Sonntag, 23. Februar 2014

It all feels so 2009

Es gibt ein paar Themen, auf die der Deutsche so richtig abgeht: Rechtschreibung, Autos und vergewaltigte Kinder. Unvergessen bleibt die sich über Jahre hinziehende "Debatte" ("Mimimi" träfe es meiner Ansicht nach besser), wie sehr die westlich-abendländische Kultur ihrem endgültigen Ende entgegenschlittert, wenn man nicht mehr "daß", sondern "dass" und "Eisschnellläufer" mit drei "l" schreibt. Da setzte selbst bei Leuten, denen ich einen gewissen Verstand zugestanden hätte, über lange Strecken die Ratio aus. Weiter ging es vor einem Monat, als - G'tt bewahre! - herauskam, dass der ADAC bei der Verleihung des "Gelben Engels" geschummelt hat. Oh nein! Heißt dass etwa, ich fahre gerade nicht das Lieblingsauto der Nation, sondern nur das zweitliebste? Weg mit der Dreckskarre, ein guter Deutscher fährt nur den Wagen, den die Masse mag. Ob der Wagen was taugt, ist völlig egal, Hauptsache, alle Anderen finden den auch gut.

Diffiziler wird es allein beim Punkt drei, weil es da wirklich um etwas geht. Kinder dabei zu filmen, wie sie vergewaltigt werden, das Ganze beschönigend "Kinderpornografie" zu nennen und dann auch noch zu verbreiten, hat nicht die Spur von Komik, ist nichts, was man auch nur ansatzweise belächeln könnte, und das alles zusammen wäre eigentlich Grund genug, dieses Thema mit voller Konzentration und Ernsthaftigkeit anzugehen.

Dazu aber müsste der Deutsche nachdenken, und damit hat er es nicht so. Statt dessen verfällt er wie bei allen anderen emotional aufwühlenden Themen in Schnappatmung und fordert den ganz großen Wurf, irgendwas. Ob es was bringt, ist völlig egal, Hauptsache, man erweckt den Eindruck von Aktionismus, und es sieht nach deutscher Gründlichkeit aus.

Geschichte wiederholt sich, und das mit überraschender Präzision. Im Jahr 2009 schaffte es die damalige Familienministerin von der Leyen, ohne nennenswerte Gegenwehr ein handwerklich stümperhaftes Gesetz zur Internetzensur durchzupeitschen, das sie allein damit begründete, man müsse irgendwie etwas gegen "Kinderpornografie" unternehmen. Wer immer gegen ihren hanebüchenen Unsinn argumentieren wollte, stand automatisch mit dem Rücken zu Wand, weil man sich erst einmal rechtfertigen musste, warum man nichts gegen dieses schreiende Unrecht unternehmen wolle, ob man vielleicht selbst "einer von denen" sei. Bei aller Kritik, die man heute an den Piraten äußern mag: Sie waren damals die einzige Partei, die sich über Wochen anschreien ließ und trotzdem darauf beharrte, dass Zensur kein passendes Mittel zur Bekämpfung von Kindervergewaltigung ist. Das behalte ich im Hinterkopf, wenn heute Mitglieder dieser Partei Kriegsverbrechen verherrlichen.

Dokumentierte Kindervergewaltigung ist neben Terrorismus, Drogenhandel und Geldwäsche einer der vier Reiter der Infokalypse, und so wundert es nicht, wenn wir offenbar im 15-Monats-Rhythmus fünf Jahre später einmal mit allen Themen durch sind und wieder von vorn anfangen. Diesmal geht es um den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy und den gegen ihn geäußerten Vorwurf, er habe sich entsprechendes Bildmaterial besorgt. Ich will mich jetzt nicht über einige, sagen wir: äußerst bemerkenswerte Aneinanderreihungen von Ereignissen auslassen, die es - ei, wie vertrackt - leider nicht ermöglichen, genauere strafrechtliche Ermittlungen vorzunehmen. Ich will auch gar nicht darüber spekulieren, wann wer mit wem worüber telefoniert hat und auch keine kausalen Zusammenhänge zu den äußerst dummen Zufällen herstellen, die wie schon gesagt die Ermittlungsarbeit etwas behindern, sondern mich vor allem auf die politische Reaktion konzentrieren, die sich um die Frage dreht, wie mit Pädophilie umgegangen werden soll.

Ich weiß, dass ich mir mit dieser Haltung einige Sympathien verderbe, aber aus meiner Sicht ist Pädophilie zunächst einmal eine sexuelle Orientierung - gesellschaftlich geächtet, aber das war Homosexualität auch einmal. Nun gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Liebe von Erwachsenen und einer Beziehung, die nicht auf Gleichberechtigung, sondern auf Vergewaltigung und schweren psychischen Schäden basiert. Worauf es mir ankommt: An einer Neigung selbst vermag ich nichts Strafbares zu erkennen, so lange sie nicht zur Last Anderer gelebt wird. Es gibt Menschen mit sadomasochistischen Neigungen - übrigens eine weitere gesellschaftlich kaum akzeptierte Praktik. So lange sie ihre Vorlieben mit anderen Menschen leben, die ebenfalls daran Gefallen finden - warum denn nicht? Noch einmal: Der Unterschied zur Pädophilie besteht darin, dass sie praktisch nur auf Kosten von Kindern ausgelebt werden kann und es damit unmöglich ist, ohne Schädigung anderer dieser Neigung nachzugehen. Wer entsprechendes Bildmaterial konsumiert, nimmt in Kauf, dass hierfür Kindern schwerste physische und psychische Schäden zugefügt wurden. Genau aus diesem Grund gehört meiner Meinung nach bereits der Besitz verboten. Ich kann mir ja auch keinen abgeschlagenen Kopf auf den Schreibtisch legen, ohne dafür einen Menschen ermordet zu haben.

Die Frage ist nur, wo man die Grenze zieht. Wenn sich jemand einen Manga-Comic mit pädophilen Inhalten aus dem Netz lädt, wurden dafür exakt null Kinder vergewaltigt. Wenn man solche Inhalte verbietet, sollte man vielleicht auch einen kritischen Blick auf so manches DVD- und Krimiregal werfen. Immerhin geht es da um bisweilen sehr intensive Schilderungen diverser Mordpraktiken. Ja, da kommt natürlich nicht wirklich jemand ums Leben, aber schlimm ist es ja schon, was man da liest. Selbst eine Google-Suche nach pädophilen Inhalten kann strafbar sein. Die Intention ist klar: Man will Kindervergewaltigern keine Möglichkeit geben, sich aus der Sache herauszuwinden. Gleichzeitig aber begibt man sich bei der Strafverfolgung so weit ins Vorfeld des eigentlichen Verbrechens, dass selbst Handlungen in den Fokus geraten, die mit der tatsächlichen Vergewaltigung von Kindern allenfalls in einem sehr abstrakten Zusammenhang stehen. Ich kann mich noch lebhaft an von der Leyens rhetorische Frage aus dem Jahr 2009 erinnern: Ob es denn nicht sinnvoll sei, lieber etwas drastischer vorzugehen, wenn dadurch auch nur ein Kinderleben gerettet werden könnte? Mit Verlaub, wenn ich tausend (die Zahl ist jetzt willkürlich gewählt) Unschuldige erschieße, weil ich den einen Straftäter unter ihnen nicht ungeschoren davon kommen lassen will, stellt sich in der Tat die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. "Gott wird schon die Seinigen finden", erscheint mir keine im 21. Jahrhundert noch valide Argumentation zu sein.

Doch bei einem Thema wie diesem spielen Sachargumente keine Rolle. Hier geht es um Emotionen. Wer nach überprüfbaren Fakten verlangt, steht automatisch in der Rolle des Zynikers. Wir erinnern uns noch lebhaft an von der Leyens Schwadroniererei, die sinngemäß Deutschland in der einsamen Vorreiterrolle im Kapf gegen Kindervergewaltigung sah. Dann stellte jemand fest, dass eigentlich sehr viele Länder ähnliche Ansichten haben. Von Tatsachen ließ sich die Familienministerin freilich nicht aus der Ruhe bringen. Auf einmal war es nicht mehr die Mehrheit der Welt, sondern nur noch viele Länder, die nichts für die Kinder täten. Nicht ganz so viele. Einige. Aber das reiche.

Um welche Länder es sich denn handle, wollten einige Aktivistinnen darafhin wissen. Vonder Leyes warf wild irgendwelche Namen in den Ring. Die stellten sich nach kurzer Recherche als falsch heraus. Indien, sagte die heilige Ursula von Orleans daraufhin. Indien habe kein Gesetz gegen Kindervergewaltigung. Das ist für alle, die in Mengenlehre nicht aufgepasst haben, richtig. Allen Anderen sei gesagt: In Indien ist Pornografie allgemein verboten, also insbesondere die sexuell aufreizende Darstellung von Kindern. Hat ihr von jeder Sachkunde befreite Gefasel der Ministerin auch nur ansatzweise geschadet? Nein, das Volk sah in ihr die entschlossene Kämpferin, allein das zählt.

