Montag, 31. Oktober 2016

Über Schlitzaugen ins Straucheln geraten

Dass Günther Oettinger die fleischgewordene Fehlbesetzung ist und intellektuell maximal in der Lage ist, die Kaffeeküche des Europaparlaments aufzuräumen, ist jetzt nicht gerade die Sensationsmeldung, mit der man es bis in die Tagesschau schafft.

Offenbar doch. Dass der Mann über Jahre hinweg als EU-Digitalkommissar eine glatte Katastrophe war, dass er auf den Posten gesetzt wurde, ohne auch nur die geringste Qualifikation in Sachen Internet zu besitzen, dass seine öffentlichen Äußerungen selbst das Gestammel Edmund Stoibers klar und verständlich wirken ließen, dass er ganz offensichtlich nur das nachplapperte, was seine Lobbyisten ihm vorher einghämmert und gehofft hatten, dass wenigstens ein Bruchteil davon seine Hirnwindungen unbeschadet passiert - egal. Kümmert niemanden. Aber: Er hat "Schlitzauge" gesagt!

OK, er hat noch viel mehr gesagt. Er hat vor allem Zeug von sich gegeben, das man im vertrauten Kreis abends leicht angesäuselt an der Hotelbar von sich gibt. Äußerungen, die gerade in den Ohren derer, die das Internet seit Jahrzehnten als Kommunikationsmedium und Lebensraum nutzen, grotesk altbacken wirkt. Wir empfinden nichts Besonderes dabei, Zeitschriften auf dem Smartphone zu lesen. Unter Bewohnerinnen des globalen Dorfes gehört es zum guten Ton, ethische und ethnische Diversität zu achten. Insbesondere abfällige Bemerkungen über die äußerlichen Merkmale von Asiaten oder die Anerkennung homosexueller Ehen empfinden wir als unangemessen.

Jetzt müsst ihr ganz tapfer sein: So reden die Leute da draußen aber. Wir haben es uns in unserer Netzfilterblase gemütlich eingerichtet. Wir teilen einen gewissen Wertekanon mit einem Großteil der Journalistinnen und allgemein mit einem akademisch geprägten Bildungsbürgertum. Das ist aber eben nicht die Welt, es ist nicht einmal das Internet. Es ist eine numerisch große und meinungsprägende Schicht, aber ob es die Mehrheit ist, kann ich nicht sagen.

Von Douglas Adams gibt es ein schönes Zitat: Alles, was zum Zeitpunkt deiner Geburt auf der Welt war, ist normal und gewöhnlich und ein natürlicher Teil der Art, wie die Welt funktioniert. Alles was erfunden wurde, während du zwischen 15 und 35 Jahre alt warst, ist neu und aufregend und revolutionär, und du kannst möglicherweise eine Karriere damit machen. Alles, was erfunden wurde, nachdem du 35 warst, ist gegen die natürliche Ordnung der Dinge.

Jetzt schaut mal nach, wie alt Oettinger ist. Genau, als dieser Mann 1953 in der Hauptstadt eines für seine zutiefst biedermeierliche Grundaltung bekannten Bundeslandes geboren wurde, fuhren noch Dampfloks auf den Gleisen. Computer waren groß wie Turnhallen, und man berechnete Völkermorde oder Geschützbahnen mit ihnen. Als er 4 Jahre alt war, startete die Sowjetunion den Sputnik, also den ersten künstlichen Satelliten überhaupt, und löste damit die Überlegungen aus, die Jahrzente später zum Aufbau des Interenets führten. Als Oettinger 35 war, galt der C64 noch als ordentlicher Heimcomputer. Modems konnten 2400 Baud, es sei denn, man erwarb sie legal bei der Bundespost. Die konnten 300 Baud und waren auch sonst völliger Mist. Ein Jahr später sollte Berners-Lee das Hypertext-Konzept vorstellen. Kurz: Mehr als die Hälfte seines bisherigen Lebens hat Oettinger ohne Computer zugebracht, und sein gesamtes Umfeld war nicht so gestaltet, dass es dem Internet gegenüber besonders aufgeschlossen wäre.

Gerechterweise müssen wir aber auch ein kritisches Auge auf uns selbst richten. Nur weil wir mit Computern und dem Internet aufgewachsen sind, hängt davon nicht unser Leben ab. Es ging auch ganz offensichtlich ohne. Unser Aufgeplustere auf Twitter und Facebook wird außerhalb unserer Soziosphäre mit Befremden registriert. "Die Netzgemeinde", das ist für die Meisten da draußen bestenfalls dieser komische Schnauzbartträger mit dem roten Irokesenhaarschnitt, wie hieß der doch gleich? Von Vorratsdatenspeicherung, Netzneutralität und freier Software - für uns alltägliche Begriffe - hat von ihnen kaum jemand etwas gehört, und noch viel weniger verstehen, warum uns die Diskussion darum so wichtig ist. Das gleiche Unverständnis, mit dem wir die Geisteshaltung Oettingers betrachten, schlägt uns von den "Offlinern" entgegen. Da gibt es kein Richtig oder Falsch. Da sollte es den Versuch geben, einander zu verstehen.

Ich weiß nicht, wie viele von Euch regelmäßig mit Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenarbeiten müssen. Da gibt es Reibereien. Nicht umsonst gibt es für international agierende Firmen ganze Seminare, die sich mit nichts anderem beschäftigen als der Frage, wie in verschiedenen Kulturen bestimmte Dinge gesehen werden. Wenn man das nicht weiß, kann man arge Schwierigkeiten bekommen. Es ist natürlich äußerst peinlich, wenn ein EU-Kommissar auf dem internationalen Parkett mit der Blasiertheit eines schwäbischen Dackelzüchters herumtrampelt, sprachlich geglättet klängen seine Kommentare aber so: "Ich finde das schon fast militärisch einheitliche Auftreten einer chinesischen Delegation befremdlich. Es gibt dort kein Mehrparteiensystem, und Frauen sind in hohen Positionen unterrepräsentiert." - "Eine Absenkung des Renteneintrittsalters ist nicht finanzierbar." - "Ich sehe die Ehe homosexueller Partner kritisch." Das mag zwar immer noch nicht unserer Meinung entsprechen, aber das ist im Kern, was er gesagt hat.

Oettinger war immer schon provinziell, und er hat seine hinterwäldlerische Borniertheit unverändert auf die europäische Ebene gerettet. Mir wäre es lieb gewesen, hätte man ihn nach seiner Filbinger-Weißwaschansprache aufs Abstellgleis geschickt, nach seinem englischen Gestammel auf dem Niveau eines Gestapo-Offiziers in einem Indiana-Jones-Film oder für jede einzelne seiner Äußerungen als Digitalkommissar, bei denen man sich fragte, wie viele Tausend Euro ihm das wieder von welcher Firma eingebracht hat. Statt dessen stolpert er möglicherweise über Stammtischgebrabbel.

Wenn wir Pech haben, dann kostet ihn die Rede aber auch nur die Versetzung ins Haushaltsressort, und er bleibt uns als Digitalmarionette erhalten, weil er da scheinbar weniger Schaden anrichtet. Da hätten wir uns dann mit unserer Empörung richtig verzockt.