Müssen wir wirklich jede Zeitungsmeldung über ein paar durchgeknallte Bubis zum Anlass nehmen, unsere Regierungen mit aller Macht zum Ausbau des Überwachungsstaats aufzufordern? Sind Freiheit und Menschenwürde tatsächlich so furchtbare Dinge, dass wir alle Anstrengungen unternehmen, sie loszuwerden?

Angst und Hysterie sind schlechte Ratgeber, aber wir haben sie zunehmend zur Richtschnur unseres Handelns erhoben. Ein jugendlicher Amokläufer hat vor seiner Tat Halflife gespielt - prompt wollen alle ein Verbot der "Killerspiele". Zwei asoziale Idioten schlagen einen Rentner zusammen - alles schreit nach flächendeckender Kameraüberwachung. Die Familienministerin winkt mit ein paar zusammengelogenen Zahlen über Kindesmissbrauch - sofort fordern alle die Internetzensur. Ein Mistkerl versagt beim Zünden einer Bombe - das Volk giert nach Nacktscannern. Wenn es bloß auf alle Fragen des Lebens so einfache Antworten gäbe. Doch die Welt ist komplizierter, und für die meisten Antworten braucht man nun einmal etwas länger als ein paar Stunden. Wir sollten uns diese Zeit nehmen.

In diesem Sinne: einen schönen Jahrswechsel.

ARD aufs I-Phone

Um Missverständnisse zu vermeiden, zwei Dinge vorweg: I-Phones sind Spielzeuge für reiche Masochisten mit Minderwertigkeitskomplex, und die GEZ gehört abgeschafft.

Nachdem ich mir mit billigem Populismus etwas Aufmerksamkeit verschafft habe, hier die Begründung. Erstens ist das I-Phone ein an sich tolles Gerät mit einer großartigen Benutzeroberfläche und einer ganzen Menge toller Fähigkeiten - die allesamt viel zu viel Geld kosten, falls sie überhaupt freigeschaltet sind. Schöner, als ich es mit einem Satz ausdrücken könnte, fasst es dieser Artikel zusammen. Wer es gern etwas polemischer mag, kann sich Florian Schröder anhören.

Zweitens finde ich es in Ordnung, für die öffentlich-rechtlichen Sender Geld zu bezahlen. Ich mag nur nicht die Art, wie die Gebühren eingezogen werden. Das fängt damit an, wie von den Länderchefs jede Gebührenerhöhung ohne nennenswerte Rückfragen durchgewunken wird, geht weiter mit der Postenvergabe in den Rundfunkanstalten, die offenbar weniger nach Kriterien journalistischer Qualität sondern vor allem nach politischer Gefälligkeit erfolgt und endet bei den halbseidenen Methoden, mit denen die GEZ die Gebühren eintreibt.

Doch nun zahlen wir einmal die Gebühren, und dann erwarte ich auch entsprechende Leistung. Mariannes und Michaels große Supersilvestergala der Volksmusik gehört definitiv nicht dazu, auch nicht die Lindenstraße oder Leute, die bei "Wetten dass" zehntausend Reiskörner allein anhand des Gewichts auseinander halten können, während sie gleichzeitig mit einem Braunkohlebagger einen Manschettenknopf annähen. Doch sei es drum, einmal "Neues aus der Anstalt" entschädigt für vieles.

Doch genau hier liegt der Punkt. Ich habe, wie schon gesagt, dafür bezahlt, dass Priol und Schramm die Kanzlerin beschimpfen. Dummerweise wird die Sendung zu einer Zeit ausgestrahlt, die mir nicht passt. Kein Problem, sollte man meinen, inzwischen haben die Öffentlich-Rechtlichen ja dieses neue Internet entdeckt, von dem die Leute alle reden und stellen ihre Sendungen dort noch einmal zum Anschauen bereit - eine Woche lang.

Warum nicht länger? Gammeln die Bits nach einiger Zeit? Haben die Server des ZDF nur eine alte IDE-Platte aus den Neunzigern, auf die nur vier Filme gleichzeitig passen, so dass man ständig löschen muss? Nein, die Sendungen müssen nach einer Woche gelöscht werden, weil die Privatsender das so wollen.

Wie bitte? Haben die Privatsender die Rechte an der "Anstalt" gekauft? Das ganz bestimmt nicht, die bringen lieber die tollen - und jetzt kommt's - Kummiidijänns. Nein, der Grund, warum das ZDF nach einer Woche seine Filme von den Servern löschen muss, ist der, dass RTL und Sat1 andernfalls ihr Geschäftsmodell gefährdet sehen. Die Privaten verkaufen nämlich ihre Videoströme, und wer Schramm gratis beim ZDF herunterladen kann, kauft sich dann nicht auch noch Dirk Bach auf RTL.

Die Logik dahinter ist nicht unbedingt eingängig, und es erinnert mich an meine kleine Schwester, die immer, wenn sie nach dem Sandmännchen ins Bett musste, lauthals forderte, ich müsse jetzt auch schlafen gehen "weil das ist voll ungerecht". Männo, wenn's mir schlecht geht, soll es gefälligst allen anderen auch schlecht gehen.

Wie schon gesagt ist es ja auch nicht so, als hätte ich für die öffentlich-rechtlichen Videos nicht schon längst bezahlt, und wenn Oliver Pocher auf einem Niveau Pennälerwitze reißt, bei denen die Werbepausen als rettende Oase intellektuellen Feinsinns erscheinen, dann ist es offenbar das, was man unbezahlt maximal erwarten kann. Selbst wenn mir diese Komik gefiele, müsste ich mich eben damit abfinden, dass es die ungeschnitten eben nur gegen Bezahlung gibt. Es ist nur die Frage, ob ich vorher durch meine Gebühren oder für den Einzelabruf vom Server Geld ausgebe.

Doch damit nicht genug. Offenbar hat man inzwischen auch bei den Rundfunksendern begriffen, dass der Fernseher als Wohnzimmeraltar ein aussterbendes Modell ist. Die Leute wollen sich nicht mehr um eine bestimmte Uhrzeit vor ihrem 66-cm-Diagonale-Klotz einfinden, um dort wie festgewachsen die nächsten zwei Stunden auszuharren, sie wollen ihre Sendung sehen, wenn sie gerade in der Bahn sitzen oder in der Mittagspause etwas Zeit haben. Das herkömmliche Konzept der zeitgebundenen Ausstrahlung kann diesen Wunsch nicht erfüllen, wohl aber das Internet. Die ARD haben jetzt die Idee, für das I-Phone ein Programm, Verzeihung, eine "Äppp" zu entwickeln, damit man sich die Tagesschau dann anschauen kann, wenn man selbst und nicht Tom Buhrow es will. Eine gute Idee, sollte man meinen, die ARD gehen mit der Zeit. Genau dafür zahlt man Gebühren.

Das sehen die Privaten jedoch anders. Wenn die Öffentlich-Rechtlichen schon mit Rundfunkgebühren durchgefüttert werden, argumentieren sie, dann sollen sie im Gegenzug auch die gleiche lausige Leistung bieten wie das Gratisfernsehen - das nebenher gar nicht so gratis ist. Wenn Sie wissen wollen, wann Sie bei den Privaten Geld zahlen, müssen Sie sich nur eine Viertelstunde vor den Fernseher setzen. Spätestens dann kommt nämlich der nächste Werbeblock, und jede Millionen, die der Baumarkt, der Joghurthersteller, die Brauerei, der Waschmittelfabrikant oder der Autobauer in seine Filmchen steckt, holt er sich postwendend zurück, wenn Sie das nächste Mal bei ihm einkaufen. So viel zum Thema "Free-TV".

Wer so wie der "Spiegel" gegen das geplante I-Phone-Programm wettert, hat weniger etwas gegen die konkrete Applikation, ihm geht es um Rundfunkgebühren im Allgemeinen. So lange ich aber sehe, wie RTL die Hälfte seiner angeblichen Nachrichtensendung damit verschwendet, selbst generierte Pseudomeldungen aus dem DSDS-Haus zu bringen, so lange mir drei Minuten vor Schluss eines Films mitten im Satz ein siebenminütiger Werbeblock reingeknallt wird, so lange mir abgehalfterte Hinterbänkler als "Promis im Dschungelcamp" serviert werden, so lange bin ich bereit, gebührenfinanziertes Fernsehen als eine Alternative anzusehen. So lange ich aber Fernsehgebühren zahle, will ich auch etwas für mein Geld bekommen, und wenn dies wie behauptet das Geschäftsmodell der Privaten gefährdet, sollen die mir erst einmal erklären, wie Fernsehsendungen, die angeblich kein Mensch sehen will, eine Konkurrenz für das vermeintlich von den Massen so heiß geliebte Privatfernsehen sein kann. So lange darauf eine schlüssige Antwort ausbleibt, können die ARD gern die Tagesschau aufs I-Phone bringen - und das eine "Äppp" nennen.

Samstag, 19. Dezember 2009

Der Unterschied zwischen Adminrechten und Manneskraft

Es gibt Berufe, die einem auf Parties gewaltig den Abend verderben können. Ärzte und Rechtsanwälte können ein Lied davon singen, bittet man sie bei solchen Gelegenheiten doch gern um eine kostenlose Spontanuntersuchung oder eine Rechtsberatung. Weniger bekannt ist, dass wir Admins in einer ähnlichen Situation stecken, die allerdings noch dadurch verschärft wird, dass man uns nicht einfach um Rat fragt, sondern auch noch daran herumkrittelt, weil man ja "irgendwie auch was von Computern versteht". Das nervt unserseins am meisten.

Es ist etwa so, als wolle jeder Führerscheininhaber einem Rettungssanitäter erzählen, wie sein Beruf funktioniert, nur weil er vor Jahrzehnten die Pflichtveranstaltung "Sofortmaßnahmen am Unfallort" besucht hat. Sehen Sie, das findet komischerweise jeder absurd, aber jeder Volltrottel, der mit Mühe und Not seinen Drucker installiert bekommt, sitzt der possierlichen Fehlannahme auf, mit Menschen auf Augenhöhe zu sein, die seit Jahrzehnten anderer Leute Systeme pflegen. Längst sind wir nicht allein ein Land mit 80 Millionen Bundestrainern, sondern auch von ebensovielen IT-Spezialisten. Ich verstehe gar nicht, wie die Branche bei einem derartigen Überangebot Schwierigkeiten hat, selbst ihre einfachsten Stellen zu besetzen. An der Bezahlung kann es nicht liegen.

Offenbar spielt bei der Frage um die Systemverwalterprivilegien die graue Hirnsubstanz eine eher untergeordnete Rolle, sondern archaischste Regionen unseres Nervenzentrums übernehmen die Kontrolle, in denen es vor allem darum geht, sich auf Felsen hockend darüber klar zu werden, wer das dickste Gemächte hat. Anders kann ich es mir wenigstens nicht erklären, warum die meisten Computeranwender so irrsinnig hohen Wert darauf legen, Adminrechte auf "ihrem" Affenfelsen, respektive Computer, zu haben. "Ihrem" ist hier bewusst in Anführungszeichen gesetzt, geht es nämlich bei solchen Diskussionen häufig um Computer, die gar nicht ihnen, sondern ihrem Arbeitgeber gehören. Trotzdem muss man natürlich auch hier den dicken Max markieren können.

Fragt man dann etwas weiter nach, was an den Adminrechten auf einem Dienstrechner so unglaublich wichtig ist, kommt meistens wirres Zeug. Man selbst hätte ja gar nicht so viel Ahnung von Computern, aber der Sohn, der hätte es ja so richtig drauf. Aha, was will denn der Sohnemann auf der dienstlichen Maschine von Vattern? - Beim Installieren helfen. - Wozu das denn, dafür gibt es doch in der Firma speziell ausgebildete Leute, die genau dafür angestellt sind? - Ist ja auch egal, auf jeden Fall will man Systemverwalter sein.

