Über Jahre hat sie sich jede erdenkliche Mühe gegeben, dort anzukommen, wo sie jetzt ist: die SPD in der politischen Bedeutungslosigkeit. Wer auch immer sich den Prinzipien der Sozialdemokratie verbunden fühlte - die SPD gab ihm zu verstehen, dass diese Partei nicht der richtige Ort für ihn ist. Zurück blieben zwei Sorten von Menschen: Traditionalisten mit 50 Jahren Parteizugehörigkeit, die der Partei die Nibelungentreue halten und Karrieristen, die in der desolaten Personalsituation der SPD davon träumen, allein deswegen schon der nächste Kanzlerkandidat zu sein, weil sich niemand sonst dafür findet.
Bei all dem führt sich die SPD so auf, als sei sie immer noch eine politische Größe, ohne die in der Republik nichts liefe. Ihre Vertreter treten mit einer Attitüde auf, die irgendwo zwischen dem Pomp des frisch an die Macht geputschten Präsidenten einer Bananenrepublik und der Wichtigkeit des zweiten Kassenwarts im Verein der Dackelfreunde Hürth-Kalscheuren liegt: über die Grenze der Peinlichkeit hinaus selbstverliebt, aber ohne jede reale Bedeutung. Dass man in einer parlamentarischen Demokratie Mehrheiten braucht, dass man so viel wie möglich Leute um sich sammeln muss, um etwas bewegen zu können, scheinen sie nicht so recht begriffen zu haben.
Man darf nicht ungerecht sein: Vereinzelt scheinen SPD-Mitglieder doch so etwas wie Verständnis für elementare Mathematik zu besitzen und einzusehen, dass mit Stimmanteilen zwischen 10 und 30 Prozent auf Landes- und Bundesebene Regierungschefs nur in Ausnahmefällen von der eigenen Partei gestellt werden. Es müssen also Wähler her, und da man offenbar davon ausgeht, dass nur völlige Idioten die SPD wählen, hat man den Stimmenfang auf diese Gruppe hin optimiert. So erklärt SPD-Bundestagsfraktionschef Olaf Scholz nun, Internetzensur sei falsch, Inhalte müssten gelöscht statt gesperrt werden. Er geißelt die Gesetzesinitiative der damaligen Bundesfamilienministerin als "populistisch" und warnt vor den Gefahren für das Grundrecht auf Informationsfreiheit, wenn eine mit vemeintlich besten Absichten installierte Zensurinfrastruktur erst einmal funktioniert und für andere Zwecke missbraucht wird. Jedes dieser Worte trifft auf meine ungeteilte Zustimmung, zumal sie genau das beschreiben, was die Zensurgegner seit über einem halben Jahr den Parteien zu erklären versuchen. Die Sperren seien unwirksam, stellt Scholz überrascht fest. Dem möchte ich entgegnen: "Es kommt aber auch darauf an, die Hemmschwelle, die an dieser Stelle in den letzten Jahren deutlich gesunken ist, wieder signifikant zu erhöhen. Dem dient neben der Sperrung einzelner Seiten die Umleitung auf eine Stoppseite mit entsprechenden Informationen." Und von wegen Populismus. Wahr ist doch hingegen: "Mit der neuen gesetzlichen Regelung bekämpfen wir nicht nur die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Internet, sondern schützen zugleich Internetnutzer, sichern rechtsstaatliche Grundsätze und ermöglichen ein transparentes Verfahren." Beides Zitate Olaf Scholz, Juni 2009.
