Samstag, 30. Juli 2011

Instrumentalisierung des Leids

Extreme Taten wie die Morde von Utøya führen zu sehr emotionalen Reaktionen. Das ist in gewisser Weise sogar ein gutes Zeichen, weil es andeutet, dass uns menschliches Leid immer noch berührt. Auf der anderen Seite sollten wir aufpassen, in der Emotion nicht die Relationen aus den Augen zu verlieren.


Das Verbrechen war noch gar nicht richtig vorüber, da meinten die Nachrichtenmedien schon, erste Erklärungen liefern zu müssen, und natürlich kamen viele sehr schnell mit dem Erzbösewicht, der seit dem 11.9.2001 in den Köpfen der westlichen Kulturen herumgeistert: dem Muselmann. Natürlich mussten es Islamisten sein, andere Leute sind auf dieser Welt ja gar nicht in der Lage, jemanden zu töten. Dummerweise stellte sich schon kurz darauf heraus, dass der Täter kein Moslem war. Also musste eine neue Erklärung her. Wenn der Muselmann ausscheidet, bleibt eigentlich nur noch der andere Erzbösewicht übrig: der Nazi. Das passte schon sehr viel besser, fand sich doch reihenweise Material, das auf einen rechtsradikalen Hintergrund schließen lässt.


An dieser Stelle hätte man innehalten und die Fakten stehen lassen können. Aber nein, aus Einzelereignissen muss ja unbedingt ein großer Trend herausgelesen werden. Die Attentäter von New York waren ja auch nicht einfach Dreckskerle, die mit geringem Aufwand möglichst viel Menschen umbringen wollten, es war der "islamistische Terror". Breivik ist nicht einfach ein niederträchtiger Lump, der mit völlig irrsinnigen Vorstellungen ein von Sozialdemokraten organisiertes Ferienlager ermordete, sondern er leitet den "rechtsradikalen Terror" ein.


Wenn wir so etwas glauben, haben die Terroristen ihr Ziel erreicht.


Dann nämlich verlieren wir unsere Fähigkeit, Risiken vernünftig abzuschätzen. Menschen müssen nur spektakulär genug ums Leben kommen, um bei uns das Gefühl aufkommen zu lassen, hier handle es sich um eine Bedrohung, die viel realer ist als die tatsächlichen Gefahren. Erinnern Sie sich noch an das Zugunglück in Eschede? Die 101 Toten und 88 Verletzten, die an diesem Tag von dieser Katastrophe betroffen waren, verdeckten die Tatsache, dass in der gleichen Woche ungefähr die gleiche Zahl Menschen in Verkehrsunfälle auf deutschen Straßen verwickelt ware - ohne dass jemand forderte, Autos abzuschaffen oder nur noch im Schritttempo zu fahren. Zwar kenne ich Sie nicht, kann Ihnen aber mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, woran Sie sterben werden: Kreislauferkrankungen oder Krebs, und je länger Sie dem widerpsrechen, desto wahrscheinlicher werde ich Recht haben. Allein im Jahr 2007 waren es über eine halbe Millionen Menschen in Deutschland, die auf diese Weise starben. "Das ist ja auch was Anderes", werden Sie sagen. "Das hier sind natürliche Todesursachen. So schlimm es auch ist, sie sind nüchtern betrachtet unvermeidlich." Das sind Tote eines Terroranschlags auch - zumindest, wenn wir in einer freien Welt leben wollen.


Erklärungen, wie es zu einem Attentat kommen kann, gibt es rückblickend viele. Die banalste ist: Der Täter hatte Zugang zu Waffen. Nun haben wir aber in dieser Hinsicht schon eines der schärfsten Gesetze der Welt. So lange es einen breiten Konsens gibt, der bestimmten Berufs- oder Risikogruppen Waffenbesitz gestattet, wird es immer möglich sein, unbefugt an ein Gewehr zu kommen. Wir können nicht vor jede Schule, jeden Kindergarten, jedes Jugendzentrum Vereinzelungsschleusen mit Metalldetektoren stellen, und selbst wenn - dann stürmt der Amokläufer eben den Schulbus oder rennt durch eine Fußgängerzone.


Selbst die bei solchen Gelegenheiten immer wieder gescholtenen Schützenvereine eignen sich nur bedingt als vemeintliche Brutstätte des Terrors. Schützenvereine sind tendenziell unglaublich spießige Einrichtungen, und wer keinen Unterschied zwischen dem Schießen auf eine Pappscheibe und der Ermordung von Menschen sieht, sollte ernsthaft erwägen, die Bundeswehr zu verbieten.


Wenn man schon die Mittel nicht verhindern kann, dann vielleicht die Geisteshaltung, die zur Tat führte. Was hat der Täter denn vor dem Mord so alles getrieben? Aha, er hat Ballerspiele gespielt, er hat sich im Internet auf fragwürdigen Seiten herumgetrieben, er hat Horrorvideos geguckt. Wissen Sie, was geschätzte 102 Prozent aller Jugendlichen in ihrer Freizeit anstellen? Genau das hier Geschilderte, und ich behaupte, dass dies Erfahrungen sind, die man in einem bestimmten Alter sogar sammeln sollte. Wer den Popkultur-Bildungskanon der Jugendlichen verbieten will, wünscht sich insgeheim in eine Zeit zurück, in der Jungs in Matrosenanzügen Holzreifen über die Straßen rollen ließen und Mädchen in Rüschenkleidern ihre Puppenküche versorgten. Gucken Sie übrigens mal in die Geschichtsbücher, welchen Generationen wir die letzten beiden Weltkriege zu verdanken haben. Das waren nicht die mit dem Internetzugang.


Bleibt die Weltanschauung. War der Attentäter Moslem, dann droht uns der islamistische, war er Kommunist, droht uns der linke, war er Nazi, der rechte Terror. Man möge mich einen Kleingeist zeihen, aber für eine vernünftige Aussage über eine Messreihe brauche ich mehrere Werte, und ein einzelner Anschlag, sei er noch so ideologisch fundiert, begründet keine Aussage über einen Trend. Selbst mögliche Trittbrettfahrer reichen nicht aus, um eine Aussage über eine Serie treffen zu können. Die RAF-Morde - das war eine Reihe von Anschlägen, da kann man von linksradikalem Terror sprechen. Die brennenden Asylbewerberheime Anfang der 90er, die Skinheadübergriffe auf Ausländer - das waren thematisch gruppierbare Ereignisse. Breiviks Morde sind zwar aufsehenerregend und sorgfältig inszeniert, aber weit davon entfernt, dass man von der "Rückkehr des Terrors" oder gar dem "9/11 Norwegens" sprechen könnte. Es mag ja sein, dass viele Menschen die Geisteshaltung Breiviks teilen, aber so lange ein Unterschied zwischen Denken und Handeln besteht, muss man diesen Unterschied auch in der Antwort darauf berücksichtigen. "Nationalsozialismus ist keine Haltung, sie ist ein Verbrechen" plappert der Linke gern vor sich hin und glaubt, damit sei die Diskussion erledigt. Das ist sie leider nicht, denn unbeantwortet bleibt die Frage, wann denn ein zulässiger rechter Gedanke in ein rechtes Gedankenverbrechen übergeht und wie man sich eine Welt vorstellt, in der man alle Leute, die das Falsche denken, identifizieren und bestrafen kann.


Genau so platt, wie es vorher gegen den Islam, den Koran und gegen die Hassprediger ging, so geht es jetzt gegen den Rechtsextremismus und den Leuten, denen man bei dieser Gelegenheit immer schon eins auswischen wollte, namentlich Sarrazin und Broder. Breivik hat sich in seinem Manifest offenbar positiv über die beiden geäußert, und das passt nur zu gut ins linke Feindbild.


Man muss allerdings aufpassen, welchen Wert die Aussage hat, jemand habe jemand anderen zitiert. Ich halte von Broder sehr wenig. Für mich ist er ein selbstverliebter, relexionsunfähiger und rechthaberischer Schreiber unterer Qualität, der auf Verschwörungstheoretikerniveau jede Kritik an seiner Person als Bestätigung versteht - immerhin wurden alle großen Geister zu ihrer Zeit scharf angegriffen. Die Schülerzeitungspolemik, die er sich selbst gern herausnimmt, verbittet er sich selbstverständlich, wenn er selbst angegriffen wird, denn dann geht es auf einmal nicht mehr um seine Person, sondern um die große Sache, die er für seine persönliche Eitelkeit missbraucht.