Selbst wenn es nicht um Dienstrechner geht, die offenbar als großzügiges Geschenk für hervorragende Verdienste zum Wohl der Firma und nicht als notwendigerweise bereitgestelltes Werkzeug begriffen werden, sondern um Privatgeräte, auf denen es immer wieder zu unerklärlichen Fehlern kommt ("Ich hab nichts gemacht!"), scheint der Gedanke, nicht ständig Admin sein zu dürfen, etwas zutiefst Erniedrigendes zu besitzen. Ich frage mich, ob solche Leute auch immer mit einer geladenen und entsicherten Schusswaffe herumrennen, weil das so schön gefährlich und sinnlos ist. Die Frage, warum man beim Surfen, Maillesen und Texteschreiben unbedingt mit höchsten Systemprivilegien unterwegs sein muss, hat mir bislang niemand schlüssig erklären können. In solchen Momenten fällt dann der Satz: "Ich mach' ja nichts Besonderes auf der Kiste - nur Schreiben und Mails." Genau, und deswegen noch einmal: Wozu brauchst du dann Adminrechte?

Bezeichnenderweise haben erfahrene Admins eine ausgesprochene Scheu vor ihren eigenen Möglichkeiten entwickelt, weil sie mehr als einmal erlebt haben, wie schnell eine Installation unwiederbringlich zerstört ist. Einige von uns sind dazu übergegangen, den Moment, an dem sie ernsthaft Unsinn anstellen können, mit optischen Warnsignalen zu versehen, damit ihnen klar wird: Achtung, ab hier wird's ernst. Der nächste Fehler bedeutet drei Tage Mehrarbeit.

Ich weiß, der Vergleich zwischen Autos und Computern ist überstrapaziert, aber anders ist adrenalingetränkten Männerhirnen offenbar nicht beizukommen: Der Computer als Massenphänömen ist keine 20 Jahre alt, und entsprechend schlecht sind seine Sicherungsmechanismen entwickelt. Wie fänden Sie es, wenn Sie auf der A3 mit 160 Sachen unterwegs und umgeben von lauter Leuten ohne Führerschein wären, die in ihrer Freizeit aus reiner Neugier ständig andere Reifen aufziehen, an den Bremsschläuchen herumspielen und meinen, die Lenkung neu justieren zu müssen? Komisch, da wird den Leuten mulmig, aber dass weltweit in diesem Moment millionen Nutzer mit Rechnern im Netz unterwegs sind, von denen sie nicht die blasseste Ahnung haben und nicht einmal merken, dass Schadprogramme schon seit Monaten die Herrschaft über ihr System besitzen, finden alle ganz toll. Wenn jedoch die nächste Virenwelle durchs Netz schwappt, schreien sie wieder nach dem Staat oder irgendeinem Großen Bruder, der sie gefälligst schützen soll.

Zum Thema Datenschutz herrscht ohnehin ein ambivalentes Verhältnis. Auf der einen Seite haben die Leute keine Schwierigkeiten, anderer Leute Personalakten unverschlüsselt per Mail quer durchs Netz zu schicken und mit ihrer Payback-Karte einzukaufen, aber Online-Banking finden sie böse, und wenn sie beim Mobil-TAN-Verfahren ihre Telefonnummer angeben müssen, schimpfen sie auf den Überwachungsstaat. Einerseits haben sie Bedenken gegen den Missbrauch ihrer persönlichen Daten, wenn sie jedoch mit gutem Beispiel vorangehen und ihre Datenschutzverpflichtung unterschreiben sollen, wettern sie über unsinnige Bürokratie und staatliche Gängelung.

Kurz: Regeln sind eine tolle Sache, so lange sie nur für die Anderen gelten. Fragen der Rechner- und Datensicherheit mögen den Rest der Menschheit betreffen, man selbst bildet die magische Ausnahme. Auf der eigenen Maschine haben aufgrund göttlicher Fügung Schadprogramme keine Chance, und natürlich weiß man selbst am besten, wie andere Leute ihre intimsten Daten behandelt haben wollen.

Die folgenden Sätze mögen für viele selbsternannte Computerspezialisten schmerzhaft sein, aber das ist die Wahrheit häufig: Leute, ihr habt nicht die leiseste Ahnung von den Kisten, vor denen ihr sitzt, und das ist sogar noch die höfliche Variante dieser Aussage. Die Admins mögen menschliche Wracks sein, aber von Computern verstehen sie etwas. Sie tragen keine Krawatten, sie reden Technikergewäsch, und zum Thema Körperpflege haben sie ein höchst theoretisches Verhältnis, dennoch sind sie es, die rund um die Uhr an jedem Tag im Jahr dafür sorgen, dass in ihrer Firma der nächste Bahn- oder Telekomskandal unterbleibt. Diese komischen Datenschützer wissen nicht etwa besser als ihr, was Andere von sich preisgeben wollen, aber genau aus diesem Grund setzen sie alles daran, diese Entscheidung den Betroffenen selbst zu überlassen. Im Gegensatz zu euch haben sie sich lange mit der technischen und rechtlichen Situation befasst, weil sie es nämlich sind, denen man die Bude einrennt, wenn irgendwo massenweise Rechner zusammenbrechen oder Angestelltendaten auf der Firmenhomepage landen.

Denkt daran, bevor ihr uns bei der nächsten Party wieder von der Seite anmacht.

Sonntag, 13. Dezember 2009

Spezialdemokratische Spontanamnesie

Über Jahre hat sie sich jede erdenkliche Mühe gegeben, dort anzukommen, wo sie jetzt ist: die SPD in der politischen Bedeutungslosigkeit. Wer auch immer sich den Prinzipien der Sozialdemokratie verbunden fühlte - die SPD gab ihm zu verstehen, dass diese Partei nicht der richtige Ort für ihn ist. Zurück blieben zwei Sorten von Menschen: Traditionalisten mit 50 Jahren Parteizugehörigkeit, die der Partei die Nibelungentreue halten und Karrieristen, die in der desolaten Personalsituation der SPD davon träumen, allein deswegen schon der nächste Kanzlerkandidat zu sein, weil sich niemand sonst dafür findet.

Bei all dem führt sich die SPD so auf, als sei sie immer noch eine politische Größe, ohne die in der Republik nichts liefe. Ihre Vertreter treten mit einer Attitüde auf, die irgendwo zwischen dem Pomp des frisch an die Macht geputschten Präsidenten einer Bananenrepublik und der Wichtigkeit des zweiten Kassenwarts im Verein der Dackelfreunde Hürth-Kalscheuren liegt: über die Grenze der Peinlichkeit hinaus selbstverliebt, aber ohne jede reale Bedeutung. Dass man in einer parlamentarischen Demokratie Mehrheiten braucht, dass man so viel wie möglich Leute um sich sammeln muss, um etwas bewegen zu können, scheinen sie nicht so recht begriffen zu haben.

Man darf nicht ungerecht sein: Vereinzelt scheinen SPD-Mitglieder doch so etwas wie Verständnis für elementare Mathematik zu besitzen und einzusehen, dass mit Stimmanteilen zwischen 10 und 30 Prozent auf Landes- und Bundesebene Regierungschefs nur in Ausnahmefällen von der eigenen Partei gestellt werden. Es müssen also Wähler her, und da man offenbar davon ausgeht, dass nur völlige Idioten die SPD wählen, hat man den Stimmenfang auf diese Gruppe hin optimiert. So erklärt SPD-Bundestagsfraktionschef Olaf Scholz nun, Internetzensur sei falsch, Inhalte müssten gelöscht statt gesperrt werden. Er geißelt die Gesetzesinitiative der damaligen Bundesfamilienministerin als "populistisch" und warnt vor den Gefahren für das Grundrecht auf Informationsfreiheit, wenn eine mit vemeintlich besten Absichten installierte Zensurinfrastruktur erst einmal funktioniert und für andere Zwecke missbraucht wird. Jedes dieser Worte trifft auf meine ungeteilte Zustimmung, zumal sie genau das beschreiben, was die Zensurgegner seit über einem halben Jahr den Parteien zu erklären versuchen. Die Sperren seien unwirksam, stellt Scholz überrascht fest. Dem möchte ich entgegnen: "Es kommt aber auch darauf an, die Hemmschwelle, die an dieser Stelle in den letzten Jahren deutlich gesunken ist, wieder signifikant zu erhöhen. Dem dient neben der Sperrung einzelner Seiten die Umleitung auf eine Stoppseite mit entsprechenden Informationen." Und von wegen Populismus. Wahr ist doch hingegen: "Mit der neuen gesetzlichen Regelung bekämpfen wir nicht nur die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Internet, sondern schützen zugleich Internetnutzer, sichern rechtsstaatliche Grundsätze und ermöglichen ein transparentes Verfahren." Beides Zitate Olaf Scholz, Juni 2009.

Nun ist es keine Schande, seine Meinung zu ändern. Im Gegenteil, das Erkennen eigener Fehler zeugt von Reflexionsvermögen. Beim sich gegenwärtig abzeichnenden Meinungsumschwung in der SPD drängen sich mir jedoch einige Fragen auf: Warum stellt sich die neue Erkenntnis ausgerechnet genau zu dem Zeitpunkt ein, an dem die neue Bundesregierung äußerst holprig ihre Tätigkeit aufgenommen hat und dennoch niemand die SPD vermisst? Was wäre passiert, hätte sich die SPD mit Ach und Krach in der Regierung halten können? Ich halte zwar von der FDP und vor allem ihrer Außeministersimulation nichts, aber wenigstens wurden bei den Koalitionsverhandlungen verschiedene Punkte der inneren Sicherheit und digitalen Bürgerrechte zur Sprache gebracht. Das Ergebnis mag lächerlich sein, aber ich bin mir sicher, hätte statt der FDP die SPD am Verhandlungstisch gesessen, wäre es allenfalls darum gegangen, wie man die Republik noch schneller einen Polizeistaat wandeln kann. Um das Vertrauen, das man seit der Regierung Schröder verschleudert hat, wieder zu gewinnen, braucht es viel mehr als ein paar Presseerklärungen. Die SPD sollte die Bedeutungsflaute, in der sie gerade herumdümpelt, als Chance begreifen, sich in aller Ruhe thematisch und personell wieder aufzubauen. Das mag ein paar Jahre dauern, aber ein solcher Umbau hat es auch in sich.

Stimmenverhältnisse ändern sich derzeit rasant, und das mag eine der größten Gefahren für den Neubeginn der SPD werden. Waren vor zwanzig Jahren Stimmbewegungen um vier Prozent noch Grund für Sondersendungen zum rapiden Umbau der Parteienlandschaft, gehören inzwischen solche Änderungen zum gewohnten Bild eines Wahlabends. Hatte eine Partei in den Achtzigern zwischen sieben und zehn Prozent verloren, wusste man, dass in den nächsten drei Legislaturperioden nicht mit ihr zu rechnen war. Sieht man sich an, wie vernichtend die CDU unter Kohl geschlagen wurde, als Schröder Kanzler wurde, und wie schnell es ihr gelang, auf Bundesebene wieder zu Bedeutung zu gelangen und die Regierung vor sich her zu treiben, weiß man, dass kein vermeintlicher Erdrutschsieg für mehr als vier Jahre Sicherheit bietet. Die gleiche Sympathiewelle, die eine Partei ins Amt spülte, kann kurz darauf in die andere Richtung schwappen. Es kann also gut sein, dass nach ein paar Skandälchen, schlechten Arbeitsmarktzahlen und chaotischer Wirtschaftslage sich die SPD unversehens wieder in der einen oder anderen Regierung wiederfindet, ohne auf diese Rolle vernünftig vorbereitet zu sein. Gleichzeitig mag sie dies als Zeichen begreifen, ihren internen Umbau erfolgreich abgeschlossen zu haben und wieder in den alten Trott verfallen. Vergleichen Sie es mit der deutschen Fußballnationalelf, die regelmäßig nach einen wirklich schönen Spiel meint, es sei nun wieder an der Zeit für den guten alten Rumpelfußball.

Der gleiche Populismus, der die SPD im Juni bewog, sich für Internetzensur einzusetzen, treibt die Partei jetzt in der Opposition, ihre eigenen Beschlüsse zu kritisieren - und dabei mit dem schauspielerischen Talent eines Seifenoperndarstellers noch den Eindruck erwecken zu wollen, das Zensurgesetz sei allein mit den Stimmen der Union verabschiedet worden. Kein Wort des Bedauerns, nicht ein einziger Satz der Art: "Ja, wir haben damals die Büchse der Pandora zu öffnen geholfen, aber die Wähler haben uns deutlich gezeigt, was sie davon halten. Wir sehen ein, dass wir einen Fehler begangen haben und versuchen jetzt nach Kräften, diesen Fehler zu korrigieren."