Nun ist es keine Schande, seine Meinung zu ändern. Im Gegenteil, das Erkennen eigener Fehler zeugt von Reflexionsvermögen. Beim sich gegenwärtig abzeichnenden Meinungsumschwung in der SPD drängen sich mir jedoch einige Fragen auf: Warum stellt sich die neue Erkenntnis ausgerechnet genau zu dem Zeitpunkt ein, an dem die neue Bundesregierung äußerst holprig ihre Tätigkeit aufgenommen hat und dennoch niemand die SPD vermisst? Was wäre passiert, hätte sich die SPD mit Ach und Krach in der Regierung halten können? Ich halte zwar von der FDP und vor allem ihrer Außeministersimulation nichts, aber wenigstens wurden bei den Koalitionsverhandlungen verschiedene Punkte der inneren Sicherheit und digitalen Bürgerrechte zur Sprache gebracht. Das Ergebnis mag lächerlich sein, aber ich bin mir sicher, hätte statt der FDP die SPD am Verhandlungstisch gesessen, wäre es allenfalls darum gegangen, wie man die Republik noch schneller einen Polizeistaat wandeln kann. Um das Vertrauen, das man seit der Regierung Schröder verschleudert hat, wieder zu gewinnen, braucht es viel mehr als ein paar Presseerklärungen. Die SPD sollte die Bedeutungsflaute, in der sie gerade herumdümpelt, als Chance begreifen, sich in aller Ruhe thematisch und personell wieder aufzubauen. Das mag ein paar Jahre dauern, aber ein solcher Umbau hat es auch in sich.
Stimmenverhältnisse ändern sich derzeit rasant, und das mag eine der größten Gefahren für den Neubeginn der SPD werden. Waren vor zwanzig Jahren Stimmbewegungen um vier Prozent noch Grund für Sondersendungen zum rapiden Umbau der Parteienlandschaft, gehören inzwischen solche Änderungen zum gewohnten Bild eines Wahlabends. Hatte eine Partei in den Achtzigern zwischen sieben und zehn Prozent verloren, wusste man, dass in den nächsten drei Legislaturperioden nicht mit ihr zu rechnen war. Sieht man sich an, wie vernichtend die CDU unter Kohl geschlagen wurde, als Schröder Kanzler wurde, und wie schnell es ihr gelang, auf Bundesebene wieder zu Bedeutung zu gelangen und die Regierung vor sich her zu treiben, weiß man, dass kein vermeintlicher Erdrutschsieg für mehr als vier Jahre Sicherheit bietet. Die gleiche Sympathiewelle, die eine Partei ins Amt spülte, kann kurz darauf in die andere Richtung schwappen. Es kann also gut sein, dass nach ein paar Skandälchen, schlechten Arbeitsmarktzahlen und chaotischer Wirtschaftslage sich die SPD unversehens wieder in der einen oder anderen Regierung wiederfindet, ohne auf diese Rolle vernünftig vorbereitet zu sein. Gleichzeitig mag sie dies als Zeichen begreifen, ihren internen Umbau erfolgreich abgeschlossen zu haben und wieder in den alten Trott verfallen. Vergleichen Sie es mit der deutschen Fußballnationalelf, die regelmäßig nach einen wirklich schönen Spiel meint, es sei nun wieder an der Zeit für den guten alten Rumpelfußball.
Der gleiche Populismus, der die SPD im Juni bewog, sich für Internetzensur einzusetzen, treibt die Partei jetzt in der Opposition, ihre eigenen Beschlüsse zu kritisieren - und dabei mit dem schauspielerischen Talent eines Seifenoperndarstellers noch den Eindruck erwecken zu wollen, das Zensurgesetz sei allein mit den Stimmen der Union verabschiedet worden. Kein Wort des Bedauerns, nicht ein einziger Satz der Art: "Ja, wir haben damals die Büchse der Pandora zu öffnen geholfen, aber die Wähler haben uns deutlich gezeigt, was sie davon halten. Wir sehen ein, dass wir einen Fehler begangen haben und versuchen jetzt nach Kräften, diesen Fehler zu korrigieren."
Es ist eine Binsenweisheit, dass Einsicht der erste Schritt zur Besserung ist, aber diese simple Erkenntnis scheint der SPD fremd zu sein. Wenn eine Partei einen Bruch in ihrer Haltung wie im Fall der Internetzensur entweder nicht erkennt oder erkennen will, braucht sie offenbar ein paar Legislaturperioden Opposition zum Nachdenken.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen