Samstag, 23. April 2011

Lord of the Dance

I danced in the morning when the world was begun,
And I danced in the moon and the stars and the sun,
And I came down from heaven and I danced on the earth,
At Bethlehem I had my birth.

Angesichts dieser Zeilen sollte man meinen, dass man im Christentum zum Lachen nicht unbedingt in den Keller geht. Die Betonung liegt auf "sollte". Sieht man sich die Realität an, fragt man sich unwillkürlich, ob wir im Westen mit verfassungsgemäß garantierter Trennung von Staat und Kirche leben, oder ob die von uns gern verteufelte Scharia ihr christliches Pendant gefunden hat. Wie weit es mit der Offenheit und Toleranz ist, derer sich der Rheinländer so gerne rühmt, zeigt sich dann, wenn es beispielsweise darum geht, den Bonner Karnevalsprinzen im traditionellen Mundartgottesdienst reden zu lassen. Dummerweise ist der Mann Moslem, und der hat in einer christlichen Kirche gefälligst den Mund zu halten. Wohlgemerkt: Er wollte keine Eucharistie feiern oder den Segen spenden, er wollte nur das übliche Karnevalistengewäsch ablassen.

Natürlich endet die christliche Bevormundungswut nicht vor der eigenen Kirchentür. So ruft der Bonner Stadtdechant zum Protest auf, weil in einer Buchhandlung Verkaufstische stehen, deren Werbebanner vom "Hasenfest" künden. Im Vergleich dazu mutet es schon fast harmlos an, dass die Kirchen in diesem Jahr besonders hohen Wert auf das in einigen Bundesländern an den Osterfeiertagen geltende Tanzverbot legen. Wohlgemerkt geht es nicht darum, dass gläubige Christen es für unangemessen halten, selbst zu tanzen, sondern darum, dass die weit überwiegende Mehrheit, die sich mit der Bedeutung des Osterfestes allenfalls auf Schokohasenebene befasst, auch nicht tanzen darf.

Derlei religöse Verbohrtheit reizt natürlich zum Widerspruch, und so finden sich zum Thema Tanzverbot  reichlich Blogartikel mit eindeutig atheistischem oder zumindest kirchenfeindlichem Hintergrund. Das war zu erwarten. Warum man auch als Christ am liebsten den eigenen Kopf - besser noch: den des Stadtdechanten - auf den Tisch hauen möchte, versuche in den folgenden Absätzen zu beschreiben.

Mehr als ein Vierteljahrhundert bin ich nun in der Kirche aktiv, und ich habe sie in weiten Teilen als weltoffen, tolerant und dialogorientiert erlebt. Es bereitet mir große Sorge, dass die Menschen in Scharen  der Kirche den Rücken kehren. Ich behaupte, es entgeht ihnen etwas, aber ich kann verstehen, dass man die Kirche nicht mehr versteht.

Das Osterfest ist für mich das tiefgründigste Fest des Christentums, weit aussagekräftiger als das Weihnachtsfest, das wir zwar viel pompöser begehen, bei dem es aber im Wesentlichen um die Geburt eines Jungen geht, der erst 12 Jahre später auffällig wird und seine wirkliche Bedeutung im Alter von 30 Jahren zeigt. Die Ereignisse von Gründonnerstag bis Ostersonntag erzählen sehr kompakt die wichtigsten Merkmale des Christentums. Falls Sie mit Glaubensdingen nichts am Hut haben, vergessen Sie bitte für einen Moment die wissenschaftliche Strenge und konzentrieren sich einfach auf die Geschichte.

Am Gründonnerstag heißt es Abschied nehmen. Tief bewegt zelebriert der Führer einer kleinen jüdischen Charismatikerbewegung ein Traditionsmahl. Er weiß, dass seine Handlungen der letzten Zeit nicht ohne Folgen bleiben werden und rechnet sehr bald mit seiner Verhaftung. Seine Anhänger reagieren entsetzt. Was soll der Auftritt?

In der Nacht gehen dem ansonsten so souverän auftretenden Glaubensführer fast die Nerven durch. Hin- und hergerissen zwischen der verlockenden Flucht und dem Märthyrertod streift er ruhelos umher, entschließt sich aber am Ende, zu bleiben.

Der Karfreitag beginnt mit der Verhaftung. Alle Anhänger lassen ihren Anführer im Stich. Nach einem äußerst zweifelhaften Prozess folgt eine der qualvollsten Hinrichtungen, die man seinerzeit kannte. In einem Moment äußerster Verzweiflung hadert der bislang in seinem Glauben Stabile und schreit seine Hilflosigkeit hinaus. Schließlich aber findet er wieder sein Gottvertrauen und stirbt. Sein Leichnahm wird hastig in eine Grabkammer gebracht.

Hier könnte man die Geschichte abbrechen, und tatsächlich kommt mit der am Sonntag stattfindenden Auferstehung der Teil, mit dem die Meisten ihre logischen Schwierigkeiten haben. Tatsache ist: Irgendetwas muss geschehen sein, das diese Bewegung am Leben erhielt, etwas, das die zunächst vollkommen verängstigen Jünger bewog, mit der Mission fortzufahren.

Das war jetzt sehr komprimiert, und ich habe aus Platzgründen viel von dem ausgelassen, was mir an der Osterzeit erwähnenswert erscheint. Worauf ich hinaus will: Die Ostergeschichte ist facettenreich und faszinierend. Ihre menschlichen Aspekte bieten so viel Interessantes, dass man nicht einmal an ihre Historizität glauben muss, um sich damit zu befassen.

Von der Kirche hätte ich erwartet, dass sie dies weiß und mit entsprechender Souveränität vertritt. Statt dessen kümmert sie sich um Tanzveranstaltungen, Kaufhausschilder und Ausrichter von Massenbesäufnissen. Mit Verlaub, das zeugt nicht von Größe.

Oft wird damit argumentiert, jemand fühle sich in seinen religiösen Gefühlen verletzt. Wie schon gesagt: Ich arbeite seit Jahrzehnten für den Laden, und egal, was man gerade veranstaltet: Irgendwer findet immer etwas zum Meckern. Wer nur laut genug jammert, bekommt bei Kirchens jede Veränderung aufgehalten, und genau das ist es, was viele Menschen in ihrer Kirche vermissen: das 21. Jahrhundert. Das hat mit der vom Stadtdechanten beklagten "Säkularisierung" nichts zu tun, aber viel damit, dass die Kirche zunehmend ihr eigenes Süppchen kocht und für Menschen außerhalb der Kerngemeinde kaum noch attraktiv ist.

Dass man an einem Tag, an dem Christen dem Foltertod ihres Religionsstifters gedenken, nicht unbedingt ein Straßenfest mit DJ Ötzi veranstalten sollte, leuchtet rücksichtsvollen Menschen vielleicht noch ein. Dass aber ein generelles Verbot für alle Tanzveranstaltungen gilt, also auch an Orten, wo die nach Ruhe suchenden Christen niemals vorbei kommen werden, ist für mich weder nachvollziehbar, noch glaube ich, dass dies einen verhinderten Discogänger beeindruckt. Glauben die Kirchenvertreter denn tatsächlich, dass ein paar gelangweilte Teenies daheim herumhängen und sich sagen: "Alter, jetzt wo es hier schon so öde ist, lass uns lieber in die Kirche gehen, da geht richtig was ab"? So verzweifelt werden sie niemals sein, dass ihnen ein Gottesdienst als eine spannende Alternative vorkommt.

Für die meisten Menschen ist Ostern einfach ein willkommes langes Wochenende. Der theologische Hintergrund dürfte nur den wenigsten bekannt sein, und wenn nicht jedes Jahr die immer gleichen Artikel mit den Grundlagen in der Zeitung stünden, wüsste auch kaum jemand, ob oder was Hasen und Eier mit Passah, Kreuzigung und Auferstehung zu tun haben. Die Aufgabe der Kirchenoberen besteht meiner Meinung nach genau darin, diese Inhalte zu vermitteln. Tanzverbote vermitteln dabei allenfalls den Eindruck einer in Rückzugsgefechten befindlichen Religion, der schon lange die Argumente ausgegangen sind und die sich in ihrer Ratlosigkeit auf alt hergebrachte Privilegien besinnt.

Wer mag, nehme sich die Zeit, die "Religiöse Nachricht" von Hanns Dieter Hüsch zu lesen. Vielleicht sind Kirchenaustritte nicht das Schlimmste, was dem Christentum passieren kann.

Das Lied oben geht übrigens noch weiter:

I danced on a Friday and the sky turned black;
It’s hard to dance with the devil on your back;
They buried my body and they thought I’d gone,
But I am the dance and I still go on.

Und schließlich:

They cut me down and I leapt up high,
I am the life that’ll never, never die;
I’ll live in you if you’ll live in me;
I am the Lord of the Dance, said he.

In diesem Sinne: ein schönes Osterfest.

Fußnote: Aufmerksame Leser werden mitbekommen haben, dass ich nicht zwischen den verschiedenen Konfessionen unterscheide, sondern von "der Kirche" schreibe. Das ist beabsichtigt.

Samstag, 9. April 2011

Nach einer Weifheitffahnoberafjon fieht jeber auf wien Gugelfif


Das ist natürlich Unsinn, denn die Wunder der modernen Medizin ermöglichen es, Pest, Cholera, Keuchhusten, eigentlich alle Plagen der Welt mit einem Fingerschnipp aus der Welt zu schaffen. Weisheitszähne zum Beispiel werden einfach aus dem Kiefer gebeamt.

Diese Zeile erreichte mich soeben durch ein Zeitportal aus dem 23. Jahrhundert. Bei uns im 21. hingegen greifen wir bei der Chirurgie weiterhin auf die Gesetze der klas­si­schen Physik zurück, die da lauten: Gib mir einen Punkt, und ich werde den Zahn aushebeln, und wenn der Zahn nicht zu sehen ist, dann schlitze ich mit einem Mes­ser und fräse mit meinem Bohrer, und dann nehme ich noch einen Bohrer und spal­te das Ding, und dann endlich nehme ich den Hebel, um dann mit Schmackes...

Von einer Zivilisation, welche es erstaunlich locker zuwege brachte, mal so eben ein Dutzend Menschen auf einen 384401 Kilo­me­ter entfernten leblosen Ge­steins­brocken zu schießen und sie, was noch viel erstaunlicher ist, auch wieder lebendig zurück zu holen, von einer Zivilisation, die mehrere Millionen Tran­sis­toren auf der Flä­che eines Fingernagels verstaut und das Ganze für ein paar Dollar als Mas­sen­pro­dukt auf den Markt wirft, hätte ich eigentlich erwartet, dass sie einen Weg er­son­nen hat, eine 2 * 0.5 * 1 cm große Kalk­ab­la­ge­rung mit eleganteren Mitteln als de­nen des Straßen­baus aus dem menschlichen Schädel zu entfernen. Ich prügle mei­nen USB-Stick schließ­lich auch nicht mit einem Holzknüppel aus der Halterung.

Aber nein, die Entfernung der Weisheitszähne scheint das letzte verbliebene Aben­teu­er unserer übersättigten Spaßgesellschaft zu sein. Hier hat sich im We­sent­li­chen nicht viel ge­ändert, seit sich unsere Ahnen vor 2.5 Mil­li­o­nen Jahren den ersten Faust­keil zurecht häm­merten. Gut, die Methoden der Anästhesie ha­ben sich ver­fei­nert, aber insgesamt ist die Zunft sich treu geblieben.

Was bringt eigentlich die Bibelfun­da­men­ta­lis­ten auf die Idee, der Mensch entspränge ei­nem "intelligent design"? Sollte G'tt tatsächlich so ein Pfuscher sein, dass er sich bei der Zahl der Zähne verhaspelt und mehr von ihnen in den menschlichen Kiefer packt, als dort nach den Gesetzen der dreidimensionalen Geo­me­trie Platz haben? Für einen derartigen Schnit­zer flöge jeder Student der Ingenieurs­wissen­schaf­ten aus den Grundpraktika, und sowas soll das Werk eines allwissenden und all­mäch­tigen Überwesens sein? Jungs, guckt noch mal in der Bibel nach, das steht da ganz be­stimmt nicht so drin.

Das Abenteuer beginnt schon bei der Vor­un­ter­suchung, wenn mein persönlicher Halbgott in weiß nach einem kurzen Blick auf ein Rönt­gen­bild meines Schädels sich in meinem Mund einen Eindruck der Lage verschaffen will. „Ja, das sieht wirklich gräss­lich aus“, murmelt er. „Der muss raus und der auch noch, der hier so­wieso... Mo­ment, was ist denn das?“ Er zö­gert, schaut auf das Röntgenfoto, dann wieder in die Mundhöhle, wieder auf das Foto und dreht es schließlich um. „Hing spie­gel­ver­kehrt“, sagt er achselzuckend und sieht sich die an­dere Seite der Zahnreihen an. „Ja, das sieht wirklich grässlich aus. Der muss raus und der auch noch, der hier so­wie­so...“

Wahrscheinlich rüstete uns Mutter Natur deswegen mit so vielen Zähnen aus, damit noch ein paar übrig bleiben, wenn der Zahn­arzt links und rechts verwechselt. Doch wer oh­ne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Im­mer­hin leben wir in einem Land, in dem 104% der Autofahrer auf der A1 die linke mit der rechten Fahrspur verwechseln. Da kann man schon mal ein Foto falsch herum auf­hän­gen.

Mit wieder gewonnenem Vertrauen in die Kunstfertigkeit der Chirurgenzunft sitze ich also am Tag der Operation wieder im Be­hand­lungs­zimmer. Das Zentrum meiner Hof­fnun­gen und Wünsche betritt den Raum, betrachtet das Rönt­genbild, greift zur Be­täu­bungsspritze und nimmt mit sicherer Hand meiner linken Ge­sichts­hälfte jedes Ge­fühl. Zufrieden schnappt er sich das Behandlungsbesteck, um die künf­ti­ge Stätte seines Wirkens zu betrachten. Zö­gert. Blickt auf das Röntgenfoto. Dann wieder auf mich. „Oh, Da hing wohl das Bild spie­gel­ver­kehrt. Macht nichts, hab ja noch genug Sprit­zen.“ Spricht's und entkoppelt auch die rech­te Gesichtshälfte sensorisch von meinem Körper.

Was wäre eigentlich passiert, hätte Kolumbus bei der Ausfahrt aus dem Hafen links und rechts verwechselt? Stünde die Freiheitsstatue dann heute im Wattenmeer vor Husum?