Nun wird Broder also von einem Mörder zitiert. Was sagt uns das? Hätte er aus dem "Götterfunken" zitiert, wäre Beethoven dann ein Wegbereiter des Rechtsradikalismus? Erwächst dem Pennälergeschreibsel eines viertklassigen Spiegel-Autors irgendein Wert, weil es in den Aufzeichnungen eines Mörders auftaucht? Broder zum geistigen Vater der Morde von Oslo zu stilisieren, bedeutet, seinen Worten eine Macht zuzuerkennen, die sie einfach nicht besitzen. Der Spiegel hat schon längst seine Meinungsführerschaft im linksliberalen Spektrum eingebüßt. In den 80ern konnte man vielleicht noch am Montag sagen, was Deutschlands Linke die nächsten sieben Tage denken wird, aber inzwischen kann man sich mit sehr wenig Aufwand aus sehr vielen Quellen versorgen, so dass der Einfluss des einst so mächtigen Blatts erheblich geschrumpft ist. Entsprechend sieht es mit der Reichweite Broders aus. Als er in den 90ern noch aufgeregt für den Krieg gegen den Irak trommelte, konnte er die politische Debatte in Deutschland damit noch entscheidend prägen. Heute sucht man sich  politische Kommentare gezielt im Netz zusammen, und wer Brodes Hysterie nicht lesen mag, muss nicht wie einst im Spiegel über die entsprechenden Seiten hinwegblättern, sondern klickt sein Blog einfach nicht an.



Das Schlagwort der "geistigen Brandstiftung" zieht bei solchen Gelegenheiten ihre Runde durch die Blogs, aber ich halte diesen Begriff für unangemessen, weil er die Motive Broders und Sarrazins falsch einschätzt. Beide schreiben fremdenfeindliche Texte, aber sie wollen damit nicht zum Mord an Teilnehmern eines sozialdemokratischen Ferienlagers aufrufen, sondern zweierlei: Geld einnehmen und provozieren, die Frage ist nur, was ihnen wichtiger ist. Sie wissen, dass Deutschlands Linke in weiten Teilen funktioniert wie ein vor dem Supermarkt angeleinter Dackel: Harmlos, aber zuverlässig loskläffend, wenn man ihn ärgert. Deswegen haben Broder und Sarrazin einen Riesenspaß, vor dem Dackel herumzuhampeln und zuzusehen, wie der Kleine wütend lossprintet, um sich nach einem Meter fast mit seiner Leine zu strangulieren. Besonders amüsiert sie es, dass nicht nur ihre Befürworter ihre Bücher kaufen, sondern vor allem ihre poltischen Gegner, die sich an den Texten kräftig abarbeiten wollen. Glauben Sie mir, den beiden ist völlig egal, warum man ihren Büchern zu Rekordverkäufen verhilft, so lange die Einnahmen stimmen.


Ab und zu treiben sie es etwas zu bunt, und dann kann es passieren, dass der zur Weißglut aufgestachelte Dackel am Hosenbein zupft oder die Hand zwickt. Das wiederum ist ein willkommener Anlass, die zerrissene Hose und den blutenden Zeigefinger mit großer Märthyrergeste herumzuzeigen und sich von seinen Freunden bestätigen zu lassen, diese Dackel seien aber auch eine ganz besonders schlimme Plage, gegen die unbedingt etwas unternommen gehöre - wie man schon immer gefordert habe.


Eine Passage, die einem halbwegs vernünftig denkenden Menschen Rechtfertigung zum Mord an Kindern gibt, deren Eltern sich möglicherweise für Ausländerintegration einsetzen, wird man in Broders Schriften vergeblich suchen. Wer behauptet, von Broders selbstverliebten Tiraden im Spiegel ginge eine derart hypnotische Kraft aus, dass Breivik als praktisch willenlose Marionette nicht anders konnte, als dem Folge zu leisten, spricht den Mörder  von Schuld frei und begibt sich auf die diffuse Suche nach Hintermännern, um künftige Verbrechen weit im Vorfeld zu verhindern - also irgendwo im spekulativen Gestrüpp der dummes Gewäsch zwangläufig mit einschließenden freien Meinungsäußerung.


Das wiederum ist genau die Haltung, auf die Ordnungs- und Überwachungsfanatiker hinaus wollen: der Glaube, alles Böse ließe sich verhindern, wenn man nur früh genug eingriffe, die Idee, jede vom Konsens abweichende Meinung ginge irgendwann in Extremismus über, der zwangsläufig in Gewalt ende. Im Zweifelsfall sind diese Leute gar nicht einmal so unglücklich, dass die jüngsten Morde einen rechtsradikalen Hintergrund haben, weil die Linken bisher auf das Schreckgespenst des blutrünstigen Muselmanns nur begrenzt ansprangen. Jetzt aber kann man auch ihnen das Instrumentarium des modernen Überwachungsstaats als Heilsbringer verkaufen: Seht her, die Resetknöpfe fürs Internet, die Listen mit im Internet auffällig gewordenen Personen, die Vorratsdatenspeicherung, die Überwachungskameras, die Internetzensur - die sind zu nichts Anderem da, als euch vor dem braunen Mann zu retten, und haben wir erst einmal eine Gesellschaft geschaffen, in der nicht mehr partizipiert, sondern nur noch konsumiert wird, haben wir all diesen Gefahren, die durch die freie Rede entstehen, endgültig ein Ende bereitet.


Es gab in der ganzen Anti-Terror-Debatte der vergangenen Woche vor allem eine intelligente Äußerung, und die kam ausgerechnet vom Ministerpräsidenten des Landes, das gerade die Toten zweier Mordanschläge betrauert und bei dem hysterische Überreaktionen sogar noch am ehesten zu verstehen gewesen wären. Statt dessen erklärte Stoltenberg, die Antwort auf Gewalt bestünde nicht in Gegengewalt, sondern in noch mehr Demokratie und Offenheit.


Hut ab.

Samstag, 9. Juli 2011

Google - Plus oder Blase?

Vom Marketing her gesehen hat Google perfekte Arbeit geleistet. Vor elf Tagen erscheint auf Spiegel Online ein Artikel über den "Facebook-Rivalen". Ob die Kategorisierung stimmt, behandeln wir gleich, entscheidend ist: Die wahrscheinlich meistgelesene deutschsprachige Nachrichtenquelle im Internet lässt die beiden Stichworte "Google" und "Facebook" fallen - zwei Begriffe, die stets heftige Reaktionen und große Aufmerksamkeit bewirken. Für einen Großteil der Internetnutzer besteht "das Netz" ohnehin nur aus diesen beiden Anwendungen. Chat, E-Mail, Nachrichten und Homepage sind Facebook, und wenn man eine andere Seite im Netz ansteuern will, muss man ihren Namen in die Suchmaske von Google eingeben. Die Zeiten von Mail- und Chatclients sowie Bookmarks im Browser sind vorbei. Viele Menschen sind schon von zwei E-Mailadressen überfordert, wie kann man da von ihnen verlangen, sich mehr als zwei URLs zu merken?

Facebook ist fast ein Synonym für Internetkommunikation. Die Plattform hat weltweit beinahe 700 Millionen Mitglieder. Die Software war freilich nicht für solche Zahlen konzipiert, und so tauchten Sicherheitslücken auf, die man einer Hobbyanwendung auf einer Unihomepage noch nachsehen mag, aber wer ein Zehntel der Menschheit auf seinen Servern versammelt, hält deutlich brisantere Informationen in seinen Händen als die Frage, ob der Quarterback der Tigers mit einem Cheerleader ausgeht. Facebook hat es gleich mehrfach vermasselt, und selbst in Sachen Datenschutz eher entspannten Zeitgenossen ist aufgegangen, dass dahinter nicht nur ein paar laienhafte Codezeilen, sondern  Konzepte des Firmengründers stehen. Man mag sich weiterhin auf Facebook herumtreiben wollen, aber man muss sich im Klaren sein: Meine persönlichen Daten sind hier in denkbar schlechtesten Händen.

Nun sollte man nicht dem Irrtum verfallen, Google sei im Vergleich ein leuchtendes Vorbild. Wer es schafft, den sichtbaren Teil des Internets in einer Qualität zu katalogisieren, dass selbst Softwaregiganten wie Microsoft dem nichts entgegen zu setzen haben, weiß, wie man Daten verarbeitet. Ich behaupte, der einzige Grund, warum Google noch keinen Facebook-Skandal hatte, liegt einfach darin, dass Google bisslang einfach keine Daten dieser Art hat. Das soll sich ja bekanntlich jetzt ändern.

Auch Google hat in Datenschützerkreisen einen schlechten Leumund, wenngleich man hier - wie übrigens auch bei Facebook - aufpassen muss, wann man tatsächliche Lücken kritisiert und wann man einfach hysterisch herumzappelt. Ich versuche, halbwegs die Nerven zu behalten. Die unverlangt angelegten Suchprofile gefallen mir beispielsweise nicht, aber meine Hauswand finden Sie unverpixelt im Netz. Mein Eindruck mag mich täuschen, aber bei Google habe ich das Gefühl, dass dieses Unternehmen wenigstens klar sagt, wann es mit Daten auf bedenkliche Weise hantiert, während andere, die genau das Gleiche veranstalten, sich noch mehr hinter nebulösen AGB-Klauseln verstecken.

Der "Spiegel" schreibt also vom "Facebook-Konkurrenten", und die Netzgemeinde wird hellhörig. Google? Die mit der guten Suchmaschine, dem eleganten Maildienst und der kollaborativen Office-Suite, allerdings auch mit peinlichen Pleiten wie Buzz und Wave? Das ist etwa so, wie wenn im Fernsehzeitalter "Wetten Dass" gegen die "Superstars" am Samstagabend antraten. Egal, was man von den beiden Sendungen halten mag, allein, dass hier zwei Giganten aufeinander trafen, weckte Interesse. Selbst wenn man so wie ich Diensten wie Facebook mit komplettem Unverständnis begegnete, klickte man automatisch auf die neue Adresse von "Google Plus", einfach, um zu sehen, was da wohl sein mag.

Nichts.

Naja, nicht ganz nichts, nur die enttäuschende Ansage, der Dienst befände sich in einer sehr frühen Testphase, während der nur einige wenige ausgesuchte Testnutzer das Privileg besäßen, ein wenig herumspielen zu können. Ich gehörte offensichtlich nicht dazu. Weder meine Mailaktivitäten noch mein Blog haben genug Relevanz, um in der Liga deutscher Netzaktiver wie Michael Seemann, Martin Haase oder Kristian Köhntopp mithalten zu können. Statt dessen durfte ich als Zaungast staunend zusehen, wie sich die Welt auf Twitter und in diversen Artikeln über Stärken und Schwächen des Dienstes ausließ. Mein Kollegenkreis war natürlich auch längst schon da. "Ja, dann komm doch einfach mit zu Schiiplass, ich hab' dir doch schon 'ne Nachricht geschickt." - "Wie denn, du Spaßkeks? Ich versuche mindestens viermal am Tag, mich da einzuloggen, aber das Einzige, was ich sehe, ist die Nachricht, Gesindel wie mich ließe man erst dann rein, wenn selbst mein Dackel einen Zugang hat."

So gingen die Tage ins Land. Google hatte einige Aufmerksamkeit erregende Nachrichten platzieren können und die Tore zu ihrem Dienst genau so weit geöffnet, dass ständig irgendwer darüber redete, wie toll es denn da sei, man selbst aber nur das Testbild auswendig lernen und sich fragen durfte, ob die allgemeine Hysterie der Realität gerecht werde. Gestern in den späten Nachmittagsstunden war es dann soweit: Ein Kollege hinter mir quietschte ganz aufgeregt "Ich bin drin", mit zitternden Fingern klickte ich zum ungezählten Mal auf den Link und - da war es. Optisch etwas dürr, aber so ist Google eben. Als ich das nächste Mal vom Bildschirm aufblickte, dämmerte es draußen.