Es ist eine Binsenweisheit, dass Einsicht der erste Schritt zur Besserung ist, aber diese simple Erkenntnis scheint der SPD fremd zu sein. Wenn eine Partei einen Bruch in ihrer Haltung wie im Fall der Internetzensur entweder nicht erkennt oder erkennen will, braucht sie offenbar ein paar Legislaturperioden Opposition zum Nachdenken.

Donnerstag, 26. November 2009

Padeluun am b-it

Padeluun der Egomane. Padeluun der Narziss. Padeluun der selbstverliebte Plauderer. - So lautet die Kritik aus techniknahen Datenschützerkreisen, in denen vor allem der autarke Führungsstil des FoeBuD-Chefs auf geteiltes Echo stößt.

Doch da gibt es auch den eloquenten Redner Padeluun, den Künstler, der sowohl auf den von Juristen dominierten Datenschutztagungen als auch bei den Nerds Anerkennung findet. Vor allem gibt es den Padeluun, der seit Jahren den deutschen "Big Brother Award" organisiert, einen Anti-Preis, dessen Verleihung es bis in die eher betulichen Nachrichten der öffentlich-rechtlichen Sender schafft.

Allein schon der "Big Brother Award" sorgt aus meiner Sicht für eine insgesamt positive Bilanz seines bisherigen Schaffens. Wie schon padeluuns Vorredner auf der Vorlesung "Kommunikationsgesellschaft ohne Avantgarde, Phlegma als Gestaltungsprinzip." im Rahmen der "Ringvorlesung Datenschutz" am 26.11. im Bonner b-it sagte: Datenschutz hat den Nachteil, dass man ihn nicht sieht. Man muss nur auf ein niedliches Hündchen zeigen, und jeder weiß sofort, was Tierschutz ist, aber man kann nicht auf etwas zeigen und sagen: "Sieh her, das ist mein Dat." Datenschutz braucht also etwas Greifbares, eine Galionsfigur, und das ist unter anderem padeluun. Der gibt zwar optisch nicht so viel her wie ein Robbenbaby, aber er wirkt in einem Anzug nicht so deplaziert wie so mancher andere Geek, was seine Akzeptanzwerte außerhalb dieser Sphäre deutlich erhöht. Er kann gut reden, und er hört sich gern reden, und das sind genau die Eigenschaften, die man braucht, um sich 90 Minuten auf eine Bühne zu stellen und seine Zuhörer bei Laune zu halten.

Padeluun kann nicht nur gut reden, er beschäftigt sich auch schon eine geraume Zeit mit Computerkultur, und so geraten die ersten 30 Minuten seines Vortrags zu einem Ausflug in die Geschichte der Mailboxen, des BTX und des Datex-P, einer Zeit also, in der Daten noch mittels Akustikkoppler über eine Analogtelefonleitung gesendet wurden, Telefonrechnungen von Datenreisenden hohe dreistellige DM-Beträge erreichten, die Bundespost eifersüchtig über jedes an ihr kostbares Netz angeschlossene Gerät wachte und ein Megabyte noch ernsthaft viel Platz darstellte. Mit Datenschutz hatte diese Zeit eher am Rande zu tun, historisch interessant war sie allemal.

Wenn padeluun über die Tage der ersten Mailboxen redet, klingt er ein bisschen wie die Generation meiner Großeltern, wenn sie vom Krieg berichtet. Ich kann es ihm nicht verübeln, weil meine Geschichten genauso klingen, wenn ich davon erzähle, wie wir Mitte der 80er bei einem Juso-Kongress zum Thema "Neue Medien" in der Bonner SPD-Parteizentrale ganz gebannt zusahen, als jemand einen Akustikkoppler durch ein meterlanges RS232-Kabel mit einem Klotz von PC verband, auf dessen Grünmonitor sich dann im bequem mitlesbaren 300-Baud-Tempo das Menu einer Mailbox aufbaute. Allein der Gedanke, dass da eine riesige Welt aus Computern war, die es zu erkunden galt und wir die Pioniere waren, die in diese Welt vorstießen - von den Einen bewundert, von den Meisten aber misstrauisch beäugt -, war umwerfend. Natürlich ist es heute fantastisch, wenn wir auf Mobiltelefonen Livestreams von Veranstaltungen ansehen können, wenn wir uns mit Google Wave oder Etherpad weltweit zu virtuellen Teams zusammenschließen und via Twitter und Chat mit allen möglichen Leuten reden können, aber die Anfänge bestanden eben in den Quietschtönen aus der Telefonleitung und sich gemächlich entfaltenden Textbildschirmen. Aus heutiger Sicht mag die damalige Technik finsterste Steinzeit sein, faszinierend war sie trotzdem. Padeluun drückt es so aus: "Wenn ich heute an Netze denke, dann sehe ich sie immer noch in tiefseegrün, der Farbe eben, mit der sie damals auf den Monitoren dargestellt wurden."

Für padeluun setzte in dieser Zeit das Nachdenken über Datenschutzfragen ein. Als Mailboxbetreiber sah er zufällig, wie sich zwei ihm bekannte Nutzer Mails schrieben, und er begann sich zu fragen, was ihn deren persönliche Nachrichten eigentlich angingen. Lange bevor das Thema Datenschutz im Internet eine Rolle spielte, sorgte die FoeBuD Mailboxsoftware für eine gewisse Privatsphäre ihrer Anwender. Ziel waren Netzwerke, deren Nutzer sich gut aufgehoben und willkommen fühlen.

Eine weitere Erkenntnis ging ihm damals auf: Nicht die Admins (oder Sysops, wie sie damals hießen) gestalten das Netz, sondern die Nutzer. Was heute als Alleinstellungsmerkmal des Web 2.0 angesehen wird, ist in seinen Grundzügen knapp 30 Jahre alt.

Mitte der 90er breitete sich das Internet explosionsartig aus. Allein sprachlich war das neue Medium überlegen. Redeten die Mailboxer sperrig von "Datenfernübertragung", ging man im Internet "surfen". Padeluun sieht diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite begeistern ihn die neuen Kommunikationsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite stellt das Internet aus seiner Sicht technisch einen Rückschritt dar, weil es von Haus aus keinen Schutz der persönlichen Nutzerdaten bietet. Darüber hinaus schwingt auch die Enttäuschung mit, dass die ganze Mailboxinfrastruktur, die sich Technikenthusiasten mühsam und mit viel Raffinesse aufgebaut hatten, praktisch über Nacht völlig wertlos wurde. Kein Mensch stellt sich heute noch seinen Server unter den Schreibtisch, stattet ihn liebevoll mit einem Festplattenstapel aus und optimiert seine Fido-Installation, sondern man mietet sich bei irgendeinem Billigprovider ein paar Gigabyte Webspace und passt allenfalls das vorinstallierte CMS etwas an die eigenen Bedürfnisse an.

So ist nun einmal der Gang der Dinge. Ich kann mir auch eine Reihe Gründe vorstellen, warum Morsefunk unbedingt weiter gepflegt werden sollte, aber trotzdem ist diese Technik auf dem Rückschritt. Sprechfunk ist schlicht einfacher, und wenn es denn unbedingt Morsesignale sein müssen, gibt es Programme, die deren Übersetzung erledigen. Ähnlich ist es mit dem Internet. Aus Datenschutzsicht mag es eine Katastrophe sein, aber die Leute wollen keinen Datenschutz sehen, sondern Youtube. Nüchtern betrachtet mag dieses Verhalten dumm sein, aber ich habe Sympathie für Leute, die sich mit Phantasie und Enthusiasmus auf etwas Neues stürzen, ohne vorher eine zwei Jahre lang tagende Ethikkommission einzuberufen, die vorsichtig alle Bedenken abwägt, um dann in einer Testphase sorgfältig an einer handverlesenen Versuchsgruppe die möglichen schädlichen Folgen zu untersuchen. Man stelle sich vor, die Deutschen wären bei der Erfindung des Rades zugegen gewesen. Wahrscheinlich säßen wir heute noch da und berieten, wie wir die arbeitslosen Sänftenträger in Umschulungsmaßnahmen stecken und unsere Kinder vor einer Welt bewahren, in der man das Gehen verlernt, weil man sich nur noch auf Rädern fortbewegt.

Glücklicherweise gehört padeluun auch nicht zur Riege der Bedenkenschlepper. Dennoch vertritt er die Haltung, bisher hätte man eine nützliche Technik einfach nur einführen und negative Auswüchse verhindern müssen, aber beim Internet hätten wir erstmals eine gefährliche Technik, die gebändigt werden müsse, bevor man sie nutzen kann. So wuchtig dieser Satz auch daher kommt, man muss ihn im Zusammenhang sehen. Padeluun berichtet beispielsweise von seinen ersten Treffen mit dem CCC mit den Worten: "Die Leute, die damals kamen, waren alle unglaublich freundlich und hatten dieses Blitzen in den Augen. Die wussten, wo es langgeht." So klingt kein Maschinenstürmer. Er will einfach nur, dass man sich das Etikett noch einmal durchliest, bevor man die Büchse der Pandora öffnet.

Um eine Öffentlichkeit für Datenschutzfragen zu schaffen, gibt es seit 10 Jahren den "Big Brother Award", der in 14 verschiedenen Ländern für besonders üble Verletzungen der Privatsphäre verliehen wird. In Deutschland organisieren padeluun und der FoeBuD die Verleihung. Wichtig ist ihm hierbei, die Tür zum Dialog mit den Nominierten wenigstens einen Spalt breit offen zu halten. So wählt er auch die Bezeichnung "Datenkrake", selbst wenn ihm "Datenverbrecher" deutlich angemessener erschiene. Dass eine gewisse diplomatische Selbstbeherrschung nicht nur Selbstzweck ist, sondern tatsächlich etwas bewirkt, belegen seiner Ansicht nach Erfolge wie der beim Protest gegen die Einführung von RFIDs bei Metro, wo man zumindest erreichte, dass die mit solchen Chips ausgestatteten Kundenkarten zurückgezogen wurden. Zwar sind die Preisschilder inzwischen mit der Funktechnik versehen, aber die Reaktion des Metrokonzerns auf die Proteste zeigt, dass man dort um ein gutes Image bemüht ist. Darüber hinaus führt RFID nicht zwangsläufig zu einem besseren Schutz gegen Diebstahl. Der vom FoeBuD vorgestellte Data Privatizer ermöglicht es, den Inhalt der Chips umzuschreiben und so aus einer teuren Flasche Champagner eine billige werden zu lassen.

Weitere Indizien für das gewachsene Datenschutzbewusstsein sind für padeluun zwei Zahlen: 34.451 und 130.000, die Zahl der Kläger gegen die Vorratsdatenspeicherung und die Unterzeichner der Onlinepetition gegen das Internetverhindergungsgesetz. Weiterhin zeigt eine Gallup-Studie, dass die Deutschen gleich nach den Österreichern europaweit das größte Interesse daran zeigen, was mit ihren persönlichen Daten geschieht. Deswegen sieht padeluun einen Grund für das schon fast bemitleidenswerte Abschneiden der ehemaligen Volkspartei SPD bei der letzten Bundestagswahl in der Enttäuschung der Wähler über das Verhalten bei der Zensurdebatte. Er hätte es lieber gesehen, wenn die SPD Stimmen der Zensurbefürworter verloren hätte, aber insgesamt aus der Diskussion gestärkt hervor gegangen wäre, als die jetzige Situation, in der die SPD zwischenzeitlich auf 19 Prozent durchsackt und die Botschaft eines Neubeginns niemanden so recht erreicht. Oliver Zeisberger von der SPD sagte es so: "Ich glaube, dass man immer zu einer klügeren Erkenntnis kommen kann und dass dies auch kein Glaubwürdigkeitsproblem darstellt." Dazu gehört freilich, zu dieser klügeren Erkenntnis erst einmal zu gelangen.

