Noch vier Tage bis zur Wahl - Zeit sich zu überlegen, wo die Kreuzchen denn nun landen sollen. Zum Glück haben die Parteien ganz ähnliche Sorgen, weswegen sie ihre Kandidaten bis kurz vor Schluss in die Arenen schicken. In diesem Fall war es eine Podiumsdiskussion in Bonn, die sich der verschiedenen Haltungen zum Thema Bürgerrechte annahm. Geladen hatten der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die Humanistische Union und der Verein Mehr Demokratie e.V., gekommen waren Ulrich Kelber (SPD), Katja Dörner (Grüne), Stephan Eisel (CDU), Paul Schäfer (Linke) und Philipp Große (FDP). Philipp - wer? Der FDP-Abgeordnete für Bonn heißt doch Westerwelle, oder? Man muss fair bleiben. Westerwelle ist die Nummer 1 der FDP und hat einen etwas anderen Reiseplan als seine Mitbewerber. Da reicht es bei einer vergleichsweise kleinen Versammlung wie dieser, wenn der Bezirkssprecher der Jungen Liberalen einspringt. Der bringt zwar nicht ganz so viel auf die Waage, aber so lange er gut vorbereitet ist und die Fragen beantwortet, kann man doch froh sein, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien jemanden geschickt haben.
Alle im Bundestag vertretenen Parteien? Da waren doch noch die Piraten, warum hat die keiner eingeladen? Das Thema passt doch ganz fantastisch zu denen. Das stimmt, aber sieht man sich an, was die Piraten unter "im Bundestag vertreten" verstehen, so handelt es sich dabei um einen einzelnen Abgeordneten am Ende seiner parlamentarischen Laufbahn, der kurz vor Ablauf der Legislaturperiode (und seines Mandats) im Streit die SPD-Fraktion verlassen und einen Aufnahmeantrag in die Piratenpartei gestellt hat. Ich will niemandem auf die Füße treten, aber das ist eine andere Liga als die anderen Parteien, die seit Jahren mit direkt oder über die Liste entsandten Abgeordneten im Bundestag vertreten sind. Selbst wenn man formaljuristisch akzeptiert, dass die Piraten mit einem Abgeordneten auf irgendeine Weise im Bundestag sitzen, haben die anderen fünf Parteien wenigstens noch Direktkandidaten, die sie für Bonn ins Rennen schicken. Hätte man die Piraten eingeladen, wäre der Ausgewogenheit halber auch eine Einladung an die anderen Parteien angemessen gewesen, und wie man gleich sehen wird, hatten die Veranstalter allein schon aus zeitlichen Gründen keine Lust, sich das Podium mit Vertretern der MLPD, den Violetten und erst recht nicht mit der NPD vollzustopfen. Sehen Sie sich den Stimmzettel für Bonn an, treiben Sie ein wenig Kopfrechnen und sagen Sie mir dann, ob Sie es ertragen hätten, wenn auch nur die Hälfte der in Frage kommenden 20 Parteien auf dem Podium vertreten gewesen wären.
Die Spielregeln waren einfach: Jeder Mitveranstalter stellt sich vor und den Kandidaten eine Frage. Jeder bekommt zur Antwort zweieinhalb Minuten, nach denen der Moderator auch nicht mehr viel mit sich handeln ließ. Dazwischen gab es fürs Publikum Fragerunden, wobei auch hier die Antwortzeit auf zweieinhalb Minuten begrenzt war. Erfreulicherweise hielten sich die Kandidaten an diese Spielregel, wenngleich bei einzelnen der Eindruck aufkam, sie fühlten sich durch diese Einschränkung in ihrer Ehre verletzt.
Es kam viel an diesem Abend zur Sprache, aber als Computerjunkie waren mir die Punkte Datenschutz und Internetzensur am wichtigsten, weswegen ich nur wiedergebe, was dazu gesagt wurde.
Philipp Große von der FDP forderte ein neues Datenschutzgesetz, dem der Leitgedanke der strikten Datensparsamkeit zugrunde liegt. Er betonte dabei aber auch die Verantwortung des Einzelnen und regte an, das Datenschutzbewusstsein der Leute deutlich zu schärfen. Große sprach sich gegen Netzsperren aus, weil man dadurch eine Pandorabüchse geöffnet hat. Er fordert, die Betroffenen von Überwachungsmaßnahmen konsequenter als bisher zu informieren.