Bei der eigentlichen Zahnentfernung hätte Alfred Hitchcock das Buch geschrieben ha­ben kön­nen. Wir erinnern uns: Der Altmeister ver­zich­tete in der Regel auf die ex­pli­zite Dar­stellung des Schreckens, sondern ließ durch ge­schickte Andeutungen den eigentlichen Krimi im Kopf der Zuschauer abspielen. Ähn­li­ches passiert, wenn man auf dem Rücken lie­gend zwei maskierte Menschen mit obskuren Ge­genständen in der Hand über sich gebeugt sieht, im Schädel es kreischen, knirschen und knacken gelegentliche Sätze wie "Hm, der bricht nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe" "Ich seh nichts vor lauter Blut" oder "Sind Sie sicher, dass alles draußen ist?" hört. Selbst­zwei­fel werden laut. Mein junges, zartes Le­ben, noch kaum gelebt und ich Narr gab es die­sem Barbaren in seine latexüberzogenen Hän­de. Letzte Zweifel am Irrsin des Unter­neh­mens werden beseitigt, wenn mitten während der Behandlung die Helferin mit einem Blick auf die Akte die Frage an den Patienten rich­tet: "Sagen Sie, haben wir Ihren Namen ei­gent­lich richtig aufgenommen? Mir kommt die Schreib­weise so komisch vor." Was glaubst du von jeder westlich-abendländischen Bildung ver­schonte PISA-Amnesie eigentlich, wie die mensch­liche Lauterzeugung funktioniert? Mit dei­ner bis zum Gelenk in meinem Mund versenkten Hand? Soll ich vielleicht noch zur allgemeinen Erheiterung ein paar Zeilen Goethe rezitieren? Wenn ich nicht gerade mit meiner eigenen Nahtoderfahrung beschäftigt wäre, spränge ich auf, stopfte dir dein ab­ge­wetz­tes Klemmbrett in den Rachen und hieße dich, Wagners "Walküren" zu singen - mal se­hen, wie du dich anstellst. So hingegen mo­bi­li­sie­re ich meine sämtlichen Kenntnisse der Jedi-Kunst und ver­suche, meine Gedanken in dein retardiertes Hirn zu senden: "Nein, du dum­mes Ge­schöpf, ich wurde alphabetisiert, als deine Eltern noch nicht einmal alt genug waren, um sexuelles Interesse aneinander ent­wickeln zu können, und nach einem ab­geschlossenen Universitätsstudium schaffe ich es - mit Mühe zwar, aber immerhin - meinen Na­men auf Anhieb richtig zu schreiben. Das mag bei der momentanen Qua­lität unserer Grundschulen überraschen, aber zu meiner Zeit wurde auf sowas er­folgreich Wert gelegt."

Während ich mich noch in Betrachtungen er­gehe, woher Kafka wohl die Ideen seiner Ge­schich­ten bezogen hat und zum Ergebnis kom­me, Zahnarztbesuche müssten definitiv dazu gehört haben, merke ich, wie die ganze zuvor in meinem Mund ver­stau­te Altmetallsammlung blutbeschmiert aus meinem Mund heraus gekramt und mein Mund mit einem schlür­fen­den Geräusch ein letztes Mal ausgesaugt wird. Eine Hälf­te meines Gesichts rebelliert, die an­dere scheint sich auf immer aus meiner Wahr­neh­mung verabschiedet zu haben. Meine ver­blie­benen grobmotorischen Fä­hig­kei­ten schaf­fen es, mich aus dem Behandlungszimmer auf die Straße und irgendwie nach hause zu brin­gen. Mein Blickfeld ist verengt, ich mahne mich: "Geh nicht auf das helle Licht zu." Lang­sam kehrt auch wieder Gefühl in meinen Schä­del zurück, es sagt: "Bedenke, dass du sterb­lich bist. Wie sterblich genau, das werden dir dei­ne an­schwel­lende Wange und ein scha­ben­der Schmerz in den kommenden Tagen ver­mit­teln."

Inzwischen sieht meine rechte Gesichtshälfte nicht mehr ganz so aus wie Helmut Kohl beim Saumagenkauen, ich kann ohne Beschwerden reden und sogar schon ansatzweise feste Nahrung zu mir nehmen. Dieser Kieferchirurg ist ein Magier, ein Prophet, ein Gott! Gepriesen sei sein Handwerk! Nur noch ihn will ich an meinen kostbaren Körper lassen, den er so kunstvoll behandelt. Kaum erwarten kann ich den Moment, mich wieder vertrauensvoll in seine Hände zu begeben, auf dass er mir die Fäden ziehe, die er in meinen Mund genäht.

Wehe, wenn da irgendwas schief geht.

Freitag, 8. April 2011

Auch Betrüger werden geschickter

Ab und zu habe ich äußerst ungern Recht.

Da wäre beispielsweise meine WG-Mitbewohnerin Sabine. Sie guckt immer etwas mitleidig, wenn ich mich am Küchentisch über Datenschutz in Rage rede. In ihren Augen sehen wir Alumützenträger die Sache viel zu verbissen. "Bleib locker", sagt sie gerne. "Glaubst Du wirklich, dass es in der realen Welt irgendwen gibt, den es stört, wenn seine Hauswand fotografiert wird? Irgendwen, der eure völlig verdreckte, unbenutzbare Verschlüsselungssoftware benutzt? Irgendwen, den es ernsthaft stört, dass seine Freunde auf Facebook sehen, was er gerade treibt? Was ihr Datenschutz-Heinis da veranstaltet, heißt am Ende, dass wir die ganze Zeit mit einer digitalen Burka rumrennen, nur damit ihr eure Angst vor dem Großen Bruder ausleben könnt." Ich halte dann immer meine generellen Bedenken dagegen, im Internet überhaupt irgendetwas von Relevanz über sich zu erzählen, weil es eigentlich immer einen Gauner gibt, der damit Unsinn anstellt. Sabine findet das albern. "Du hast Dich eindeutig zu viel mit Sicherheitsfragen beschäftigt", sagt sie. "Natürlich gibt es auch im Internet zwielichtige Typen, aber wenn man einigermaßen die Augen offen hält, kann nicht viel passieren."

Dann kam gestern.

"Mir ist da was Komisches passiert", erzählt Sabine. "Vor zwei Wochen bekomme ich eine SMS, jemand hätte mir eine MMS hinterlegt. Nun kann mein Telefon keine MMS verarbeiten, also habe ich den Link in der SMS in meinem Browser aufgerufen, die ID eingegeben, aber da war nichts. Jetzt bekomme ich auf einmal eine Mail, ich soll denen 80 € bezahlen." Wahrscheinlich - oder hoffentlich - stöhnen Sie gerade kollektiv auf. Nicht wieder diese Masche, nicht wieder dieser uralte Trick. Wo bleibt eigentlich unsere Verbraucherschutzministerin, wenn sie sich gerade einmal nicht bei Facebook abmeldet? Die Internetzensur haben sie im Jahr 2009 im Rekordtempo durchgeprügelt - ein Gesetz mit schweren handwerklichen Mängeln, aber immerhin: Wenn es um das große Posen geht, entwickelt selbst unsere ansonsten eher zum Aussitzen neigende Regierung fast so etwas wie Dynamik. Was war, als in Japan die Reaktoren zu glühen begannen? Da hat die gleiche Regierung, die noch kurz vorher der Atomlobby ein dreißig Jahre währendes Geschenk überreichte, auf einmal den Rentierpulliträger in sich entdeckt und ein rechtlich zwar völlig unsinniges Moratorium verkündet, aber zumindest gezeigt, dass es keinen Wind gibt, in den Schwarz-Gelb nicht sein Fähnchen respektive seine Windkraftanlagen hängt. Dass aber seit Jahrzehnten viertklassige Winkeladvokaten mit einer vor allem aus Chuzpe bestehenden Mischung juristisch haltloser Drohgebärden Geld aus all denen herauspressen, die nicht so wie ich Woche für Woche ihren Therapeuten mit neuen Wahnvorstelleungen über die Gefahren des Internet nerven, lässt in meinen Augen nur einen Schluss zu: zu wenig Presse, zu wenig Wählerstimmen, also egal.

Natürlich habe ich mir die Seite angesehen. Es war der klassiche Aufbau: Zwar steht der Kostenhinweis auf der Startseite, aber in einem Kästchen versteckt, das man selbst im Vollbildmodus nur dann sieht, wenn man scrollt und dann auch noch in einer Schriftgröße und einem Farbkontrast, der vor allem eins nahe legt: Hier will jemand mehr verschleiern als offenlegen. Fast überflüssig zu erwähnen, dass weder der Link auf die AGB, noch auf das Impressum funktionieren. Gut, ein weiterer AGB-Link funktioniert dann, wenn man Javascript aktiviert, aber insgesamt ist es der klassische Seitenaufbau, den man vornimmt, um Leute über seine wahren Absichten im Dunkeln zu lassen.

Der Grund, warum ich überhaupt auf diese Masche weiter eingehe, ist auch nicht die bisher hinlänglich bekannte Methode. Die Firma hat sich einen, wie ich finde, sehr raffinierten Trick einfallen lassen. Sucht man nämlich bei Google nach dem Seitennamen und Stichworten wie "Betrug" oder "Abzocke", bekommt man vor allem Verweise auf sich selbst so titulierende Foren zur "Abzocke", in denen es vor allem um eines geht: Die vermeintliche Betrügerfirma hat Recht!

Oh, sollte hier ausnahmsweise einmal ein seriöser Anbieter zu Unrecht bezichtigt werden? Ist diesmal die Sache wirklich klar? Anscheinend schon, denn in den Foren schwärmen die Nutzer vom tollen und kulanten Service des Unternehmens, andere verweisen auf Gerichtsentscheidungen und Videos, in denen Staatsanwälte angeblich die Rechtmäßigkeit des Angebots bestätigen. Man sollte bei all dem allerdings eines unterlassen: Sich den Wortlaut genauer ansehen.

Bei dem scheinbaren Gerichtsentscheid handelt es sich nämlich nicht um ein Urteil, sondern um ein nicht näher spezifiziertes "Gerichtsverfahren", das vor allem nicht in einem Urteilsspruch, sondern angeblich damit endete, dass der Nutzer die Forderung anerkannte, nachdem er vom Gericht darauf hingewiesen wurde, dass eine Zahlungspflicht besteht, wenn im Angebot ausreichend deutlich auf die Kosten hingewiesen wird. Achtung: Es steht nirgendwo, dass dies beim Angebot dieser Firma der Fall ist. Ähnlich steht es um das Staatsanwalts-Video, bei dem vor allem auffällt, dass die gestellte Frage nicht vorkommt und die Antwort mehrere Schnitte enthält. Auch hier drängt sich der Eindruck auf, der Beitrag, so er denn überhaupt in irgendeiner Form authentisch ist, sei auf die Stellen reduziert worden, die eine bestimmte Aussage stützen sollen. Nüchtern betrachtet stellt der Staatsanwalt auch nur dar, wie er im Fall offenkundig unberechtigter oder nicht ausreichend begründeter Anklagen verfährt: Er ermittelt nicht weiter. Sprich: Er äußert sich zum formalen Vorgehen einer Behörde in einem angehenden Strafrechtsverfahren. Ob dies in irgendeiner Form mit dieser speziellen Firma in Verbindung steht, geht aus dem Beitrag nicht hervor. Zur Möglichkeit eines zivilrechtlichen Verfahrens äußert er sich auch nicht und vor allem: Gerichtsurteile sprechen in Deutschland Richter, keine Staatsanwälte.

Zu guter Letzt lohnt es sich, die Forenbeiträge zu lesen, die der scheinbar schuldlosen Firma Recht geben. Die ähneln sich nämlich auffällig. Ebenfalls verblüfft, wie einig sich die Autoren sind. Wer so wie ich häufiger in Foren zu diesem Themen geblättert hat, weiß, wie emotional da geschrieben und vor allem auch das Offensichtliche immer wieder in Frage gestellt wird. Beiträge wie die hier angesprochenen blieben in einem normalen Diskussionsforum nicht ohne Widerrede. Spannend ist auch, dass die sich im Sinne der Firma äußernden Foren keinen gesteigerten Wert darauf legen, darauf hinzuweisen, wer sie überhaupt betreibt. Ich weiß nicht, wie Sie es sehen, aber mir drängen sich dezente Zweifel auf, was die Unabhängigkeit dieser Angebote angeht.

Die Tricks der Seitenanbieter werden also geschickter. Das Google-Spamming beherrschen sie inzwischen also auch. Insgesamt kann ich nur das wiederholen, was ich in meinen Sicherheitsseminaren immer wieder sage: Misstrauen Sie im Internet jedem. Geben Sie Daten über sich selbst nur dann heraus, wenn es gar nicht anders geht, und schauen Sie in diesem Fall lieber dreimal nach, ob Sie nicht irgendwelche versteckten Kosten übersehen haben. Wenn Sie doch einmal in die Falle getappt sind: Nerven behalten. Wenn Sie mir nicht glauben - wozu Sie allen Grund haben - gehen Sie zur Verbraucherzentrale. Ein Besuch bei einem auf diesem Gebiet spezialisierten Anwalt kann auch nicht schaden. Und wie immer: Üben Sie politischen Druck aus. Regierungen neigen derzeit zu Nervosität, und wenn sie mitbekommen, wo sie ausnahmsweise auch einmal sinnvoll agieren können, besteht die Chance für eine Neuregelung im Sinne der Verbraucher

Samstag, 2. April 2011

Wie man im Produktionsumfeld Projekte vergeigt

"Also bitte, was soll denn so schwer daran sein, eine Produktionsplattform am Leben zu halten? Schwerkraft gibt's gratis, Strom, Hardware, Gebäude und Netzanschluss stellt der Rechenzentrumsbetreiber, Du musst doch allenfalls dafür sorgen, vor Langeweile nicht einzuschlafen."

In einer idealen Welt wäre dies tatsächlich wahr. Ein gut aufgesetztes System müsste so stabil sein, dass man es sich selbst überlässt und allenfalls in einer Hochlastsituation eingreift. Die Realität ist freilich anders. Ständig bastelt jemand an der Produktion herum, sei es, weil sie wider Erwarten doch nicht stabil läuft, oder weil die nächste Aktualisierung ansteht.

Die Katastrophe in Japan zeigt in großem Maßstab, was passiert, wenn das Unvorhergesehene eintritt. Wir sehen, warum im Vorfeld gepfuscht wird, dass man sich vor allem gegen die Fälle absichert, von denen man möchte, dass sie eintreten und die vernachlässigt, von denen man fürchtet, dass sie eintreten. Wir erleben, wie schlechte Informationspolitik aussieht und wie bemitleidenswert hilflos Improvisation sein kann. Sollte dieser Planet noch mit einem blauen Auge davon kommen, haben die Überlebenden ein Musterbeispiel für Missmanagement gesehen, das sich in kleinerem Maßstab täglich überall abspielt. Man wird Bücher darüber schreiben, was schief ging, warum es schief ging, einige werden diese Bücher sogar lesen, noch viel weniger werden sie verstehen, und dann wird man sie vergessen. Ich nehme mir die Freiheit, einige der Aussagen vorweg zu nehmen und sie auf das kleine Fitzelchen Welt zu übertragen, aus dem ich komme: Dem Betrieb produktiver Serverplattformen für Großunternehmen. Nach einem guten Vierteljahrhundert mehr oder weniger professioneller Arbeit in der IT maße ich mir an, einen Großteil der möglichen Fehler selbst begangen oder zumindest erlebt zu haben.

Der folgende Text ist weder sachlich, noch ist er freundlich. Schauen Sie in die Adresszeile Ihres Browsers, wenn Sie sich fragen, warum. Sollte Sie die eine oder andere Passage beleidigen, lesen Sie den Abschnitt ruhig noch einmal und überlegen Sie dabei, was daran eigentlich so beleidigend ist. Was Sie dann erleben, nennt man Wahrheit.

Wenn Sie einen Kunden verlieren wollen, erfüllen Sie seine Wünsche.

Als Dienstleister befindet man sich in einer unlösbaren Situation. Der Kunde weiß in der Regel nicht, was er will und kommt mit irgendwelchen Anforderungen, die er sich von seinen Beratern hat einflüstern lassen. Im Moment möchte er beispielsweise ganz bestimmt "in die Cloud", was auch immer das sein mag. Ich kenne IT-Dienstleister, die einfach ihre drei VMWare-Instanzen "Cloud" genannt haben, wohl wissend, dass dieses Gebilde etwa so sehr eine Cloud ist wie Guido Westerwelle ein echter Außenminister - nur, um im Angebot das Zauberwort auftauchen zu lassen. Sie haben nun die Wahl: Entweder setzen sie den ausdrücklichen Kundenwunsch um - was auf keinen Fall funktionieren wird - und bekommen dann vorgeworfen, warum sie die offensichtlich unsinnigen Anforderungen nicht korrigiert haben, oder Sie setzen es so um, wie es richtig ist und müssen sich bei jedem kleinsten Fehlverhalten unter die Nase reiben lassen, Sie hätten gegen die Vorgaben verstoßen. Kurz: Sie können nur verlieren. Der Vorteil der zweiten Möglichkeit liegt allerdings darin, dass man mit etwas Glück und Können ein System hingestellt bekommt, das im Gegensatz zum garantiert unsinnigen Kundenwunsch wenigstens so gut läuft, dass der Kunde kaum Gelegenheit zum Lästern hat.

Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten.

Vor ihren Projektmitarbeitern lassen die Leiter kaum eine Gelegenheit aus, das Alphatier zu geben, den Macher zu mimen, der Mann zu sein, der hoch geheime Informationen von der Geschäftsführung erhält, von denen er nur so viel verraten darf, dass nur Supertypen wie er in den Genuss dieses Wissens kommen dürfen. Gegenüber den Kunden verwandelt sich Mister dicke Hose schlagartig in ein handzahmes Schoßhündchen, das seinen Daseinsgrund vor allem darin versteht, gute Nachrichten zu verbreiten, um bloß nicht den allmächtigen Kunden zu vergrätzen. Es kommt zwar nicht oft vor, aber ab und zu sitzt auf Kundenseite ein Profi, und der weiß nur zu genau, was er von dem ihm präsentierten Disneyidyll zu halten hat. Er will keine gute Laune haben, er will informiert sein, und wenn der Projektleiter penetrant nur das erzählt, was er sich traut, weiß der Kunde, dass gelogen wird. Natürlich freut sich niemand über schlechte Nachrichten, aber darum geht es auch nicht. Der Kunde muss planen können, und jede Nachricht, die ihm hilft, Risiken abzuschätzen und eventuell Puffer einzuschätzen, ist wertvoll.

Zeitdruck ist ein schlechter Handbuchautor.

Das Stichwort "Dokumentation" wird Ihnen in diesem Artikel mehrfach begegnen. Ich bin insofern ein untypischer Vertreter meiner Spezies, als ich eine gute Dokumentation sehr zu schätzen weiß. Das großspurige Technikergewäsch, guter Code dokumentiere sich selbst, und überhaupt gäbe es Vorgänge, die so komplex seien, dass man sie unmöglich aufschreiben kann, halte ich für das selbstgefällige Gelalle inkompetenter Laien, die allein deswegen schon gefeuert gehören, weil sie offenkundig außerstande sind, sich allgemein verständlich zu artikulieren. "Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration." schrieb Edison, und das gilt gerade in der IT, deren Akteure sich gern als entrückte Genies sehen. Unaufgeschriebenes Wissen ist praktisch überhaupt kein Wissen. Was nützt mir ein mit Kenntnissen vollgestopfter Mitarbeiter, wenn ich jedes Mal, wenn der Kerl bei Rot über die Ampel läuft, Schweißausbrüche bekomme, weil das Geschäftsmodell meiner Firma gerade knapp der Stoßstange eines LKWs entrinnt?


"Aber wenn ich mein ganzes Wissen aufschreibe, werde ich ersetzbar." Wenn Sie so wenig leisten, dass Ihre Position von der Existenz einer Textdatei abhängt, kann dies sein. Wer wirklich etwas kann, behält seinen Posten - nicht obwohl, sondern weil er ihn beschrieben hat.


Das Schreiben guter Dokumentation kann so sein wie das Schreiben guten Codes - zutiefst befriedigend. Auf ein gutes Handbuch kann und darf man genau so stolz sein wie auf ein gutes Programm, und genau wie ein wirklich gutes Programm hackt man ein gutes Handbuch nicht mal schnell in einer halben Stunde als lästige Fleißarbeit in den Rechner, sondern nimmt sich Zeit, entwickelt eine Idee, ein Konzept, das man beim Schreiben vor Augen behält. Was ganz bestimmt nicht funktioniert, ist das Schreiben von Kiloware, unlesbarem Unsinn also, den man zusammenschmiert, weil der Projektleiter mit autistischer Penetranz auf das besteht, was er mit Dokumentation verwechselt: Arial Blocksatz, Firmenlogo rechts oben mit Projektbeschreibung und Abgrenzung sowie vollständiger Auflistung der Seriennummern aller jemals im Gerät verbauten Festplatten. 


Wer garantieren möchte, dass im Handbuch keine einzige verwertbare Information steht, verhindert, dass es dann geschrieben wird, wenn der Autor gerade herausgefunden hat, wie eine Sache funktioniert und am ehesten geneigt ist, dieses Wissen hinzuschreiben. Statt dessen prügelt man sein Team dazu, die Plattform irgendwie hinzuhuddeln. "Aufschreiben könnt ihr ja später, wenn alles fertig ist" - und sich niemand mehr so richtig erinnern kann, was man anstellen musste, bis es lief.

Schreien ersetzt kein Talent.

Viele Projektleiter verwechseln Mutwillen mit Führungsstärke. Es gibt Situationen, in denen man einfach eine Entscheidung braucht und es gar nicht so wichtig ist, ob es die optimale ist. Das heißt aber nicht, dass grundsätzlich jede Entscheidung ohne langes Überlegen aus dem Bauch heraus getroffen werden soll, und vor allem sollte man nicht glauben, dass Emotionalität Inkompetenz kompensiert.