Ein weiteres Schwerpunktthema des FoeBuD ist die Videoüberwachung. Padeluun zweifelt massiv deren Wirksamkeit an. Aus seiner Sicht geht von einer Überwachungskamera ein zwiespältiges Signal aus. Einerseits suggeriert sie zwar einen wachsamen Beobachter, aber die Kriminalitätsfälle der vergangenen Monate zeigen, dass dem bei laufender Kamera unter den Fußtritten seiner Peiniger verreckenden Rentner nicht dadurch geholfen ist, dass jemand zusieht, sondern dass jemand eingreift. Die beiden Westentaschenterroristen, die versucht hatten, den Regionalexpress nach Koblenz in die Luft zu sprengen, wurden offensichtlich nicht etwa gefasst, als sie unter den Augen der Kamera den Koffer mit der zu diesem Zeitpunkt vermeintlich funktionstüchtigen Bombe über den Kölner Bahnhof zogen. Was wäre passiert, wenn die Bombe gezündet hätte? Genau, man hätte wenigstens zwei der völlig zerfetzten Leichen leicht identifizieren können. Eines scheinen die Sicherheitsexperten noch nicht begriffen zu haben: Viel lieber, als posthum ihre Mörder zu kennen, wollen die meisten Leute vorher erst gar nicht sterben.

Andererseits sind Videoüberwachungen Indikatoren einer gefährlichen Gegend. Vielleicht gibt es hier etwas zu holen, vielleicht treiben sich hier Kriminelle herum, auf jeden Fall muss diese Kamera einen Grund haben. Statt mehr Sicherheit vermittelt diese Maßnahme also eher Unsicherheit.

Ob zum Guten oder Schlechten - dass Kameras überhaupt etwas in irgendeine Richtung bewirken, ist nicht klar. Da die Installation der Überwachungsgeräte oft von weiteren Maßnahmen wie optischen Umbauten, bessere Sozialarbeit und mehr Sicherheitskräften flankiert wurde, lässt sich schwer sagen, ob und wenn ja wie welche Besserung erreicht wurde. Ebenso weiß man nicht genau, ob sich die Kriminalität nicht einfach verlagerte und was passierte, nachdem sich die Leute an die Gegenwart der Kameras gewöhnt hatten. Profitiert haben von alledem in jedem Fall die Hersteller der Überwachungssysteme, die nicht nur an der Installation, sondern auch an deren Wartung verdienten.

Einige Punkte des Vortrags bleiben unklar. Beim Thema Scoring, also der Einschätzung der Eigenschaften eines Menschen anhand statistischer Wahrscheinlichkeiten, die sich beispielsweise aus seinem Alter, seiner Herkunft und seinem Wohnumfeld ergeben, fordert padeluun dazu auf, eine angebliche Rechenaufgabe aus dem 2. Weltkrieg zu lösen: Man stelle sich ein über die Stadt London gelegtes Karoraster vor. Eine Bomberstaffel fliege dieses Raster einmal spalten- einmal zeilenweise ab und werfe in regelmäßigen Abständen eine gewisse Menge Bomben. Man berechne die Wahrscheinlichkeit, dass jedes Karo genau einmal getroffen wird. Nach padeluuns Erwartung hätte sich mindestens einer der Zuhörer melden und die Berechnung mit der Begründung ablehnen müssen, das Ganze sei ihm zu zynisch. Diese Erwartungshaltung verkennt aber ganz offensichtlich, wie Mathematik, wie Grundlagenforschung allgemein funktioniert. Wer eine 60 Jahre alte Rechenaufgabe gestellt bekommt und darauf trainiert ist, hinter jeder Aufgabenstellung so schnell wie möglich den abstrakten Hintergrund zu erkennen, kümmert sich nicht um schmückendes Beiwerk wie eine Geschichte von Bomberstaffeln. Statt Bombern über London könnte man auch Traktoren mit Saatgut über einen Acker oder ein Löschflugzeug über einen Waldbrand fliegen lassen, am mathematischen Hintergrund ändert sich nichts. Mehr noch: Mathematik ist in seiner Reinform so abstrakt, dass sich die Frage nach Moral einfach nicht stellt. Ihre Modelle kann ein Physiker benutzen, um zu verstehen, welche Gesetze das Universum zusammenhalten, oder um Atombomben effizienter zu gestalten. Wer hier mit Moral argumentiert, schwingt sich zur Gedankenpolizei auf. Der Fehler beim Scoring besteht nicht in den sich ergebenden Zahlen, sondern in deren Interpretation. Nicht die Statistik ist verwerflich, sondern derjenige, der sich von einer Balkengrafik blenden lässt, der ohne Ansehen der Person anhand eines Prozentwertes über Menschen richtet.

Um dem Publikum ein Gefühl dafür zu vermitteln, warum Datenschutz wichtig ist, schlägt padeluun vor, man möge sich vorstellen, die eine Hälfte des Auditoriums bestünde aus NPD-, die Andere aus Linkspartei-Anhängern. Dass diese einander unter keinen Umständen auch nur das kleinste Fitzelchen Wissen preisgäben, sei offensichtlich. Unbestritten hat er damit Recht, aber dennoch hinkt aus meiner Sicht der Vergleich zweier sich an gegenseitigen Enden des politischen Hufeisens befindlicher und sich zutiefst misstrauender Organisationen mit den Verhältnissen im täglichen Leben. Mit der Verkäufein, der ich meine Payback-Karte beim Bezahlen hinlege, werde ich mir aller Wahrscheinlichkeit keine Straßenschlacht liefern, um zu verhindern, dass sie ihrem Handwerk nachgeht. Die Basis des Datenschutzes ist meiner Meinung nach nicht extremes Misstrauen, sondern die Haltung: "Ich habe nichts gegen dich, vielleicht vertraue ich dir sogar zu einem gewissen Grad, aber zunächst einmal gehen dich meine Dinge nichts an." Ein c't-Redakteur hat es einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: "Wenn es wirklich wahr ist, dass du nichts zu verbergen hast, warum schließt du dann die Tür hinter dir, wenn du aufs Klo gehst?"

Bei all dem darf natürlich die Werbung für den FoeBuD nicht zu kurz kommen, denn die ganze Datenschützerei kostet Geld. So weist padeluun immer wieder auf die Erfolge des Vereins hin, ruft zum Spenden auf und lädt ein, sich im Internetladen umzusehen. Das mag bisweilen etwas penetrant wirken, aber Klappern gehört nun einmal zum Handwerk. Ob Greenpeace oder Unicef, Kirche oder Sportverein, früher oder später deutet jede dieser Organisationen zart an, dass sie von irgendetwas leben muss. Das passt nicht ganz zum Bild der selbstlos segensreich Wirkenden, aber so funktioniert der Kapitalismus nun einmal. Wer etwas dagegen hat, kann das Ganze ja auch "Fundraising" nennen - ist das Gleiche, klingt aber gleich viel netter.

In der Zusammenfassung stellt padeluun seine gesellschaftlichen Thesen vor. Erstens: In der Demokratie regieren die Guten - mit gefesselten Händen. Heißt: Egal, wie segensreich eine Regierung erscheinen mag, ihre Macht muss immer beschränkt bleiben.

Zweitens: Der Preis der Freiheit besteht darin, nicht jedes Verbrechen aufklären zu können. Das gelingt übrigens in einer Diktatur auch nicht. Insbesondere schützt sie die schlimmsten Verbrecher: die Diktatoren.

Drittens: Demokratie ist nicht statisch, sondern muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Man darf nicht die Regierungen vor sich hin regieren lassen, sondern muss Druck auf sie ausüben.

Insgesamt hat sich der Abend gelohnt. Zwar überzog padeluun die vorgesehene Stunde um 30 Minuten, aber er hatte ja auch etwas zu erzählen. Der Datenschutz braucht Leute, die engagiert und für Laien verständlich das Thema vermitteln, und padeluun ist einer von ihnen. Ein gewisser Hang zur Selbstdarstellung geht von ihm aus, aber so lange die Selbstdarstellung nicht zum Selbstzweck wird, so lange der plakative Auftritt als Träger eines guten Inhalts dient, bin ich froh, dass es Redner wie ihn gibt.

Montag, 2. November 2009

Schlaflos in Bochum

Ein Rückblick auf die Labortage 2009

Geeks und Nerds gelten allgemein als ausbaufähig sozialkompatibel. Sie beschäftigen sich mit seltsamen Dingen, sehen seltsame Filme, vertreten seltsame Ansichten und lachen über Dinge, über die sonst keiner lacht.

Mit anderen Worten: ein sympathisches Völkchen.

Ab und zu überkommt es diese ungewöhnlichen Menschen, etwas zu veranstalten, das selbst für ihre Maßstäbe ungewöhnlich ist. Bekanntestes Beispiel in Deutschland ist der Chaos Communication Congress, aber auch andere Organisationen laden übers Jahr verteilt zu verschiedenen Treffen, die man besuchen sollte. Mit erst der zweiten jährlichen Großveranstaltung neu dabei ist das Labor
in Bochum mit seinen Labortagen, doch bereits jetzt deutet sich an, dass einer der größten Hackerspaces in Deutschland einen neuen Höhepunkt im Kalender geschaffen hat. Mit 50 Besuchern war die Veranstaltung zwar vergleichsweise überschaubar, aber dafür kannte jeder jeden, und man hatte ausreichend Zeit, sowohl die Vorträge anzuhören, als auch privaten Kleinprojekten nachzugehen. Das Programm konnte sich sehen lassen und deckte für jeden Erfahrungsgrad etwas ab: Angefangen beim Löten für Anfänger über einen mehrteiligen Kurs über Microcontrollerprogrammierung, Lockpicking, Steganografie, Solarzellen zum Selberbauen bis hin zu kryptografischen Methoden der Post-Quantencomputer-Zeit ging es quer durch Theorie, Praxis, Hard- und Software. Zum Ausklang des Abends konnte man sich "Ghost riders" anhören - gespielt auf einer Teslaspule. Wer die eher konventionelle Klangerzeugung vorzog und dennoch stilecht bleiben wollte, kam an einem Abend in den Genuss eines Jakob-Bienenhalm-Konzerts.

Wenn 50 Leute über vier Tage auf relativ engem Raum beisammen sind, sollte man annehmen, dass die eine oder andere Reiberei vorkommt - doch nichts dergleichen. Die Atmosphäre war geprägt von viel Kreativität, hoher Konzentration und beispielhaftem Sozialverhalten.

Was bleibt zu sagen? Erstens: Club-Mate felst. Zweitens: Hermann-Kola felst auch. Drittens: Der "Pizzaman's" (Schreibweise nicht von mir), der uns vier Tage lang belieferte, felst ebenfalls. Am meisten aber felsen die Laboranten, die mit äußerster Professionalität, Geduld und Herzlichkeit rund um die Uhr ansprechbar waren und immer Hilfe wussten.

Bis zum nächsten Mal im Jahr 2010.

Sonntag, 25. Oktober 2009

Veranstaltungshinweis: Strange Culture im Bonner Rex

Die Aktion Mensch veranstaltet jährlich ein Filmfestival, in dem es generell um die Frage geht, wie wir unsere Welt und unser Leben gestalten wollen. In diesem Jahr geht es um Macht - wie sie funktioniert, wie sie ausgeübt wird, nötige und unnötige Regeln sowie die Frage, wie weit wir uns durch Andere bestimmen lassen wollen.

Datenschützer werden hellhörig, denn genau darum geht es bei der Grundrechtsdebatte: Wie viel Macht maßt sich die Regierung an, wofür braucht sie diese, und hat sie es möglicherweise schon zu weit getrieben?

Um diese Frage dreht es sich auch in der Dokumentation Strange Culture, der am 22.11. um 15 Uhr im Bonner Rex gezeigt wird. Der amerikanische Künstler Steve Kurtz wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass seine Frau Hope tot neben ihm im Bett liegt. Die herbei gerufenen Rettungskräfte bemerken, wie im Haus Petrischalen mit Bakterienkulturen herumstehen und alarmieren das FBI, das kurz darauf in Schutzanzügen das Haus stürmt. Dass Kurtz in Vorbereitung einer Veranstaltung zu genetisch manipulierten Lebensmitteln vollkommen harmlose Bakterien ganz legal im Internet bestellt hat, geht in die Köpfe der Ermittler nicht hinein. Sie sehen nur ein Buch über Bioterrorismus und eine Einladung zu einer Kunstausstellung, auf der dummerweise auch noch ein paar arabische Schriftzeichen stehen. Damit ist die Sache klar: Kurtz plant einen biologischen Anschlag. Kurtz wird verhaftet.

Zwar stellt sich schnell heraus, dass Hope ganz schlicht an Herzversagen gestorben ist und dass man mit den Bakterienkulturen keinen Schaden anrichten kann, aber wenn die Mühlen erst einmal zu mahlen begonnen haben, dann mahlen sie eben, und wenn man einen Terroristen erst einmal am Wickel hat, dann bekommt man den schon irgendwie verurteilt - egal, weswegen.

Deswegen lautet die Anklage auch Betrug unter Ausnutzung des Postwesens. Immerhin wurden die Bakterienkulturen ja per Post verschickt. Was daran Betrug sein soll, wenn man harmlose Bakterien mit der Post transportieren lässt und wer überhaupt der Betrogene ist, bleibt offen. Hauptsache, man klagt erst einmal.

So absurd das Verfahren auch sein mag, so bezeichnend ist die Reaktion seines Umfelds. Seine eigenen Studenten weigern sich, eine Unterschriftenliste mit Solidaritätsadressen zu unterzeichnen - nicht, weil sie an seiner Unschuld zweifeln, sondern weil sie Angst haben, mit der Wahrnehmung ihrer Meinungsfreiheit anzuecken und Repressalien befürchten.

Der Film wirft viele Fragen auf: Warum war die Staatsanwaltschaft so versessen darauf, Kurtz zu verurteilen? Wollte man einen kritischen Geist ruhig stellen, wollte man sein eigenes Scheitern nicht eingestehen, hat man einfach im Rahmen der 9/11-Hysterie der Meinung nicht wahrhaben wollen, dass ungewöhnliches Verhalten keine Straftat ist? Kann uns Ähnliches auch in Deutschland blühen?

Wer Lust hat, über diese Fragen zu diskutieren, ist eingeladen, nach dem Film noch eine Weile zu bleiben. Als Referenten stehen neben Vertretern der Humanistischen Union und des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung auch der Kölner Rechtsanwalt und Netzaktivist Dominik Boecker zur Verfügung.

Veranstaltungshinweis: Ringvorlesung Datenschutz in Bonn

Immer nur über das Geschehene schreiben, hat auf die Dauer auch keinen Wert, deshalb richtet sich der Blick jetzt nach vorn. In die Zukunft steht das Sinnen! Frischwärts! Aber hallo!

Da wären beispielsweise fünf Termine, die sich Datenschutzinteressierte im Kalender markieren sollten: Es handelt sich um die Ringvorlesung Datenschutz im Bonner B-IT. Die Referentenliste ist vom Feinsten: Klaus Brunnstein, Gerhart Baum, padeluun, Spiros Simitis und Knut Wenzel. Der letzte Name auf der Liste sagt mir offen gesagt nichts, was aber daran liegt, dass er katholischer Theologe und damit nicht das ist, woran man spontan denkt, wenn das Stichwort Bürgerrechte und IT fällt. Umso spannender ist sein Thema: "Theologische Vorbehalte gegenüber dem Willen zum totalen Wissen" Dass eine eher der Verkündigung und dem Bekenntnis zugeneigte Religion etwas zum Thema Privatsphäre zu sagen hat, liegt nicht unbedingt nahe, und ich bin gespannt, was Wenzel an Argumenten liefern wird.

Am 29.10. um 19.30 Uhr geht es im B-IT mit einem Vortrag Brunnsteins über den Schutz der Privatsphäre in Zeiten des Internet los. Details finden sich unter dem oben genannten Link. Ich kann nichts versprechen, aber ich habe sehr hohe Erwartungen an die Veranstaltungsreihe.

Nun also de Maizere

Nach Zimmermann meinte ich, es könne nicht schlimmer kommen,
und es kam Schäuble.
Nach Schäuble meinte ich, es könne nicht schlimmer kommen,
und es kam Kanther (Seiters muss ich übersehen haben).
Nach Kanther meinte ich, es könne nicht schlimmer kommen,
und es kam Schily.
Nach Schily meinte ich, es könne nicht schlimmer kommen,
und es kam noch einmal Schäuble.
Der war tatsächlich schlimmer als er selbst.
Jetzt meine ich, nach Schäuble könne es nicht mehr schlimmer kommen
und bin gespannt, wie de Maizere es schaffen mag, mich zu verblüffen.

Samstag, 24. Oktober 2009

Buchempfehlung: "Angriff auf die Freiheit"

Die letzten Monate waren turbulent, was das Thema Datenschutz und Bürgerrechte anbelangt. Beschränkte sich der Protest gegen Hackerparagraphen, Onlinedurchsuchung, Vorratsdatenspeicherung, BKA-Gesetz, RFID in Reisepässen und Fingerabdrücken in Personalausweisen vor allem auf die üblichen Bürgerrechtsgruppen, war bei der Internetzensur offenbar das Maß voll. Die Geeks gingen auf die Straße, und eine bis dahin als unbedeutender Spinnerverein belächelte Partei schaffte aus dem Stand heraus 2 Prozent bei der Bundestagswahl. Nun sind 2 Prozent kein politisches Erdbeben, selbst die SPD schafft noch mehr, bemerkenswert ist aber die mediale Aufmerksamkeit, die der Protest bekam. Offenbar haben weit mehr als die Wähler der Piratenpartei das Gefühl, dass es die Regierungen mit ihrem Kontrollwahn zu weit treiben.

In diese Stimmung hinein passt "Angriff auf die Freiheit". Juli Zeh und Ilja Trojanow, deren Schwerpunkt bisher eher auf Romanen lag, versuchen sich am politischen Sachbuch, und es gelingt ihnen auf Anhieb ein Standardwerk.

Wer die Diskussion um digitale Bürgerrechte der letzten Jahre verfolgt hat, wird nicht viel Neues finden, aber er findet das Bekannte ungewöhnlich kompakt und gut analysiert. Allein schon die 28 Seiten Anmerkungen am Ende des Buches sind eine wertvolle Quellensammlung, wenn man für eine Diskussion noch einmal herausfinden muss, wo die vielen Zahlen und Zitate, die einem im Kopf herum schwirren, genau herkommen.

Immer wieder dreht sich das Buch um Sprache. Sprache, die Terroristen die Menschenrechte verweigert. Sprache, die Technokratie mehr Wert einräumt als Demokratie. Sprache, die nicht mehr zwischen Verdächtigen und überführten Verbrechern unterscheidet. Sprache aber auch, mit der sich die Sprecher ungewollt entblößen - wie beispielsweise Wolfgang Bosbach, der noch 2007 E-Mails als "modernste IT-Technik" (Wofür steht eigentlich das "T" bei "IT?) ansah.

Die Sprache zeigt vor allem eins: Den Sprechern ist es völlig egal wie lächerlich sie sich bei denen machen, die ihnen genauer zuhören, so lange beim oberflächlichen Zuhörer der Eindruck hängen bleibt: "Mensch, der hat ja Recht. Wir brauchen unbedingt mehr Überwachung." Da stört es auch nicht weiter, wenn Jörg Ziercke seine Forderung, die Festplatten privater Computer durchsuchen zu können, mit "skrupellosen Kriminellen [die] ins Internet ausweichen" begründet, was mit lokalen Festplatten rein gar nichts zu tun hat. Ebenso findet es niemand daran, dass die mit herkömmlicher Technik erzielten Fahndungserfolge als Argument für weitere Handlungsbefugnisse herhalten müssen.

Zeh und Trojanow haben viele Zitate gesammelt und zerpflücken sie nacheinander. Dabei schlagen sie zwar einen scharfen Tonfall an, halten sich aber mit Polemik zurück. So bleibt am Ende ein engagierter Appell, sich gegen die ausufernde Staatsmacht zur Wehr zu setzen, der umso glaubwürdiger wirkt, weil die beiden Autoren stilistisch auf dem Teppich blieben.

"Angriff auf die Freiheit" eignet sich sowohl für Einsteiger, die sich einen Überblick verschaffen wollen, als auch für Leute, die sich schon lange im Thema bewegen und eine gut geschriebene Argumentationshilfe brauchen.



Ilja Trojanow, Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. Hanser, 14,90 €.

Sonntag, 18. Oktober 2009

Aufgeschoben ist nicht

Die Koalitionsverhandlungen zum Thema innere Sicherheit sind abgeschlossen, und die Netzgemeinde feiert - ist doch auf den ersten Blick viel gewonnen: Die Internetzensur wird ein Jahr lang nicht umgesetzt. Statt dessen will man versuchen, illegale Inhalte beim Provider löschen zu lassen. Die bei der Vorratsdatenspeicherung angefallenen Daten sollen nur bei einer Gefahr für Leib und Leben ausgewertet werden dürfen. Beim BKA-Gesetz soll der Schutz des Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung etwas gestärkt werden. "Großartig", mag man sich denken. "Da hat sich die FDP ja weit gehend durchgesetzt und ihre Wahlversprechen eingelöst."

Wie man's nimmt.

Sehen wir uns die Verbesserungen im Detail an: Am BKA-Gesetz kommt es zu Änderungen in homöopathischen Dosen. Wer so wie ich nicht daran glaubt, dass sich die Wirkung einer Substanz durch extreme Verwässerung steigern lässt, wird sich fragen, was bei den äußerst schwammigen Formulierungen der von Schäuble und Leutheusser-Schnarrenberger einberufenen Pressekonferenz an konkreten Maßnahmen heraus kommen soll. Festgelegt hat man sich auf nichts. Schlimmer noch: Die Onlinedurchsuchung bleibt bestehen, ihre Hürden sollen nur etwas erhöht werden. Ohne jetzt die ganzen Argumente wieder hervor zu kramen: Bereits der Vorgang, Ideen abzufangen, die gerade einmal das Stadium einer hingekritzelten Textdatei haben und weit von jeder praktischen Umsetzung entfernt sind, überschreitet die Grenze zur Gedankenpolizei.

Die Vorratsdatenspeicherung bleibt erhalten - lediglich ergänzt um eine Auflage, es mit der Auswertung nicht zu übertreiben. Heißt: Jeder Telefonierer, jeder E-Mailschreiber, jeder Internetsurfer bleibt in den Augen der Bundesregierung terrorverdächtig und muss ständig überwacht werden.

Den lächerlichsten Sieg haben die FDP und die Netzgemeinde aber an dem Punkt errungen, den sie am meisten bejubelten: beim Interneterschwerungsgesetz. Hier hat sich kaum etwas geändert - ach, reden wir nicht drum herum: Nichts hat sich geändert. Das Gesetz durchläuft weiterhin das Gesetzgebungsverfahren und wird damit nach Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt geltendes Recht. Provider wie die Telekom haben bereits die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Zensurmaßnahmen getroffen und könnten jederzeit loslegen. Die Bundesregierung hat sich streng genommen nur darauf verständigt, das von ihr selbst beschlossene Gesetz einzuhalten und erst zu versuchen, eine Seite löschen zu lassen. Das einzige Zugeständnis an die Kritiker besteht darin, die Sperrlisten vorerst leer zu lassen und erst etwas später an die Provider zu schicken. Ein wichtiges Detail übersehen die Meisten hierbei: Das Gesetz behandelt ausdrücklich nur dokumentierten Kindesmissbrauch, und nur auf das Aufschieben dieser Sperren haben sich die Verhandlungspartner geeinigt. Es gibt aber noch so fantastisch viele andere Dinge, die man ebenfalls zensieren lassen kann, und für die man den bestehenden Gesetzestext nur geringfügig umschreiben muss: illegale Kopien, politischer Extremismus, religiöser Fundamentalismus, Terrorismus, Drogenhandel, Aufforderung zur Gewalt, Killerspiele, Kampfhundeseiten - man muss nur eines dieser Themen in den Medien ordentlich hochkochen und zusehen, wie das Volk nach zwei Wochen schreit, es müsse irgendetwas dagegen getan werden. Sehen Sie sich die Umfragen an. Die Leute stehen auf populistischen Aktionismus. Bürgerrechte sind ihnen schnuppe, so lange der Bezinpreis stimmt und man auf der Autobahn mit 230 km/h in ein Stauende preschen kann. Das ist Freiheit, nicht dieses rührselige Gejammer um ungehinderten Informationsfluss.