Nun muss ich zugeben, nicht jede Mode im Netz verstanden zu haben. Wozu man Mail und Chat braucht, war mir unmittelbar klar. Fürs Bloggen brauchte ich eine Weile, und auch jetzt muss ich ehrlicherweise sagen, dass der Menschheit nichts fehlt, wenn Leute wie ich keine überlangen Pamphlete zusammenklimpern können, aber ich habe meinen Spaß daran. Wenn es zufällig noch jemand liest, umso schöner. Da ich lange Zeit nur ISDN hatte, erschloss sich mir die Welt der Podcasts und Webvideos nur zögerlich, aber da so etwas im Prinzip eine Weiterentwicklung des Bloggens darstellt, konnte ich damit etwas anfangen. Wikis und Etherpads fand ich auf Anhieb großartig. Am längsten brauchte ich für Twitter. Warum, fragte ich mich, sollte irgendein Mensch mit mehr Verstand als eine Miesmuschel 140 Zeichen lange Nachrichten  absetzen und vor allem: Warum sollte irgendwer den Quatsch lesen wollen? Es kostete mich einige Zeit, um zu begreifen, dass man ja nicht gezwungen ist, Unsinn zu twittern, sondern dass man auch über relevante Dinge schreiben kann. 7000 Tweets und 200 sorgfältig gepflegte Follower später ist dieser Dienst für mich inzwischen eine wichtigere Nachrichtenquelle als Heise und Spiegel Online.

Was mir weiterhin fremd ist und auch meine Sicht auf Google Plus verzerrt, ist Facebook. Vielleicht liegt es an meiner ländlichen Herkunft, dass ich nie Wert darauf legte, besonders viele, sondern lieber wenige und dafür gute Freunde zu haben, und um mit denen in Kontakt zu bleiben, brauche ich keine Website, sondern ein Adressbuch, eine Telefonnummer, eine E-Mailadresse und allenfalls noch eine Chat- oder Twitter-Kennung. Ich weiß, vieles davon finde ich auch bei Facebook, aber wer so wie ich Absurditäten wie ein Post- und Fernmeldemonopol, noch verrückter: ein Zündholzmonopol erlebt hat, kennt die Gefahren, die eine solche Konzentration birgt. Auf der einen Seite bekommt man alles aus einer Hand, auf der anderen Seite bestimmt diese eine Hand auch die Regeln. Natürlich kann ich bei Facebook mit meinen Freunden auf viele Weisen Nachrichten austauschen, aber eben nur so, wie Facebook es zulässt. Wenn der Dienstleister auf einmal auf die Idee kommt, bestimmte Inhalte zu zensieren, bestimmte Personengruppen auszuschließen oder bestimmte Nachrichten zu einem Personendossier zusammenzufassen und diese an meine Krankenkasse, meinen Arbeitgeber oder an Nachrichtendienste weiter zu leiten, gibt es nichts, was ich dagegen unternehmen kann. Eine AGB-Änderung reicht. Je mehr  unterschiedliche Nachrichtenkanäle ich nutze, desto differenzierter kann ich auf solche Situationen eingehen.

Auf der anderen Seite will ich gar nicht, dass mich jeder jederzeit finden kann. Mein Abijahrgang und ich haben uns seinerzeit gegenseitig gehasst, und wenn jetzt nach Jahrzehnten bilateralen Ignorierens ein ehemaliger Jahrgangskollege eine meiner sorgfältig gehüteten Mailadressen herausfindet und mich zu  einem Abi-Nachtreffen einlädt, frage ich mich ernsthaft, was er damit bezweckt. Sollen wir gegenseitig unsere erschlafften Gliedmaßen und ergrauten - so überhaupt noch vorhandenen - Haare bewundern? Sollen sich hundert ehemalige Individualisten, die seinerzeit auszogen, die Welt zu ändern, gegenseitig trösten, den Verlockungen des Spießertums nachgegeben zu haben? Ist es das, wobei mir Facebook helfen soll? Vergesst es.

Besonders gruselt es mir bei der Vorstellung, was die Typen aus meinem Bekanntenkreis, die bei Facebook herumlungern, mit meinen Daten anfangen, schlimmer noch: bereits angefangen haben. Als besondere Dienstleistung bietet Facebook an, dass man sein Adressbuch einfach hochlädt, und das geschieht mit einem Mausklick, ohne dass mich jemand fragt, ob ich das will. Ist mein Gesicht zufällig auf einem Partyfoto zu sehen, steht diese Information auf einmal auch bei Facebook - wieder einmal ohne mein Zutun, geschweige denn meiner Zustimmung. Künftig geht das Ganze automatisiert durch Gesichtserkennung, und dann kann jeder mit ein bisschen Programmierkenntnissen über mich ein Personenprofil zusammenstellen, gegen die meine Stasiakte ein nichtssagendes Schmierblatt ist. Es mag ja sein, dass viele Menschen damit keine Schwierigkeiten haben, aber unter anständigen Leuten fragt man sich gegenseitig, bevor man solche Sachen veranstaltet - was bei Facebook eindeutig nicht geschieht.