Ein guter Vorgesetzter ist die Firewall des Teams. Nach innen sorgt er dafür, dass der Laden funktioniert, nach außen vertritt er die Gruppe und - das ist ein entscheidender Punkt -  steckt die Schläge für sie ein. Führung heißt Verantwortung übernehmen - in allen Situationen. Ich kann  mich nicht für die Erfolge meiner Leute feiern lassen, wenn ich nicht gleichzeitig bereit bin, für deren Fehler geradezustehen.

Der Grat zwischen Führungsstärke und Kasernenton, zwischen Freundlichkeit und Quengelei ist schmal. Sowohl der Drill Instructor als auch der Quengler begehen den gleichen Fehler, indem sie Argumente durch emotionalen Druck ersetzen. Wenn etwas technisch, finanziell, personell oder zeitlich nicht möglich ist, habe ich als Leitungskraft zwei Optionen: Entweder ich sorge durch Umverlagerung oder Bereitstellung neuer Mittel dafür, dass es doch möglich wird, oder ich lasse es bleiben. Durch Herumgebrülle oder nerviges Betteln schaffe ich vielleicht auch das eine oder andere Mal, meine Leute breitzuschlagen und das Unmögliche doch zu ermöglichen, aber derartige Aktionen gehen ausnahmslos auf Kosten meiner Mitarbeiter. Ich verspiele meinen persönlichen Kredit, und ich lauge mein Team aus. Gute Chefs wissen das und sorgen im Gegenzug ihrerseits dafür, dass für ihre Leute kleine Schurkereien möglich sind, welche die Firmenbürokratie eigentlich verbietet. Schlechte Chefs verwechseln Ausnahmen mit Strategie und ziehen ihre Erpressernummer konsequent weiter durch, bis sie auch den letzten Mitarbeiter verbrannt haben.

Was ist schlimmer als ein Manager? Zwei Manager.

Der Glaube, dass Manager etwas unglaublich Tolles und Wertvolles sind, hat in der Wirtschaft religionsartige Züge angenommen. Ich bestreite nicht, dass Management wichtig ist und ein Projekt voran bringt. Die Konsequenz, dass zwei Manager entsprechend wichtiger sind und ein Projekt noch voranner bringen, ist so grenzenlos dumm wie die Vorstellung, ein Hammer ließe sich doppelt so gut handhaben, wenn man ihn mit zwei Griffen versieht.

Was in der realen Welt unmittelbar einleuchtet, führt in der IT zu maßlosem Erstaunen. Ich habe in Projekten mit immensem Zeitdruck gearbeitet. Um wenigstens halbwegs im vorgegebenen Ramen zu bleiben, forderte ich meinen Manager auf, mir entweder sofort mehr Mitarbeiter zuzuweisen oder bestimmte Aufgaben zu streichen. Am nächsten Tag kam er freudestrahlend zu mir: "Ich habe hier die Lösung für dich." - "Oh fein. Da du keinen neuen Mitarbeiter anschleppst, gehe ich davon aus, dass du mir mitteilst, welche Aufgaben wir vorerst bleiben lassen." - "Noch viel besser. Ich habe noch einen neuen Manager gefunden, der dich unterstützen wird." Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits sechs Vorgesetzte, die ständig in meinem Büro herumlungerten und von mir "den aktuellen Status wissen" wollten. Der Vorteil des Managers Nummer sieben bestand wenigstens darin, so unglaublich faul zu sein, dass ich ihn nach drei Jahren überhaupt erstmals zu Gesicht bekam. Insgesamt aber frage ich mich, wie heruntergekommen ein System sein muss, in dem alle überzeugt sind, ein Schiff führe dann besonders gut, wenn sich auf der Brücke die Kapitäne drängeln und alle sich zu fein sind, im Maschinenraum die Kohlen zu schippen. Es reicht nicht, die Arbeit zu verwalten, man muss sie auch erledigen.

Nur eins ist schlimmer als keine Dokumentation: Schlechte Dokumentation.

Der Vorteil nicht vorhandener Dokumentation ist wenigstens, dass hier ganz offensichtlich etwas fehlt. Viel häufiger aber sind Fälle, in denen tatsächlich irgendetwas geschrieben wurde, was aber gänzlich nutzlos ist. Ich wurde einmal zu einem Einsatz gerufen, bei dem es darum ging, die Ursache für das schlechte Laufzeitverhalten eines Servers zu finden. Ich musste auch nur wenige Stunden betteln, bis sich der Projektleiter dazu herabließ, mir die Dokumente zu schicken. Auf den ersten Blick sah alles ganz großartig aus: Architekturdokumente, Modulbeschreibungen der Software und Kommunikationsdiagramme. Auf den zweiten Blick hin stellte sich die Lage alledings viel schlechter dar: Seitenweise Bestellanforderungen, Marketinggefasel und vor allem Datumsstempel aus einer Zeit, in der sich die gesamte Plattform noch im alten Rechenzentrum befand. Was komplett fehlte, war eine aktuelle Serverliste, eine Aufzählung der Admin-URLs, eine Beschreibung der Installations- und Logverzeichnisse und vor allem eine den jetzigen Stand wiederspiegelnde Darstellung, welcher Server mit wem auf welche Weise redet. "Ja Freunde, wie sieht denn eure Plattform im Moment aus?" - "Steht das nicht in der Doku?" - "Da steht drin, wie die Sache vor vier Jahren aussah, als ihr den Kram in Hannover aufgebaut habt. Inzwischen seid ihr mindestens einmal umgezogen, von Solaris auf Linux gewechselt, habt zwei Major Releases eures Applikationsservers eingespielt, und wenn ich richtig informiert bin, stammt die aktuelle Softwareversion auch nicht von IBM, sondern von euch. Ich habe also den Eindruck, dass eure Dokumentation nicht mehr ganz taufrisch ist." - "Ja, aber bekommen hast du sie." Damit Sie den geistigen Totalaussetzer des letzten Satzes richtig erfassen: Entscheidend war nicht die Qualität des Handbuchs, sondern allein die Tatsache, dass man seiner Pflicht nachgekommen war und es geliefert hatte. Wer sein Geschäft auf so epische Weise nicht verstanden hat, ist selbst mit Hartz IV noch massiv überbezahlt.

Erkennen Sie Todesmärsche.

Im englischsprachigen Raum pflegt man zu historisch belasteten Begriffen bekanntermaßen ein entspannteres Verhältnis als in Deutschland, weswegen man beispielsweise in der Softwareentwicklung von einem "death march" spricht, ohne darin eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus zu sehen. Für Techniker ist auf Anhieb klar, worum es geht. Für Manager und andere intellektuell Herausgeforderte hier die Erklärung: Todesmärsche sind Projekte, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, bei denen es keine Chance gibt, Anerkennung zu erringen, bei denen man sich nur blamieren kann und bei denen man am Ende nicht mehr bekommt als eine schlechte Bewertung und einen Tinnitus.

Was sind untrügliche Zeichen eines Todesmarschs?