Stephan Eisel von der CDU wünscht sich mehr Transparenz beim Datenschutz. Einen großen Teil seiner Argumentation verwandte er auf das Zensurgesetz, das er unterstützt. Er wehrte sich gegen die Verunglimpfung der Gegner des Zensurgesetzes, forderte aber auch für die Befürworter eine fairere Behandlung. Als einziger Podiumsgast sprach er sich deutlich für eine Ausweitung der bereits im Gesetz beschlossenen Zensurmaßnahmen auf alle rechtswidrigen Inhalte aus und nannte als Beispiel rechtsradikale Seiten.
Paul Schäfer von den Linken ist gegen das Zensurgesetz. Er will keine verdachtsunabhängigen Datensammlungen und ist deswegen auch gegen Vorratsdatenspeicherung.
Ulrich Kelber von der SPD möchte sich in der kommenden Legislaturperiode für ein Arbeitnehmer-Datenschutzgesetz engagieren. Er möchte den Auskunftsanspruch der Betroffenen verbessern, wenn diese erfahren wollen, was über sie gespeichert ist. Bei Datenerhebungen wünscht er sich ein striktes Opt-In-Prinzip. Weiterhin regt er ein "Whistleblower-Gesetz" an, das es Informanten ermöglichen soll, auf verdeckte Misstände in ihren Unternehmen hinzuweisen, ohne dafür die Kündigung riskieren zu müssen. Schließlich erläuterte er seinen Standpunkt zum Zensurgesetz, gegen das er zwar schwere Bedenken hat, aber aus Fraktionsdisziplin zusammen mit den Abgeordneten der Großen Koalition verabschiedete. In diesem Zusammenhang merkte er an, er hielte den Satz "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" für ausgemachten Blödsinn.
Katja Dörner von den Grünen sprach sich ebenfalls für ein neues Datenschutzgesetz aus. Sie will Privatunternehmen mehr in die Pflicht nehmen und die Haftungsbedingungen für die illegale Datenweitergabe verschärfen. Ähnlich wie Kelber möchte sie die Auskunftsansprüche der Betroffenen stärken. Ihr Akzent besteht in besserer personeller Ausstattung der Datenschutzbeauftragten. Sie ist gegen die Internetzensur und hält das beschlossene Gesetz für reine Symbolpolitik. Die vielen Enthaltungen grüner Abgeordneter bei der Verabschiedung des Gesetzes interpretierte sie als Zeichen, dass man zwar einerseits gegen das Gesetz sei, andererseits gegen Kindesmissbrauch vorgehen wolle.
Inhaltlich gab es insgesamt nicht viel Neues. Vor allem zum Zensurgesetz scheint inzwischen alles gesagt zu sein. Befürworter wie Gegner spulten ihren Katalog ab, wobei ich auf beiden Seiten gern gesehen hätte, wenn offenkundig falsche oder zumindest in dieser Pauschalität nicht korrekte Aussagen in den letzten Monaten einer Revision unterzogen worden wären. Beide Seiten haben sich inzwischen mit der Materie zu intensiv beschäftigt, als dass sie die Nebelgranaten des jeweiligen Gegners nicht zu Genüge kennen. Im Publikum dürfte auch kaum jemand gesessen haben, der sich mit dem Thema so wenig auskannte, dass er die kleinen Flunkereien nicht bemerkt hätte.
Ein wenig störend war am Abend die immer wieder aufflackernde Privatfehde zwischen Eisel und Kelber. Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, aber wer sich Eisels Internetseite ansieht, findet dort zum Zeitpunkt, da ich diesen Artikel schreibe, allein zwei Artikel, in denen Kelber direkt angegangen wird. Auch Eisels Gekrittele an der Aussage des Moderators, laut einer Statistik sei die Direktwahl Kelbers "wahrscheinlich", wirkt auf mich unnötig provinziell. Ich wähle Leute, weil ich sie gut finde, nicht weil die anderen schlecht sind, und jeder sollte wissen, dass die einzige wirklich zuverlässige Aussage, wer das Direktmandat für Bonn in den kommenden vier Jahren innehaben wird, am Sonntag ab 18 Uhr getroffen werden kann.
Womit wir bei meiner höchst subjektiven Einschätzung wären, wer bei der Diskussionsveranstaltung am besten punkten konnte. Paul Schäfer war ordentlich, stach aber nirgendwo besonders heraus. Philipp Große stellte seinen Standpunkt und den seiner Partei gut dar, aber was der spätere Mandatsinhaber Westerwelle im Einzelnen meint, kann Große natürlich nicht wissen. Stephan Eisel gebührt der Respekt, sich der Veranstaltung überhaupt gestellt zu haben, wohl wissend, dass die Stimmung dort nicht gerade für ihn war.
Kommen wir zu den beiden, die aus meiner Sicht die Veranstaltung für sich entschieden: Ulrich Kelber ist Informatiker, und das merkt man einfach, wenn er von Datenschutz spricht. Man mag nicht jede seiner Haltungen teilen, insbesondere beim Zensurgesetz halte ich seine Entscheidung weiterhin für falsch, aber der Mann ist ein Profi und beim Thema Bürgerrechte in seinem Element.
Siegerin nach Punkten ist aus meiner Sicht Katja Dörner, die noch ein wenig bessere Akzente setzte, klar gegen das Zensurgesetz ist und als Neueinsteigerin einfach weniger verbraucht wirkt. Sowohl sie als auch Kelber nahmen sich nach Ende der Veranstaltung noch eine halbe Stunde Zeit und standen mit kleineren Diskussionsrunden zusammen. Dies nur als kleiner Tipp für die anderen Podiumsgäste: So hinterlässt man wenigstens den Eindruck, als interessiere man sich für die Meinung potenzieller Wähler.
Am Ende bleibt eine Frage, die ich am Abend nicht loswurde, die mich aber seit einiger Zeit beschäftigt: Es mag ja sein, dass abgesehen von Herrn Eisel alle Podiumsgäste gegen Internetzensur waren, aber zumindest im Fall Kelbers handelt es sich dabei innerhalb der Partei um eine Minderheitenmeinung, und bei den anderen Parteien muss man nur ein wenig im Internet suchen, um herauszufinden, dass Internetzensur dort auch begrüßt, mitunter sogar deren Ausweitung gefordert wird. Die FDP hat in den vergangenen Jahrzehnten einfach zu oft mit großer Geste Forderungen aufgestellt, nur um sie unmittelbar später wieder fallen zu lassen, als dass ich ihr plötzlich wieder erwachtes Interesse an Menschen- und Bürgerrechten sonderlich ernst nehmen könnte. Bei den Linken und Grünen frage ich mich, wie lange sie der Versuchung widerstehen, die Nazis aus dem Netz auszublenden. Zu deutlich erinnere ich mich noch an den Schwenk der Grünen im Jugoslawienkrieg, und da ging es nicht um ein paar Internetseiten, sondern um einen handfesten Krieg.
Egal, ob es nun um das BKA-Gesetz, die Vorratsdatenspeicherung, die Onlinedurchsuchung, den Hackerparagraphen oder schließlich die Internetzensur ging - immer wieder beobachtete ich den gleichen Frontverlauf: Eine techniklastige Gruppe, für die elektronische Kommunikation nicht einfach ein wichtiges Werkzeug ist, sondern einen charakteristischen Teil ihrer Person ausmacht, stemmt sich vehement gegen eine andere Gruppe, für die Telefone einfach nur zum Sprechen da sind und die beim Internet als Erstes an Bombenbauanleitungen, Terroristen, Nazis, Ufologen, Flamewars und Pornos denken. Katja Dörner sprach bei der Veranstaltung von einer Generationenfrage. Auffällig ist, dass diese beiden Seiten nicht zueinander finden, und ich habe den Eindruck, dass Online- und Offline-Welt seit Jahren so weit auseinander driften, dass ein wichtiger Punkt der demokratischen Willensbildung nicht mehr funktioniert. Die Offline-Welt sieht in der Online-Welt nichts, was für sie irgendeinen Wert bedeutet, die Online-Welt wiederum hält die Offline-Welt für ein altmodisches Relikt. Vertreter beider Welten stolpern unglaublich tapsig in der jeweils anderen Hemisphäre herum. Wichtig ist aber: In beiden Welten leben Menschen. Menschen, die wohl oder übel zwischen beiden Welten hin und her pendeln müssen und in beiden Welten Bedürfnisse und Rechte haben. Diese Welten müssen einander zu verstehen versuchen, und dazu gehört deutlich mehr als wie Herr Eisel stolz auf seine niedrige Compuserve-Nummer zu sein.
Wie stellen Sie sich vor, diese Kluft zu überbrücken?