Samstag, 10. Oktober 2015

Die Nazikeule als Bumerang

Hunderttausende in Berlin gegen TTIP unterwegs. Die Veranstalter kommen im Adrenalinrausch auf 250.000, die Polizei wird mit 100.000 oder 150.000 zitiert. Wie auch immer, das sind Zahlen von denen die "Freiheit-statt-Angst"-Demonstrationen nur träumen können.

Die Frage ist: Wo kommen diese ganzen Leute her? Das Thema ist ähnlich wie die NSA-Affäre eher sperrig und abstrakt, aber komischerweise springen deutlich mehr Menschen auf ein künftiges Freihandelsabkommen an als auf gegenwärtigen Überwachungsstaat. "Spiegel Online" hat eine Antwort darauf: Nazis.

Schauen Sie mich nicht so erstaunt an, ich wusste es bis vor wenigen Stunden auch nicht. Die Argumentation verläuft wie folgt: "Pegida-Bachmann, Marine Le Pen und Donald Trump" sind gegen TTIP, einige in deren Gedankengut Verwurzelte sind bei der Demonstration dabei, also ist damit gleich die ganze Demonstration diskreditiert.

"Lächerlich", werden Sie sagen. "Es mag ja sein, dass bei der Demonstration auch Leute aus dem rechten Spektrum mitlaufen, aber dafür können doch die Anderen nichts." Wenn es denn so leicht wäre.

"Wer mit den Nazis auf die Straße geht, ist selber Nazi." Wie oft habe ich den Spruch gehört, als Anfang dieses Jahres Zigtausende Menschen auf den Pegida-Demonstrationen auftauchten. In den Augen der stets und überall den Pesthauch des Faschismus witternden Empörungslinken waren das alles Nazis. Ausnahmslos.

Ich fand die Argumentation damals schon gefährlich. Ich will nicht bestreiten, dass die Pegida-Bewegung falsch lag. Ich bestreite nur, dass alle, die auf deren Demonstrationen auftauchten, Nazis waren. Schlecht informiert vielleicht, hysterisch überreagierend, aber eben keine Nazis - zumindest noch nicht. Wer Leute, die aus einem schlechter Bildung geschuldeten, aber ehrlichen Bauchgefühl heraus mit den falschen Leuten auf die Straße gehen, pauschal in die Naziecke drängt, bewirkt damit nicht etwa, dass sie sich erschrocken von der Bewegung abwenden, sondern im Gegenteil die Trotzreaktion: "Och, wenn die ganzen netten Leute vom letzten Samstag alles Nazis waren, dann können die doch gar nicht so schlimm sein. Dann bin ich auch Nazi."

Die Faschismuskeule wird gern geschwungen, und nach stalinistischer Selbstsäuberungsmanier auch gern gegen die eigenen Leute. So müssen sich die Mitglieder von Digitalcourage, die zu Demonstrationen gern ihren riesigen Datenkraken mitbringen, immer wieder den Vorwurf anhören, ein Nazisymbol zu benutzen. Mit solchen Leuten will die brave Antifaschist.in natürlich keinen Umgang pflegen. Datenschutz kann ja nur Mist sein, wenn die schon solche Symbole benutzen.

Die Annahme, dass Nazis von dem Moment an, wenn sie morgens aus dem Bett steigen, nur schlimme Dinge unternehmen, führt zur bizarren Konsequenz, alles pauschal als faschistoid abzulehnen, wenn es zufällig auch von Nazis vertreten wird. Ich verurteile die völkerrechtswidrigen Gefangenenlager der USA, und dass die Nazis gleichzeitig über den US-Imperialismus wettern, lässt Guantanamo nicht einen Tick humaner werden. Ich sehe eine erhebliche Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat, wenn die von TTIP vorgesehenen Geheimgerichte ihre Urteile sprechen, und dass die Nazis aufgrund ihrer verschrobenen Verschwörungstheorien das auch so sehen, lässt diese Geheimgerichte nicht einen Tick harmloser werden.

Wahrscheinlich sind am heutigen Samstag auch Nazis in Berlin auf der Demonstration gewesen. Komischerweise hat das niemanden besonders gekümmert, niemanden von den Grünen, den Gewerkschaften, den Natur- und Umweltschutzverbänden oder von Digitalcourage. Komischerweise haben sie sich nicht wie sonst mit dem Schreckgespenst der falschen Bündnispartner herumscheuchen lassen. Ich könnte mich jetzt genüsslich darüber auslassen, wie oft auch nur ein einziger falscher Name auf einer Unterstützerliste dazu führte, dass ganze Gruppen sich empört zurückzogen, statt dessen freue ich mich, wie souverän derlei Kinderkram diesmal vermieden wurde. Waren Nazis auf der Demonstration? Vielleicht, das ist ein freies Land, und wir führen beim Betreten des Veranstaltungsgeländes keine Gewissensprüfung durch, nicht bei 150.000 Menschen. So lange die große Mehrheit aus dem demokratischen Spektrum kommt, verkraften wir die unvermeidlich mitlaufenden Idioten locker.