  • Das Projekt läuft schon geraume Zeit, wurde diverse Male verlängert und ist gerade im Begriff, einen weiteren Termin zu überziehen.
  • Das Wissen konzentriert sich auf einige wenige Schlüsselfiguren, im Extremfall eine. Es gibt keine oder nur veraltete oder ausgesprochen schlampige Dokumentation.
  • Die Plattform wurde von einer großen Beratungsfirma aufgesetzt, die mindestens einen Regalmeter Dokumentation hinterließ. Warum ist das schlimm? Weil Beraterfirmen kein Interesse haben, saubere Arbeit zu liefern, sondern ihre Mitarbeiter im Projekt einnisten wollen. Die Dokumentation sieht beeindruckend aus, aber es geht darin in etwa so sehr um das Projekt wie in DSDS um Musik.
  • Die Fluktuation im Projekt ist hoch. Der Projektleiter hat vor Ihnen schon eine Reihe anderer Leute gefragt und kommt nun auf Sie. Anders gesagt: Alle guten Mitarbeiter sind verbrannt, jetzt braucht der Kerl Kanonenfutter.
  • Technisch hört sich alles recht einfach an. Es wurden überwiegend Standardkomponenten eingesetzt. Diese sind allerdings veraltet und mehrfach unqualifiziert überarbeitet worden, so dass niemand mehr genau sagen kann, was auf der Platfform eigentlich vor sich geht. Kennen Sie das Gefühl, das einen beschleicht, wenn die selbe Applikation dreimal installiert ist, nur eine Installation funktioniert, man die anderen beiden Verzeichnisse aber nicht löschen kann, weil sie auch noch irgendwie verwendet werden? Das ist der Hauch des Todes.
  • Es gibt keine Abnahmeumgebung.
  • Es gibt eine Abnahmeumgebung, aber es wird gleichzeitig auf ihr entwickelt.
  • Der Kunde hat Adminzugriff auf die Produktion.

Wie lautet die einzig sinnvolle Strategie, wenn man für einen Todesmarsch angeworben wird? Ablehnen. Sagen Sie dem Projektleiter ganz klar, in welche Sache er sie reinreiten möchte. Natürlich wird er sie dafür hassen, aber das wird er auch, wenn Sie den Todesmarsch - entschuldigen Sie die drastische Ausdrucksweise - nicht überleben - was der Fall sein wird, lassen Sie sich nichts Anderes einreden. Sie kürzen die Sache nur ab und erhalten sich Ihre Gesundheit.

Enge Kommunikation ist ein Segen. Enge Kommunikation ist ein Fluch.

E-Mail, Chat, Telefon - ein dreifach Hoch dem, der diese Technik schuf. Selbst Großraumbüros haben ihre Vorteile, wenn sie von Könnern konzipiert und von Mitarbeitern genutzt werden, die wissen, wie man mit dieser Büroform umgeht. Viele Konflikte und Missverständnisse lassen sich dadurch vermeiden, dass die Leute einfach intensiv miteinander reden. Ich habe erlebt, wie Arbeitsgruppen allein dadurch in Feindschaft gerieten, dass einige Mitarbeiter in ein anderes Gebäude verlegt wurden, das nur ein paar Minuten entfernt lag. Generell behaupte ich: Je enger die Teams beisammen hocken, desto besser funktionieren sie.

Wenn sich jetzt bei Ihnen Widerspruch regte, haben Sie Recht. Erstens sind nicht alle Leute gleich gestrickt. Es gibt brilliante Arbeiter, denen man eine Aufgabe in die Hand drückt, die dann für einige Zeit im Nichts verschwinden und dann mit einem perfekten Ergebnis wieder auftauchen. Solche Menschen sind todunglücklich, wenn man sie in die Legebatterienwelt des Großraumbüros pfercht. Ein anderes Phänomen tritt ebenfalls zu Tage, wenn man zu eng auf einem Haufen hockt: Man bekommt viele Kleinigkeiten erledigt, aber eine langwierige, große Aufgabe geht im Tagesgeschäft unter. Darüber hinaus bedeutet der kurze Gang zum Nachbartisch, dass man nichts mehr aufschreibt, und am Ende hat man sein kleines Klüngelründchen mit bändeweisem ungeschriebenem Wissen, in das man keine neuen Mitarbeiter einarbeiten kann, weil niemand in der Lage ist, strukturiert und komprimiert die Arbeit im Projekt zu beschreiben.

Die Antwort auf "kannst du mal kurz" lautet "nein", die auf "könntest du mal eben" lautet "stirb".

Es klang bereits im letzten Kapitel an: Kurze Kommunikationswege begünstigen das Tagesgeschäft und blockieren langfristige Projekte. Es gibt eine weitere Situation, in der man nichts weniger braucht, als ständige Unterbrechungen: Ausfälle. Unter Profis ist die Aufgabenverteilung klar: Einer übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit und hält die Kunden im Zaum, der Rest der Gruppe kümmert sich um nichts Anderes als darum, die Plattform wieder ans Laufen zu bekommen. Die Kunst des PR-Menschen besteht vor allem darin, den Leuten im Maschinenraum jeden zusätzlichen Ärger vom Hals zu halten, gleichzeitig aber auf dem Laufenden zu bleiben, wie die Sache voran kommt und damit Nachrichtenbröckchen zu haben, die er der Kundenmeute verfüttern kann. Stellen Sie sich einen Notarzt vor, der gerade einen Prominenten zu retten versucht. Optimalerweise verbringt dieser Mann jede Sekunde komplett konzentriert auf die Rettung dieses Menschen. Was er ganz bestimmt nicht braucht, ist ein Oberarzt, der ihn pro Stunde für 5 Minuten in eine Pressekonferenz winkt ("Die Leute wollen wissen, was los ist, dauert auch nicht lang.") und Momente höchster Konzentration dadurch stört, dass er "mal kurz" den Visitenplan für den nächsten Tag durchgehen möchte oder "eben schnell" jemanden braucht, der sich den ausgekugelten Arm in Zimmer 4 ansieht. Binsenweisheiten? Banalitäten? Warum hält sich dann kein Projektleiter daran?

Selbst im Kapitalismus gibt es einen Unterschied zwischen "Mitarbeitern" und "Leibeigenen".

Warum ich zur Arbeit gehe? Weil mein Vermieter ein freundliches Lächeln als Bezahlung nicht annimmt. Mein Arbeitgeber ist zwar nicht optimal, aber laue Wischiwaschi-Typen wie ich kommen auch nur in lauen Wischiwaschi-Firmen unter. Was in der deutschen Unternehmenskultur über Jahrzehnte gut funktionierte, war die sachliche Unaufgeregtheit der eigenen Firma gegenüber. Natürlich versuchten gute Firmen, ihre Angestellen mit allerlei Annehmlichkeiten für die Firma zu begeistern, aber man gab sich keinen Illusionen hin, dass kaum jemand einen VW zusammenschraubt, weil er damit glaubt, die Welt zu verbessern, sondern weil die Bezahlung stimmt.

In der IT ticken die Uhren etwas anders. Hier linst man gern in Richtung USA und sieht, wie dort die Wal-Mart-Mitarbeiter jeden Morgen auf Linie gebracht werden. Hirnwäsche statt gut bezahlter, interessanter Arbeit - das muss doch auch bei uns gehen, und so pflastert man die Wände der Büroetagen mit Postern, die - am liebsten auf Englisch, weil man ja so unglaubich hip ist - parolenartig die vermurkste Firmenrealität schönlügen. Mein derzeitiger Favorit ist "Ich suche nicht, ich finde", mit dem die Propagandaabteilung des Intranet über die Tatsache hinwegzugehen versucht, dass auch mit der neu eingebundenen Suchmaschine selbst die Suche nach dem Namen des Firmenchefs nur unbrauchbaren Mist liefern.