Heute sieht es wieder ähnlich aus. Sprach von der Leyen seinerzeit von einem "Milliardengeschäft", ohne diese Zahl zu belegen, fabuliert jetzt die taz-"Journalistin" Ines Pohl von 250.000 Deutschen, die im vergangenen Jahr "rund 200 Milliarden Euro für Bilder und Filme mit nackten Kindern ausgegeben" hätten. Das wären im Durchschnitt 80.000 € pro Konsument. Frau Pohl, ich will Sie ja nicht direkt der Lüge bezichtigen, aber sind Sie sich ganz sicher, in die Recherche dieser Zahl auch nur eine Sekunde Ihres ganz sicher wahnsinnig engagierten Lebens investiert zu haben?

Jetzt überlegt Justizminister Maas sogar, den Handel mit Nacktbildern von Kindern generell unter Strafe zu stellen, egal, ob diese Bilder nun aufreizender Natur sind oder nicht. Die Intention verstehe ich auch hier, aber noch einmal: Geht es da nicht ein bisschen zu weit? Wo wollt ihr die Grenze ziehen? Es gibt seit vier Jahrzehnten das berühmte Bild der Kommune 1, auf dem neben den nackten Erwachsenen auch ein nacktes Kind zu sehen ist. Das dürfte künftig nicht mehr gezeigt werden. Das weltweit bekannte Foto des nackten Mädchens, das nach einem Napalm-Angriff auf ein vietnamesisches Dorf weinend davonrennt - im Weltbild des Heiko Maas haben solche Unzüchtigkeiten keinen Platz mehr. Das Cover von Nirvanas "Nevermind"-Album - verboten. Ich habe aus meiner Kinderzeit noch den Vorspann der Sesamstraße in Erinnerung, bei dem nackte Kinder im Sommer am Strand und in einem Springbrunnen spielen - geht es nach den Willen des Innenministers, werden Sesamstraße-Kopien auf Youtube künftig nicht mehr zu sehen sein. Hardcorepornos werden sich Erwachsene weiterhin kaufen können. Erinnerungen in ihre Kindertage hingegen nicht.

Der Deutsche mag halt keine halben Sachen. Es ist ihm völlig egal, ob jemand eine Neigung hat, sich aber über die Konsequenzen im Klaren ist und sie nicht lebt, oder ob er sich tatsächlich an Kindern vergeht. Verbrechen finden bereits im Kopf statt, weswegen bereits dort Zucht und Ordnung herrschen muss. Die Gedanken sind frei? Humanistische Phantastereien, mit moderner Verbrechensbekämpfung unvereinbar.

Wir befinden uns nicht mehr in einer Demokratie, sondern in einer Schreiokratie. Recht hat nicht mehr die Mehrheit, sondern wer am lautesten schreit. Ist erst einmal eine Opfergruppe gefunden, kann man als selbsternanne Anwältin "derer, die sonst keine Stimme haben" ungehindert jeden Blödsinn fordern, und gerade im akademisch-mittelständischen Milieu, das Elternschaft gern zu einer Art heiligen Mission verklärt, findet heroisches Eintreten für Kinderrechte starken Anklang. "Im Zweifel für das Kind" fordert Ines Pohl, im Klartext: Die Sinnhaftigkeit einer Maßnahme steht überhaupt nicht zur Debatte, sofern auch nur im Ansatz die hypothetische Möglichkeit besteht, auch nur einem einzigen Kind vielleicht damit nicht zu schaden. Ein widerlicher Schuft, der dazu nein sagt.

Wenn ich eine Prognose wagen darf: Die Volksseele kocht - wieder einmal. Sie will Taten sehen, egal wie unsinnig sie auch sein mögen. Deswegen werden in den kommenden Wochen wieder reihenweise unfassbar laienhafte Gesetze zusammengestümpert, mit Tothauerargumenten durchgepeitscht, und wir werden in den kommenden Jahren massenweise Spaß dabei haben, die Folgen wenigstens halbwegs abzumildern. Das Bundesverfassungsgericht könnte sich ja sonst langweilen.