Jetzt gibt es also Google Plus, und als naiver Beobachter frage ich mich, wo der große Unterschied sein soll. Ähnlich wie bei Facebook habe ich eine Nachrichtenliste von Leuten, die ich beobachten möchte, kann dort kommentieren, "Like" heißt bei Google "+1", aber ansonsten treffe ich Bekanntes: Adressbücher kann ich wie bei Facebook importieren, und Gesichter auf Fotos kann ich markieren. Zusätzlich kann ich noch Videotelefonkonferenzen schalten, wobei ich wette, dass Facebook schnell nachziehen wird. Der einzige konzeptionelle Unterschied sind die verschiedenen Kreise, in die ich meine Bekannten einsortieren kann und die damit verbundene Möglichkeiten, bestimmte Nachrichten nicht mehr an die ganze Welt, sondern nur noch gezielt an bestimmte Kreise zu schicken. Nett sind auch die "Sparks", eine Art nach eigenen Kriterien gefilterter Nachrichtenstrom aus dem Netz. Ich habe meine Zweifel, dass diese beiden Kleinigkeiten zu einer Massenhaften Migration von Facebook zu Google Plus führen werden.

Das ist aber möglicherweise auch gar nicht die Intention. Sascha Lobo schätzt in einem sehr lesenswerten Artikel die Philosophie hinter dem neuen Dienst ein. In seinen Augen liegt der Schwerpunkt bei Facebook mehr auf dem Sozialen, bei Google mehr auf dem Medialen. Facebook frage: "Wer bist du?", Google hingegen: "Wofür interssierst du dich?" Er spricht von der unterschiedlichen DNS der beiden Dienste. Es kann sein, dass er damit - wie so oft - richtig liegt, aber um das biologische Bild weiter zu benutzen: Den Genotyp kann ich von außen nicht erkennen, nur den Phänotyp, und genau der sieht im Moment noch Facebook derart ähnlich, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie die Standardnutzer einen großen Unterschied sehen und darauf reagieren sollen.

Es bleibt für mich die Frage, ob Google das Zeug hat, Facebook gefährlich zu werden. Die Zahl von Nutzern, die vom laxen Datenschutz bei Facebook so sehr die Nase voll haben, dass sie selbst Google als einen sicheren Hafen ansehen, dürfte vernachlässigbar sein. Hat das Netz Platz für zwei Facebooks, numerisch gesehen ist dies ja offensichtlich möglich? Hier lautet meine These: Nein, prinzipbedingt kann es nur ein Facebook geben. Warum? Weil die Attraktivität derartiger sozialer Netze gerade darin besteht, dass man sich gegenseitig findet. Wenn ich interessante Leute suche, dann finde ich 700 Millionen davon bei Facebook. Parallel sind einige von ihnen auch bei Google vertreten, aber warum sollte ich ihnen dorthin folgen, wenn ich sie und viele andere schon bei Facebook habe? Der gesamte Wert eines sozialen Netzes hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, dort einen bestimmten Menschen zu finden, und die ist nun einmal bei Facebook signifikant höher als bei Google. So lange Google und Facebook nicht untereinander Daten austauschen - was aufgrund des Geschäftsmodells völlig absurd wäre - bin ich gezwungen, mich im gleichen Netz zu befinden, wo sich derjenige aufhält, dessen Nachrichten ich lesen möchte. Das ist wohl auch der Grund, warum AIM, MSN, Yahoo, GMX, Google, Yammer, ICQ und wie die ganzen Chat-Insellösungen auch immer heißen mögen, massiv an Bedeutung verloren haben: Die Leute wollen einfach nicht mit einem halben Dutzend Chatkonten  jonglieren, um mit den Leuten in den verschiedenen zueinander inkompatiblen Netzen in Kontakt bleiben zu können. Einmal Facebook - alles drin. Ich behaupte deshalb, dass Facebook durch Google etwa so gefährdet ist wie Windows durch Linux.