Die Forderung nach Identifikation bleibt freilich nicht auf der allgemeinen Arbeitsebene stehen, sondern fordert zum klaren Rechtsbruch auf. Wer nur 10 Stunden pro Tag für die Firma arbeitet, von denen selbstverständlich nur 8 bezahlt werden, bekommt vom Projektleiter zu hören, er bringe sich nicht ausreichend ein. Der Einwand, nach deutschem Recht dürfe man aber nur maximal 10 Stunden am Stück arbeiten und liefere im Fall eines Verstoßes Grund für eine bis zur Kündigung reichende Abmahnung, wird mit der Bemerkung weggewischt, dann müsse man eben die Zeiterfassung fälschen  - was übrigens Grund für eine fristlose Kündigung sein kann. Der Arbeiter lässt sich also nicht nur auf eine Erpressung ein, er steht im Fall, dass es auffliegt, sogar noch als der allein Schuldige da.

Das ist übrigens genau der Turbokapitalismus, den wir an den Vereinigten Staaten und Japan so schlimm finden, und genau wie dort sind die Folgen offensichtlich: Massiv unzufriedene Angestellte wechseln die Firma, sobald sich die Gelegenheit bietet. Die Zurückgebliebenen fahren immer mehr auf Reserve, die Arbeitsergebnisse werden immer schlechter, und am Ende hilft keine noch so militant agierende Propagandaabteilung, die Schar der innerlich Gekündigten noch zu mehr als dem absolut nötigsten zu überreden.

Der Narr sucht Schuldige. Der Weise sucht Ursachen.

Das Projekt nähert sich dem Stadium, in dem selbst Manager, die sich das Koks mehltütenweise durch die Nase ziehen, nicht ganz umhin können, zu bemerken, dass sich der eine oder andere winzige Holperer eingeschlichen hat. Was jetzt folgt, ist dieses klägliche Schauspiel, in dem jeder die Schuld von sich weist und eilig auf den Nächsten zeigt. Am Ende bleibt es bei dem kleben, der nicht schnell oder überzeugend genug reagiert hat. Das Bauernopfer ist gefunden, wobei sich niemand dafür interessiert, ob es für das kollektive Eindreschen aus Projektsicht plausible Gründe gibt.

IT hat mit Moral so gut wie nichts gemein, selbst wenn man den Server von Greenpeace betreibt. Die Schuldsuche ist aber eine moralische Frage, und sie wird fragebedingt emotional ausgetragen. Was man in Wirklichkeit braucht, ist die Suche nach dem, was schief ging, was vom erwarteten Ergebnis - einer Verhaltensänderung der Beteiligten - her gleich ist, aber eine höhere Chance bietet, dass jeder über den eigenen Beitrag und darüber nachdenkt, wie es besser laufen könnte. Wer Schuldige sucht, greift Menschen in ihrer Persönlichkeit an. Wer Ursaschen sucht, gibt den Betroffenen die Chance, das Gesicht zu wahren.

Was haben wir gelernt? Dass wir nichts lernen wollen.

Immer, wenn ein Projekt mit besonders viel Schmackes gegen die Wand gesetzt wurde, gibt es im Anschluss eine "Lessons-Learned"-Sitzung. Die Idee klingt gut: Alle Beteiligten setzen sich zusammen, man bespricht, was schief lief, warum es schief lief, und beim nächsten Mal läuft alles besser. Da gibt es dann eine tolle Powerpoint-Präsentation, in der noch einmal alle Phasen des Projekts eingehend betrachtet werden, und eine Excel-Tabelle, in die man ganz viele tolle Ideen einträgt. Mein Beitrag lautet in der Regel: "Schmeißt das unfähige Entwicklerpack raus, stellt den Projektleiter an die Wand und jagt diese verlogene Bande vom Marketing zum Teufel." Das will natürlich keiner hören, also bringe ich in der Regel eine Kurzfassung des oben Geschriebenen. Das will auch keiner hören, also wird das Ganze so lange umformuliert, bis es in einer völlig verwässerten Form im Protokoll landet. Am Ende bekommt der Admin als letztes Glied der Kette irgendeine vollkommen hirnrissige Aufgabe aufgedrückt, die ihn wochenlang damit beschäftigt, ein sinnleeres Dokument, dabei seine eigentlichen Aufgaben zu vernachlässigen und schließlich zuzusehen, wie das fertige Dokument im Sammellaufwerk Staub ansetzt. Das soll ihn leeren, noch einmal die kuschlige Eintracht der Nachbetrachtungssitzung mit aufmüpfigen Kommentaren zu besudeln.

Schlussbemerkung - oder: Wo es nichts zu managen gibt, braucht man auch keinen Manager.

Was Sie hier gelesen haben, erzählt man Ihnen auch in jedem Projektleitungsseminar. Es ist also allgemein bekanntes Wissen. Warum wird es in der Praxis so beharrlich ignoriert? Ehrlich gesagt: Ich verstehe es auch nicht. Einer der Gründe kann sein, dass man selten in Führungspositionen landet, weil man dorthin gehört, sondern weil man beispielsweise der Firmengründer ist, der aus der Hinterhofklitsche mit viel Hemdsärmeligkeit und Pioniergeist ein mittelständisches Unternehmen formte, nun aber an der Aufgabe scheitert, in der einsetzenden Kosolidierungsphase Ordnung in den Laden zu bringen. In Großunternehmen wiederum geraten viele Leute in Führungspositionen, weil sie die entsprechenden Seminare besucht und brav ihre Zertifikate gesammelt haben. Nun wird man durch das Besuchen von Managerseminaren genauso wenig Manager wie man durch das Studium der Aerodynamik zum Vogel wird. Verschärfend kommt die in vielen Unternehmen herrschende Vorstellung hinzu, Manager werde man als Belohnung für gute Tätigkeiten, und Management sei ein generischer Vorgang, der nicht großartig unterscheide, ob man nun eine Internetplattform oder eine Stahlfabrik verwalte. Als Ergebnis werden großartige Techniker in Leitungspositionen gehievt, wo sie zuallererst ihr in jahrzehntelanger Arbeit angesammeltes technisches Wissen komplett vergessen müssen, um sich künftig ganz dem Ausfüllen von Exceltabellen zu widmen. So vernichten DAX-Unternehmen Jahr für Jahr die Kenntnisse, die nötig wären, um den Laden am Laufen zu halten, nur um ihren ohnehin schon kolossalen Wasserkopf weiter aufzublähen. Dieser wiederum ist sich seiner eigenen Redundanz durchaus bewusst und versucht die Illusion von Wichtigkeit zu erzeugen, indem er die Firma jährlich einer Reorganisation unterzieht, die in erster Linie Geld verbrennt, Unruhe erzeugt und genau in dem Moment durch die nächste Reorganisation abgelöst wird, in dem die Maßnahmen zu funktionieren beginnen. Das verloren gegangene Wissen wiederum muss wieder herangeschafft werden, also kauft man sich Externe, die zwar dieses Wissen besitzen, aber es nicht teilen. Dennoch hält diese Maßnahme die Firma am Leben, was die Verantwortlichen veranlasst, mit der Symptombekämpfung auch die Ursachenbehebung als abgeschlossen zu betrachten und sich nun der Frage zu widmen, wie man die gestiegenen Externenkosten senken kann. Die Antwort lautet - na? - Interne feuern, genau, wodurch noch mehr Wissen vernichtet wird, das man sich wieder extern einkauft - hat ja schon einmal prima funktioniert.

Die eine, große Idee, mit der sich dies alles korrigieren ließe, gibt es meiner Ansicht nach nicht, aber vielleicht hilft es ja, sich die Kapitelüberschriften ab und zu in Erinnerung zu rufen.