Es ist nicht so, als hätten die Piratenpartei, der FoeBuD, der AK Vorratsdatenspeicherung und der AK Zensur schlagartig ihre Aufgabe verloren. Sie haben es nur noch schwieriger, sich Gehör zu verschaffen, weil alle glauben, sie hätten gewonnen.

Sonntag, 11. Oktober 2009

Mehr als nur Stimmenfang

Das erste, was im Krieg stirbt, ist bekanntlich die Wahrheit, und das erste, was im Wahlkampf stirbt, ist die Redlichkeit. Da in der Welt immer irgendwo Krieg herrscht und in der Bundesrepublik auch immer irgendeine Wahl ansteht, sind Wahrheit und Redlichkeit in diesem Land selten anzutreffende Tugenden. Einen Funken davon bekamen die Leser von Informationweek dieser Tage zu sehen, als Bundesinnenminister Schäuble neben der an Idiotie kaum noch zu überbietenden Platitüde vom "Internet als rechtsfreien Raum" in einem seiner wenigen ehrlichen Momente einräumte, das von Union und Spezialdemokraten durch die Instanzen gehetzte Internetverhinderungsgesetz könne vielleicht den einen oder anderen klitzekleinen Fehler haben und sei nicht zuletzt deswegen so hastig verabschiedet worden, damit die CDU im Wahlkampf punkten kann. Die Internetaktivisten reagierten prompt. Endlich bekamen sie das bestätigt, was sie die ganze Zeit schon vermutet hatten. Vom "Pakt mit dem Teufel" war die Rede, davon, dass die CDU mit der Einführung der Internetzensur die Büchse der Pandora geöffnet hat, nur um ein paar Stimmen zu ergaunern. Das ist zwar wahr, aber nur zum Teil.

Sehen wir uns den fraglichen Ausschnitt noch einmal an. Da heißt es: "Das Gesetz [...] sei [...] auch deshalb entstanden, um die CDU gegenüber anderen Parteien abzusetzen." Man achte auf das Wort "auch". Es ist nicht etwa so, dass wir die Internetzensur ohne Wahlkampf nie bekommen hätten. Sie kam nur etwas hastiger und etwas früher als geplant. Um dem Einen oder Anderen die Illusion zu nehmen: Der Innenminister ist nicht in Wirklichkeit ein dufter Kumpel, mit dem vor Wahlen vielleicht ein bisschen die Pferde durchgehen. Der Innenminister ist ein verbitterter, fanatischer und zutiefst traumatisierter Mann auf seinem persönlichen Kreuzzug gegen das Böse. Es gehört zu den größten Errungenschaften moderner Rechtsprechung, dass das Opfer nicht über seinen Täter richten darf, weil es nicht um individuelle Rache, sondern um Gerechtigkeit geht. In der Bundesrepublik ist dieses Prinzip ausgehebelt.

Es geht nicht um einen "Pakt mit dem Teufel". Das nämlich hieße, ein Übel in Kauf zu nehmen, um ein Gut zu erlangen. CDU und SPD jedoch wollten beides - dokumentierten Kindesmissbrauch verhindern und das böse Internet in den Griff bekommen. Der freie Datenverkehr war nicht die Seele, die sie an den Teufel verkaufen mussten, um arme Kinder zu retten - nein, die Internetzensur ist die bewusst eingesetzte Waffe, mit der man verhindern will, dass sich durch das Internet unsere Gesellschaft zu sehr ändert.

Eigentlich müssen wir sogar froh sein, dass die Internetzensur so hastig eingeführt wurde, weil wir so die Chance haben, dass das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht wegen seiner handwerklichen Fehler verhindert wird. Doch selbst dann sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Stellvertretend für die CDU hat Schäuble die Richtung vorgegeben, und eine Parteiensimulation wie die FDP wird in ihrer Extase, endlich wieder Ministerposten zu bekleiden, sich einen Kehricht um ihr vollmundiges Wahlkampfgetöse scheren.

Es ist Zeit, sich den Parteien wieder in Erinnerung zu rufen - egal ob Wahlkampf oder nicht.

Samstag, 10. Oktober 2009

Why can't they shut up?

Oft habe ich es in den vergangenen Wochen geschrieben und damit auch stets eine Hoffnung verbunden: Es war Wahlkampf, Betonung auf "war". Jetzt dürfen wir alle wieder vernünftiges Zeug reden, auch prominente Politiker. Ob auf deutsch oder auf englisch, egal, Hauptsache, nach langer Zeit wieder etwas mit einem Funken Verstand.

Damit dürfte klar sein, worauf ich hinaus will: Guido Westerwelle, ein Drama in drei Akten.

Erster Akt: Westerwelle spricht englisch - holprig, mit starkem Akzent, und man muss das Video schon einige Male ansehen, um eine Vorstellung zu bekommen, was der Mann überhaupt sagen will. Andererseits: Ist es so ungewöhnlich, bei einer Politikeräußerung keine Ahnung zu haben, worum es geht? Ich bin überzeugt, Westerwelle hätte in feinstem Hochdeutsch reden können, semantisch wäre nicht mehr als in der englischen Fassung herum gekommen. So bemitleidenswert Westerwelles Ringen mit der englischen Sprache auch sein mag - ich habe von wesentlich gebildeteren Menschen schon wesentlich schlechteres Englisch gehört, und ich wüsste gern, wie sich die Leute, die sich am lautesten mokieren, in einer Situation schlagen, in der sie auf eine Frage eingehen müssen, zu der ihnen nichts einfällt und dabei sich auch noch einer Fremdsprache bedienen sollen. Er hat es wenigstens versucht, und so schlimm, wie allseits behauptet, fand ich es nicht. Es mag ja sein, dass es nicht "second last or third last", sondern "second to last or third to last" heißt, aber wegen einer ausgelassenen Präposition rege ich mich nicht auf.

Zweiter Akt: Westerwelle spricht kein englisch. Irgendwer muss dem ansonsten von jeder Selbstkritik ungefährdeten kommenden Außenminister erzählt haben, dass sein Ausflug in die englische Sprache noch Potenzial nach oben hatte. Das muss dem Mann, der sonst keine Gelegenheit auslässt, sein von der Faktenlage gänzlich losgelöstes Selbstbewusstsein zur Schau zu stellen, innerlich so zugesetzt haben, dass er bei seiner ersten großen Pressekonferenz nach der Wahl um jeden Preis vermeiden wollte, englisch zu sprechen. So weit ist nichts einzuwenden. Die Frage ist nur, wie man die Sache verkauft. Mit einem Funken Verstand und Diplomatie hätte der künftige oberste Diplomat einer der führenden Wirtschaftsnationen der Welt etwa sagen können: "Bitte entschuldigen Sie, damit ich Ihre Frage angemessen beantworten kann, möchte ich gerne einen Dolmetscher hinzu ziehen." Statt dessen bürstet Westerwelle mit der Attitüde eines frisch gebackenen Abiturienten
den BBC-Reporter ab. In der Sache vielleicht noch verständlich, aber mit Sätzen wie "Es ist Deutschland hier" völlig inakzeptabel. Das scheint dem smarten Strahlemann von der FDP auch ansatzweise klar geworden zu sein, als er seinen Sätzen nur noch resigniert nachhorchen konnte. Um den Scherbenhaufen, den er als Elefant im Porzellanladen soeben hinterlassen hatte, notdürftig beiseite zu wischen, bot er dem Journalisten hastig an, sich nachher "bei einer Tasse Tee" noch auf englisch zu unterhalten und fegte bei dieser Wendung mit seinem Riesensäugergesäß gleich die nächste Regalreihe um - denn nichts brauchten die Briten in diesem Moment weniger, als auf das Klischee der teetrinkenden Volltrottel zurück geworfen zu werden. Besser kann man sich für das Amt des Außenministers nicht disqualifizieren.

Dritter Akt: Cem Özdemir rettet die deutsche Ehre. Guido hat's wieder mal gerissen, darüber war man sich einig. Doch anstatt die Sache damit auf sich bewenden zu lassen und abzuwarten, wie erneut der Beweis angetreten wird, dass in diesem Land auch wirklich jeder Außenminister werden kann, meint die Liga der politisch korrekten Gentlemen unter ihrem Mastermind Cem Özdemir, noch einen drauf setzen zu müssen. In einem weiteren Video bittet Özdemir im Namen aller guten DeutschInnen die BBC um Vergebung. Ehrlich. Aufrichtig. Mit Dackelblick. Und perfekt einstudiertem Englisch mit US-amerikanischem Akzent. Ganz, ganz toll. Ja, das müssten wir jetzt wohl die nächsten vier Jahre lang ertragen, aber dann, bei der nächsten Wahl, da kämen die GrünInnen zurück, und dann sei die Zeit der Finsternis vorbei.

Mit Verlaub, geht's noch? Westerwelle mag ja vielleicht nicht der Hellste sein, aber wir haben schon ganz andere Repräsentanten überlebt. Es ist auch nicht so, als hätten mit CDU und FDP Voldemort und Sauron zugleich die Macht übernommen, und wir seien gezwungen, jene düstren Jahre zu durchleiden, bis dann der Ami oder eine andere höhere Macht uns befreien. Wir leben in einer Demokratie, auch wenn so mancher Minister an deren Beseitigung arbeitet. Ein Wahlergebnis ist kein Gottesurteil, das man mit demütig gesenktem Kopf hinnimmt, sondern nur eine grobe Richtungsangabe. Es ist unsere Aufgabe als Volkssouverän, ständig kontrollierend und korrigierend in diese Weichenstellung einzugreifen. Ansprachen, die geistig aus einer Zeit vor 20 Jahren stammen, in der an den Hauswänden Sprüche wie "AusländerInnen! Lasst und mit diesen Deutschen nicht allein!" standen, sind eine possierliche Staffage fürs Haus der Geschichte, aber doch bitte kein ernst zu nehmender politischer Appell der Gegenwart. Die gaussche Normalverteilung gilt für Deutsche wie auch andere Menschen in gleicher Weise. Es gibt schlaue Menschen und dumme, integre Menschen und Lumpen, und ihr Pass hat mit Sicherheit keinen Einfluss darauf. Wer gelegentlich Nachrichten liest, wird feststellen, dass es kein Privileg von Guido Westerwelle ist, entsetzlich dummes Zeug zu reden. Das können Andere auch, und zwar reichlich. Der Einzige, der Grund hätte, sich für sein dämliches Gerede zu entschuldigen, wäre Westerwelle selbst. Das Letzte, was wir brauchen, ist noch ein weiterer vorlauter Streber, der meint, sich und stellvertretend die ganze Nation für die Peinlichkeiten eines Politclowns entschuldigen zu müssen und bei der Gelegenheit zu zeigen, wie toll er doch englisch kann.

Sic tacuisses, philosophus mansisses.

Sonntag, 27. September 2009

Die Quälerei ist vorbei

Die gute Nachricht zuerst: Die Große Koalition ist abgewählt. Die schlechte Nachricht: nur eine Hälfte. Das Abschneiden der SPD wäre schon fast bemitleidenswert, wenn die Partei das Ergebnis als Chance zur Erneuerung begriffe. Dazu müssten die Verantwortlichen natürlich endlich verstehen, dass eine einst den Kanzler stellende Partei ambitioniertere Ziele haben sollte, als nur den Wiedereinzug ins Parlament zu schaffen.

Neu ist die Situation für die SPD freilich nicht, nur gab es immer wieder historische Zufälle, die über die Lage hinweg täuschten: 1998 hatten die Leute Kohl so satt, dass selbst Schröder sie nicht ausreichend abschrecken konnte. 2002 war die Erinnerung an Kohl noch wach, Schröder mit Gummistiefeln beim Oderhochwasser so anrührend und sein Gegenkandidat eine dermaßene Lachnummer, dass die SPD sich gerade noch so halten konnte. 2005 wäre eigentlich eine gute Gelegenheit gewesen, die heillos zerstrittene rot-grüne Mannschaft zum geordneten Rückzug in die Opposition antreten zu lassen, um sich dort neu zu sortieren und 2009 gestärkt wieder anzutreten. Statt dessen ließ sich eine vor Machtgier zu keinem klaren Gedanken mehr fähige SPD auf eine Große Koalition mit der sträflich unterschätzten Kanzlerin Merkel ein. In dieser Koalition ließ sich die SPD vier Jahre lang von der CDU vor sich her treiben und gab sich mit einer ans Pathologische grenzenden Realitätsverleugnung der Illusion hin, man sei der kraftstrotzende Regierungspartner und die schlechten Umfrageergebnisse ließen sich durch ein weiteres Oderhochwasser schon wieder hinbiegen.