Ist wenigstens Twitter in Gefahr? Hier sehen die Zahlenverhältnisse schon ganz anders aus: In Deutschland bewegt sich die Zahl registrierter Nutzer irgendwo um 2 Millionen, von denen aber vielleicht ein Drittel den Dienst wirklich nutzt. Deutsche Facebook-Nutzer gibt es hingegen knapp 19 Millionen. Wenn ich mir jetzt überlege, dass ich mit meinen Tweets gerade einmal 200 Menschen erreiche, während jeder Mittelstufenschüler mit einer Facebooknachricht ein Vielfaches an Lesern informiert, werde ich, was die Einschätzung der eigenen Relevanz angeht, sehr bescheiden.

Lästerlich gesagt wird es kaum jemand merken, wenn Twitter auf einmal weg wäre. Das ist natürlich nicht wahr, aber das spartanische Konzept von Twitter vermag die wenigsten zu begeistern. Sascha Lobo stellt zu Recht fest, dass sich Twitter über Jahre nicht fortentwickelt hat, und betrachtet man die Sache selbstkritisch, ist Twitter ein Spielzeug für ein paar zottelige Nerds, aber kein Massenmedium. Bis jetzt ist ja nicht einmal klar, wie man mit diesem Dienst Geld verdienen will - zumindest nicht, ohne die ganzen datenschutzaffinen Computerzombies zu vergraulen. Vielen fällt es auch schwer, den Reiz der scheinbar antiquierten Nachrichtenbegrenzung auf 140 Zeichen zu verstehen. In der Tat ist es eine Kunst, so griffig und prägnant zu schreiben, dass man in den wenigen Bytes nicht nur sein Anliegen sondern vielleicht auch noch einen Link auf einen Artikel unterbringt. Wer schon einmal in einer Zeitungsredaktion gearbeitet hat, kennt die Mühe, die es bereitet, eine stundenlange Bundestagsdebatte ein einer Schlagzeile mit vielleicht fünf Worten unterzubringen. Ich kenne viele Redakteure, die an dieser Aufgabe scheitern.

Genau hier liegt der Reiz von Twitter. Egal, wieviel Blödsinn der Autor verzapft, nach 140 Zeichen ist Schluss. Wenn er es bis dahin nicht geschafft hat, mich zu interessieren, liest auch kein Mensch den Artikel, auf den er in der Regel velinkt. Man mag von der Bild-Zeitung halten, was man will, mit ihrem Slogan "Wer etwas zu sagen hat, braucht nicht viele Worte" traf sie einen wichtigen Punkt. Was war die wichtigste Aussage der Netzaktivisten im Jahr 2009? "Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen." - abgesetzt von 343max auf Twitter.

Google - und natürlich auch Facebook - können Twitter verdrängen, einfach weil zu wenigen Nutzern klar ist, warum im Zeitalter der Terabyteplatten eine Nachricht nicht einmal SMS-Größe haben darf. Die Leute wollen schwafeln, und den Zwang, sich beherrschen zu müssen, empfinden sie als Beleidigung ihres künstlerischen Schaffens. Wer etwas auf sich hält, hat ein Smartphone mit GSM-Flat, da kann man schreiben, bis der Akku leer ist. Für karge Dienste wie Twitter ist in einer solchen Welt kein Platz.

Google ist - vorsichtig gesagt - sehr groß. Wenn dieses Unternehmen sich anschickt, einen neuen Dienst anzubieten, muss man dies allein deswegen schon ernst nehmen, weil Google die Marktmacht und das Geld hat, diesen Dienst zu fördern. Auf der anderen Seite hat Google auch schon einige Male daneben gelegen, siehe beispielsweise Wave und Buzz - übrigens ein Twitter-Konkurrent. Die Welt nimmt Google nach wie vor überwiegend als Suchmaschine wahr, mögen die Fakten auch anders aussehen. Eine Konkurrenz für Facebook sehe ich hier nicht, dazu kommt Plus zu spät und bringt zu wenig Neues. Ich bin gespannt, ob und wenn ja welche Nische Plus finden wird. Einen bemerkenswerten Start hat er schon hingelegt, jetzt muss er zeigen, ob er sich, wenn sich die Aufregung legt, nicht zur Blase entwickelt.