Die SPD habe in ihrer einhundertsechsundvierzigjährigen Geschichte so manche Krise erlebt, hieß es in den vergangenen Monaten immer wieder, deswegen werde sie auch diese überstehen. Eine hübsche Hoffnung, aber nicht unbedingt eine begründete. Nur weil ich n Jahre lebe, heißt das nicht, dass ich auch n+1 Jahre leben werde. Gehen Sie auf den nächstbesten Friedhof, wenn Sie mir nicht glauben. Vielleicht ist die Zeit für die SPD einfach abgelaufen. Der akademisch-ökologisch-mittelständische Flügel ist zu den GrünInnen, der proletarisch-sozialistische Flügel zur Linkspartei und der IT-Bürgerrechtler-Flügel zu den Piraten abgewandert. In völliger Fehleinschätzung der Situation hat die SPD diese Abwanderung nicht nur hingenommen, sondern vor allem beim Wegbruch des linken Arbeitnehmerflügels sogar noch aktiv unterstützt, weil man sich als Partei der Mitte etablieren ("profilieren" wäre in diesem Zusammenhang ein Oxymoron) wollte und davon ausginge, die verlorenen Schäfchen werden schon von allein wieder zur Herde finden. Warum die ehemaligen Mitglieder aus den auf ihre Bedürfnisse spezialisierten Parteien wieder in den sozialdemokratischen Mischmasch zurückkehren sollen, wo sie ständig in der Minderheit sind, vermag die SPD nicht zu vermitteln.

So lange die Stimmanteile ausreichten, um wenigstens noch als Koalitionspartner unentbehrlich zu sein, konnte sich die SPD der Illusion hingeben, alles sei im Prinzip in Ordnung. Jetzt aber haben ihre Prozentzahlen die Region erreicht, in der auch Linkspartei, GrünInnen und FDP unterwegs sind. Statt sich mit der CDU um die Kanzlerfrage zu streiten, ist die SPD nur ein möglicher Bündnispartner von vielen, und ihre Konkurrenten haben nur zu gut die arroganten Verleumdungen in Erinnerung, mit denen die SPD sie einst klein zu halten versuchte. Unwählbar seien sie alle, von Demokratiefeinden unterwandert, Rattenfänger, denen kein vernünftiger Mensch seine Stimme geben dürfe. Knapp ein Drittel der Wähler sehen dies anders. Das sind zehn Prozent mehr als die, welche der SPD noch etwas zutrauen.

Dreiundzwanzig Prozent sind natürlich besser als nichts. Die SPD ist nicht am Boden zerstört, aber wenn ihr in den kommenden Jahren keine Antwort auf die Frage "Wer braucht euch noch?" einfällt, gibt es nichts, was den freien Fall bremst. Eins scheint mir klar: Mit der jetzigen Mannschaft gelingt die Antwort nicht.

Dann heißt es also schwarz-gelb. Knapp die Hälfte meines Lebens werde ich von dieser Farbkombination regiert worden sein. Ich bin also im Training und habe eine grobe Ahnung von dem, was kommen wird. Die FDP wird bei jeder größeren Schweinerei entsetzt aufschreien, mit ihnen den Liberalen, ginge das auf gar keinen Fall, eher friere die Hölle zu. Die CDU sagt daraufhin "OK, wir senken die Steuern für Einkommen ab 100.000 €", und schlagartig kann man im Fegefeuer Schlittschuh laufen. Warten Sie ab, wann wir die Bundeswehr im Innern haben. Eine einfache Stoppuhr mit Sekundenzeiger sollte reichen.

Ideologisch hat der Neuaufguss von schwarz-gelb seine Vorteile. Diese Regierung wird so agieren, wie man es von ihr erwartet. Auf ein linkes Korrektiv braucht man gar nicht erst zu hoffen. Gespannt bin ich unter anderem auf die kommende Ausweitung der Internetzensur - vor allem auf technischer Ebene. Bei den IP-Blockaden wird es wohl kaum bleiben. Was kommt danach? Ich tippe auf Sendezeiten für bestimmte Inhalte. Diese Idee wurde in der Vergangenheit immer wieder diskutiert und ist so herzerweichend dumm, dass unsere christliberalen Internetexperten der Versuchung nicht lange werden widerstehen können.

Das Abschneiden der Piraten offenbart den Unterschied zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung. Wer die Internetaktivität dieser Partei beobachtete, musste den Eindruck bekommen, die Kanzlerschaft sei in greifbarer Nähe, und nicht wenige Wahlkämpfer ließen sich zur Äußerung hinreißen, die Fünf-Prozent-Hürde sei ein realistisches Ziel. Am Ende waren es zwei Prozent - ein Achtungserfolg, wenngleich auch meilenweit vom Einzug ins Parlament entfernt. Nüchtern betrachtet war es auch gut so. Weder personell noch programmatisch war man für den Bundestag gewappnet. Die Piraten hätten sich gnadenlos blamiert und wären wieder in der Versenkung verschwunden. Nun aber haben sie genug Stimmen bekommen, um sich ermutigt zu fühlen, aber auch wenig genug, um zu wissen, dass sie noch viel vor sich haben. Die Informationsgesellschaft wirft Fragen auf, die von den bisherigen Parteien nicht angemessen beantwortet werden. Den Bedarf für eine auf diese Fragen spezialisierte Partei gibt es also. Die kommenden vier Jahre werden zeigen, ob die Piraten diese Partei sind.

Nichtwählen allein reicht nicht

Das System der repräsentativen Demokratie ist korrupt. Eine vom Volk meilenweit abgehobene politische Kaste lässt sich im Vierjahresrhythmus in ihrer Herrschaft bestätigen, um sich in der Zwischenzeit in ihr Raumschiff zurückzuziehen, in dem sie bis in alle Ewigkeit ihre sinnlosen Machtspielchen vollzieht und sich in den Spielpausen persönlich bereichert. Nichtwählen, das ist ist die Antwort. Dem Establishment zeigen, dass man nicht länger bereit ist, diese Verhöhnung der demokratischen Idee weiter mitzutragen. Trotz aller Anfeindungen stolz und mutig dazu stehen, dass man sich von den politischen Laiendarstellern nicht länger einlullen lässt.

Hach, da fühle ich mich doch gleich viel wohler, nachdem ich das geschrieben habe. Bekräftigt werde ich in meiner Auffassung noch durch einen Telepolis-Artikel, der ausführlich die grundsätzlichen Fehler des Ansatzes erläutert, durch Wahlen Macht an Vertreter abzugeben. Die wahren Demokraten, so betont der Artikel immer wieder, seien diejenigen, die sich tapfer der Versuchung widersetzen, nicht wählen und märtyrerhaft die an Verfolgung grenzenden Angriffe einer politisch korrekten Gesinnungspolizei ertragen. Kopf hoch, habt Mut! Der deutsche Widerstand stirbt, doch er ergibt sich nicht!

Jetzt haben wir's denen da oben aber kräftig gegeben. Die fangen bestimmt schon an zu zittern, weil wir sie durchschaut haben. Heute Abend wird Frau Merkel vor die Kameras treten und sagen: "Ich finde es ja prima, dass meine Regierung eine satte Mehrheit errungen hat, aber tut mir leid, ich kann die Wahl nicht annehmen. Gerade erfahre ich, dass 30% der Wahlberechtigten gar nicht mit abgestimmt haben. Das macht mich irgendwie total traurig. Ich und meine Kollegen haben deswegen beschlossen, den Bundestag aufzulösen und erst dann wieder zusammenzutreten, wenn wieder viel mehr Leute wählen gehen und wir eine wirkliche demokratische Legitimation haben. In der Zwischenzeit müsst ihr euch eben selbst etwas beschäftigen."

Wissen Sie, was passieren wird, wenn wirklich niemand mehr wählen geht? Weihnachtsmann und Osterhase werden gemeinsam ihre Geschenke austeilen, mit anderen Worten: Der Fall wird nie eintreten. Es gibt im Wahlgesetz keinen Passus, der festlegt, ab welcher Beteiligung eine Wahl gültig ist und was zu geschehen hat, falls dieses Quorum nicht erreicht wird. Mit anderen Worten: Solange es irgendetwas zum Auszählen gibt, wird es ein Wahlergebnis geben, aus dem sich eine Sitzverteilung ableitet, auch wenn nur die Kandidaten selbst wählen gehen und einfach sich selbst ankreuzen.

Es mag dem Telepolis-Autor nicht passen, aber wenn jemand nicht wählen geht und das auch noch für eine wahnsinnig tolle Entscheidung hält, muss er sich von mir, der ich nun wirklich nicht zu politischer Korrektheit neige, gefallen lassen, dass ich ihn für eine Idioten halte. Ich kann nachvollziehen, dass man auf die sich an Überflüssigkeit gegenseitig überbietende Riege von Politikersimulationen keine Lust mehr hat. Ich kann das Misstrauen verstehen, das viele Leute gegenüber einem System empfinden, in dem wie in einer Casting-Sendung ein paar Karrierejunkies von Ortsvereins- bis aus Landesebene durch verschiedene Auswahlrunden genudelt werden, bis zum Schluss ein stromlinienförmiger Strahlemann übrig bleibt, dessen Hauptverdienst vor allem darin besteht, sich auf seiem Weg nach oben die wenigsten Feinde gemacht zu haben. Ich bin sogar bereit, darüber zu diskutieren, ob man politische Ämter nicht besser einfach auslosen sollte, weil damit die Chance, per Zufall jemanden mit Verstand zu erwischen, höher als beim jetzigen Verfahren ist und vor allem deutlicher wäre, dass politische Verantwortung vor allem eines ist: eine Bürde, keine Belohnung für Beliebtheit. Ein Regierungschef, der wirklich begriffen hat, was sei Amt bedeutet, müsste eigentlich statt mit einem strahlenden Lächeln mit abgekauten Nägeln herumlaufen.

Wenn also jemand nicht zur Wahl geht, kann ich das verstehen. Dummerweise lassen es die Meisten darauf bewenden, und genau das kritisiere ich. Demokratien, egal ob parteienbasiert oder nicht, funktionieren nur bei aktiver Teilnahme des Volkes. Wer schmollend daheim herumsitzt, akzeptiert faktisch nur das Bestehende, auch wenn er noch so mit den Zähnen knirscht. Wer irgendetwas erreichen will, und sei es die Abschaffung des Parlamentarismus, muss aktiv werden, muss mit Leuten in Kontakt treten, muss Unterstützer gewinnen. Einfach nur maulen reicht nicht.

Nachtrag: Fast noch dämlicher als Nichtwählen ist in meinen Augen das bewusste ungültige Ausfüllen des Stimmzettels. Glaubt wirklich jemand, der Wahlvorstand falte beim Auszählen den Zettel auseinander, liefe bleich an, sage: "Da hat einer 'Alles Schwachköpfe' draufgeschrieben. Du liebe Güte, der hat ja Recht. Ich rufe sofort den Kanzler an, er soll die Wahlen absagen und bessere Kandidaten suchen." Ich habe über zehn Jahre als Wahlhelfer gearbeitet. Kein einziges Mal hat ein ungültiger Stimmzettel zu mehr Reaktionen geführt als zur Frage: "Wo is'n der Stapel mit den Ungültigen?"

Mittwoch, 23. September 2009

Countdown steht auf 4

Noch vier Tage bis zur Wahl - Zeit sich zu überlegen, wo die Kreuzchen denn nun landen sollen. Zum Glück haben die Parteien ganz ähnliche Sorgen, weswegen sie ihre Kandidaten bis kurz vor Schluss in die Arenen schicken. In diesem Fall war es eine Podiumsdiskussion in Bonn, die sich der verschiedenen Haltungen zum Thema Bürgerrechte annahm. Geladen hatten der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die Humanistische Union und der Verein Mehr Demokratie e.V., gekommen waren Ulrich Kelber (SPD), Katja Dörner (Grüne), Stephan Eisel (CDU), Paul Schäfer (Linke) und Philipp Große (FDP). Philipp - wer? Der FDP-Abgeordnete für Bonn heißt doch Westerwelle, oder? Man muss fair bleiben. Westerwelle ist die Nummer 1 der FDP und hat einen etwas anderen Reiseplan als seine Mitbewerber. Da reicht es bei einer vergleichsweise kleinen Versammlung wie dieser, wenn der Bezirkssprecher der Jungen Liberalen einspringt. Der bringt zwar nicht ganz so viel auf die Waage, aber so lange er gut vorbereitet ist und die Fragen beantwortet, kann man doch froh sein, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien jemanden geschickt haben.

Alle im Bundestag vertretenen Parteien? Da waren doch noch die Piraten, warum hat die keiner eingeladen? Das Thema passt doch ganz fantastisch zu denen. Das stimmt, aber sieht man sich an, was die Piraten unter "im Bundestag vertreten" verstehen, so handelt es sich dabei um einen einzelnen Abgeordneten am Ende seiner parlamentarischen Laufbahn, der kurz vor Ablauf der Legislaturperiode (und seines Mandats) im Streit die SPD-Fraktion verlassen und einen Aufnahmeantrag in die Piratenpartei gestellt hat. Ich will niemandem auf die Füße treten, aber das ist eine andere Liga als die anderen Parteien, die seit Jahren mit direkt oder über die Liste entsandten Abgeordneten im Bundestag vertreten sind. Selbst wenn man formaljuristisch akzeptiert, dass die Piraten mit einem Abgeordneten auf irgendeine Weise im Bundestag sitzen, haben die anderen fünf Parteien wenigstens noch Direktkandidaten, die sie für Bonn ins Rennen schicken. Hätte man die Piraten eingeladen, wäre der Ausgewogenheit halber auch eine Einladung an die anderen Parteien angemessen gewesen, und wie man gleich sehen wird, hatten die Veranstalter allein schon aus zeitlichen Gründen keine Lust, sich das Podium mit Vertretern der MLPD, den Violetten und erst recht nicht mit der NPD vollzustopfen. Sehen Sie sich den Stimmzettel für Bonn an, treiben Sie ein wenig Kopfrechnen und sagen Sie mir dann, ob Sie es ertragen hätten, wenn auch nur die Hälfte der in Frage kommenden 20 Parteien auf dem Podium vertreten gewesen wären.

Die Spielregeln waren einfach: Jeder Mitveranstalter stellt sich vor und den Kandidaten eine Frage. Jeder bekommt zur Antwort zweieinhalb Minuten, nach denen der Moderator auch nicht mehr viel mit sich handeln ließ. Dazwischen gab es fürs Publikum Fragerunden, wobei auch hier die Antwortzeit auf zweieinhalb Minuten begrenzt war. Erfreulicherweise hielten sich die Kandidaten an diese Spielregel, wenngleich bei einzelnen der Eindruck aufkam, sie fühlten sich durch diese Einschränkung in ihrer Ehre verletzt.

Es kam viel an diesem Abend zur Sprache, aber als Computerjunkie waren mir die Punkte Datenschutz und Internetzensur am wichtigsten, weswegen ich nur wiedergebe, was dazu gesagt wurde.

Philipp Große von der FDP forderte ein neues Datenschutzgesetz, dem der Leitgedanke der strikten Datensparsamkeit zugrunde liegt. Er betonte dabei aber auch die Verantwortung des Einzelnen und regte an, das Datenschutzbewusstsein der Leute deutlich zu schärfen. Große sprach sich gegen Netzsperren aus, weil man dadurch eine Pandorabüchse geöffnet hat. Er fordert, die Betroffenen von Überwachungsmaßnahmen konsequenter als bisher zu informieren.

Stephan Eisel von der CDU wünscht sich mehr Transparenz beim Datenschutz. Einen großen Teil seiner Argumentation verwandte er auf das Zensurgesetz, das er unterstützt. Er wehrte sich gegen die Verunglimpfung der Gegner des Zensurgesetzes, forderte aber auch für die Befürworter eine fairere Behandlung. Als einziger Podiumsgast sprach er sich deutlich für eine Ausweitung der bereits im Gesetz beschlossenen Zensurmaßnahmen auf alle rechtswidrigen Inhalte aus und nannte als Beispiel rechtsradikale Seiten.

Paul Schäfer von den Linken ist gegen das Zensurgesetz. Er will keine verdachtsunabhängigen Datensammlungen und ist deswegen auch gegen Vorratsdatenspeicherung.

Ulrich Kelber von der SPD möchte sich in der kommenden Legislaturperiode für ein Arbeitnehmer-Datenschutzgesetz engagieren. Er möchte den Auskunftsanspruch der Betroffenen verbessern, wenn diese erfahren wollen, was über sie gespeichert ist. Bei Datenerhebungen wünscht er sich ein striktes Opt-In-Prinzip. Weiterhin regt er ein "Whistleblower-Gesetz" an, das es Informanten ermöglichen soll, auf verdeckte Misstände in ihren Unternehmen hinzuweisen, ohne dafür die Kündigung riskieren zu müssen. Schließlich erläuterte er seinen Standpunkt zum Zensurgesetz, gegen das er zwar schwere Bedenken hat, aber aus Fraktionsdisziplin zusammen mit den Abgeordneten der Großen Koalition verabschiedete. In diesem Zusammenhang merkte er an, er hielte den Satz "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" für ausgemachten Blödsinn.

Katja Dörner von den Grünen sprach sich ebenfalls für ein neues Datenschutzgesetz aus. Sie will Privatunternehmen mehr in die Pflicht nehmen und die Haftungsbedingungen für die illegale Datenweitergabe verschärfen. Ähnlich wie Kelber möchte sie die Auskunftsansprüche der Betroffenen stärken. Ihr Akzent besteht in besserer personeller Ausstattung der Datenschutzbeauftragten. Sie ist gegen die Internetzensur und hält das beschlossene Gesetz für reine Symbolpolitik. Die vielen Enthaltungen grüner Abgeordneter bei der Verabschiedung des Gesetzes interpretierte sie als Zeichen, dass man zwar einerseits gegen das Gesetz sei, andererseits gegen Kindesmissbrauch vorgehen wolle.

Inhaltlich gab es insgesamt nicht viel Neues. Vor allem zum Zensurgesetz scheint inzwischen alles gesagt zu sein. Befürworter wie Gegner spulten ihren Katalog ab, wobei ich auf beiden Seiten gern gesehen hätte, wenn offenkundig falsche oder zumindest in dieser Pauschalität nicht korrekte Aussagen in den letzten Monaten einer Revision unterzogen worden wären. Beide Seiten haben sich inzwischen mit der Materie zu intensiv beschäftigt, als dass sie die Nebelgranaten des jeweiligen Gegners nicht zu Genüge kennen. Im Publikum dürfte auch kaum jemand gesessen haben, der sich mit dem Thema so wenig auskannte, dass er die kleinen Flunkereien nicht bemerkt hätte.

Ein wenig störend war am Abend die immer wieder aufflackernde Privatfehde zwischen Eisel und Kelber. Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, aber wer sich Eisels Internetseite ansieht, findet dort zum Zeitpunkt, da ich diesen Artikel schreibe, allein zwei Artikel, in denen Kelber direkt angegangen wird. Auch Eisels Gekrittele an der Aussage des Moderators, laut einer Statistik sei die Direktwahl Kelbers "wahrscheinlich", wirkt auf mich unnötig provinziell. Ich wähle Leute, weil ich sie gut finde, nicht weil die anderen schlecht sind, und jeder sollte wissen, dass die einzige wirklich zuverlässige Aussage, wer das Direktmandat für Bonn in den kommenden vier Jahren innehaben wird, am Sonntag ab 18 Uhr getroffen werden kann.

Womit wir bei meiner höchst subjektiven Einschätzung wären, wer bei der Diskussionsveranstaltung am besten punkten konnte. Paul Schäfer war ordentlich, stach aber nirgendwo besonders heraus. Philipp Große stellte seinen Standpunkt und den seiner Partei gut dar, aber was der spätere Mandatsinhaber Westerwelle im Einzelnen meint, kann Große natürlich nicht wissen. Stephan Eisel gebührt der Respekt, sich der Veranstaltung überhaupt gestellt zu haben, wohl wissend, dass die Stimmung dort nicht gerade für ihn war.

Kommen wir zu den beiden, die aus meiner Sicht die Veranstaltung für sich entschieden: Ulrich Kelber ist Informatiker, und das merkt man einfach, wenn er von Datenschutz spricht. Man mag nicht jede seiner Haltungen teilen, insbesondere beim Zensurgesetz halte ich seine Entscheidung weiterhin für falsch, aber der Mann ist ein Profi und beim Thema Bürgerrechte in seinem Element.

Siegerin nach Punkten ist aus meiner Sicht Katja Dörner, die noch ein wenig bessere Akzente setzte, klar gegen das Zensurgesetz ist und als Neueinsteigerin einfach weniger verbraucht wirkt. Sowohl sie als auch Kelber nahmen sich nach Ende der Veranstaltung noch eine halbe Stunde Zeit und standen mit kleineren Diskussionsrunden zusammen. Dies nur als kleiner Tipp für die anderen Podiumsgäste: So hinterlässt man wenigstens den Eindruck, als interessiere man sich für die Meinung potenzieller Wähler.

Am Ende bleibt eine Frage, die ich am Abend nicht loswurde, die mich aber seit einiger Zeit beschäftigt: Es mag ja sein, dass abgesehen von Herrn Eisel alle Podiumsgäste gegen Internetzensur waren, aber zumindest im Fall Kelbers handelt es sich dabei innerhalb der Partei um eine Minderheitenmeinung, und bei den anderen Parteien muss man nur ein wenig im Internet suchen, um herauszufinden, dass Internetzensur dort auch begrüßt, mitunter sogar deren Ausweitung gefordert wird. Die FDP hat in den vergangenen Jahrzehnten einfach zu oft mit großer Geste Forderungen aufgestellt, nur um sie unmittelbar später wieder fallen zu lassen, als dass ich ihr plötzlich wieder erwachtes Interesse an Menschen- und Bürgerrechten sonderlich ernst nehmen könnte. Bei den Linken und Grünen frage ich mich, wie lange sie der Versuchung widerstehen, die Nazis aus dem Netz auszublenden. Zu deutlich erinnere ich mich noch an den Schwenk der Grünen im Jugoslawienkrieg, und da ging es nicht um ein paar Internetseiten, sondern um einen handfesten Krieg.

Egal, ob es nun um das BKA-Gesetz, die Vorratsdatenspeicherung, die Onlinedurchsuchung, den Hackerparagraphen oder schließlich die Internetzensur ging - immer wieder beobachtete ich den gleichen Frontverlauf: Eine techniklastige Gruppe, für die elektronische Kommunikation nicht einfach ein wichtiges Werkzeug ist, sondern einen charakteristischen Teil ihrer Person ausmacht, stemmt sich vehement gegen eine andere Gruppe, für die Telefone einfach nur zum Sprechen da sind und die beim Internet als Erstes an Bombenbauanleitungen, Terroristen, Nazis, Ufologen, Flamewars und Pornos denken. Katja Dörner sprach bei der Veranstaltung von einer Generationenfrage. Auffällig ist, dass diese beiden Seiten nicht zueinander finden, und ich habe den Eindruck, dass Online- und Offline-Welt seit Jahren so weit auseinander driften, dass ein wichtiger Punkt der demokratischen Willensbildung nicht mehr funktioniert. Die Offline-Welt sieht in der Online-Welt nichts, was für sie irgendeinen Wert bedeutet, die Online-Welt wiederum hält die Offline-Welt für ein altmodisches Relikt. Vertreter beider Welten stolpern unglaublich tapsig in der jeweils anderen Hemisphäre herum. Wichtig ist aber: In beiden Welten leben Menschen. Menschen, die wohl oder übel zwischen beiden Welten hin und her pendeln müssen und in beiden Welten Bedürfnisse und Rechte haben. Diese Welten müssen einander zu verstehen versuchen, und dazu gehört deutlich mehr als wie Herr Eisel stolz auf seine niedrige Compuserve-Nummer zu sein.

Wie stellen Sie sich vor, diese Kluft zu überbrücken?