Die gute Nachricht zuerst: Die Große Koalition ist abgewählt. Die schlechte Nachricht: nur eine Hälfte. Das Abschneiden der SPD wäre schon fast bemitleidenswert, wenn die Partei das Ergebnis als Chance zur Erneuerung begriffe. Dazu müssten die Verantwortlichen natürlich endlich verstehen, dass eine einst den Kanzler stellende Partei ambitioniertere Ziele haben sollte, als nur den Wiedereinzug ins Parlament zu schaffen.
Neu ist die Situation für die SPD freilich nicht, nur gab es immer wieder historische Zufälle, die über die Lage hinweg täuschten: 1998 hatten die Leute Kohl so satt, dass selbst Schröder sie nicht ausreichend abschrecken konnte. 2002 war die Erinnerung an Kohl noch wach, Schröder mit Gummistiefeln beim Oderhochwasser so anrührend und sein Gegenkandidat eine dermaßene Lachnummer, dass die SPD sich gerade noch so halten konnte. 2005 wäre eigentlich eine gute Gelegenheit gewesen, die heillos zerstrittene rot-grüne Mannschaft zum geordneten Rückzug in die Opposition antreten zu lassen, um sich dort neu zu sortieren und 2009 gestärkt wieder anzutreten. Statt dessen ließ sich eine vor Machtgier zu keinem klaren Gedanken mehr fähige SPD auf eine Große Koalition mit der sträflich unterschätzten Kanzlerin Merkel ein. In dieser Koalition ließ sich die SPD vier Jahre lang von der CDU vor sich her treiben und gab sich mit einer ans Pathologische grenzenden Realitätsverleugnung der Illusion hin, man sei der kraftstrotzende Regierungspartner und die schlechten Umfrageergebnisse ließen sich durch ein weiteres Oderhochwasser schon wieder hinbiegen.
Die SPD habe in ihrer einhundertsechsundvierzigjährigen Geschichte so manche Krise erlebt, hieß es in den vergangenen Monaten immer wieder, deswegen werde sie auch diese überstehen. Eine hübsche Hoffnung, aber nicht unbedingt eine begründete. Nur weil ich n Jahre lebe, heißt das nicht, dass ich auch n+1 Jahre leben werde. Gehen Sie auf den nächstbesten Friedhof, wenn Sie mir nicht glauben. Vielleicht ist die Zeit für die SPD einfach abgelaufen. Der akademisch-ökologisch-mittelständische Flügel ist zu den GrünInnen, der proletarisch-sozialistische Flügel zur Linkspartei und der IT-Bürgerrechtler-Flügel zu den Piraten abgewandert. In völliger Fehleinschätzung der Situation hat die SPD diese Abwanderung nicht nur hingenommen, sondern vor allem beim Wegbruch des linken Arbeitnehmerflügels sogar noch aktiv unterstützt, weil man sich als Partei der Mitte etablieren ("profilieren" wäre in diesem Zusammenhang ein Oxymoron) wollte und davon ausginge, die verlorenen Schäfchen werden schon von allein wieder zur Herde finden. Warum die ehemaligen Mitglieder aus den auf ihre Bedürfnisse spezialisierten Parteien wieder in den sozialdemokratischen Mischmasch zurückkehren sollen, wo sie ständig in der Minderheit sind, vermag die SPD nicht zu vermitteln.
So lange die Stimmanteile ausreichten, um wenigstens noch als Koalitionspartner unentbehrlich zu sein, konnte sich die SPD der Illusion hingeben, alles sei im Prinzip in Ordnung. Jetzt aber haben ihre Prozentzahlen die Region erreicht, in der auch Linkspartei, GrünInnen und FDP unterwegs sind. Statt sich mit der CDU um die Kanzlerfrage zu streiten, ist die SPD nur ein möglicher Bündnispartner von vielen, und ihre Konkurrenten haben nur zu gut die arroganten Verleumdungen in Erinnerung, mit denen die SPD sie einst klein zu halten versuchte. Unwählbar seien sie alle, von Demokratiefeinden unterwandert, Rattenfänger, denen kein vernünftiger Mensch seine Stimme geben dürfe. Knapp ein Drittel der Wähler sehen dies anders. Das sind zehn Prozent mehr als die, welche der SPD noch etwas zutrauen.
Dreiundzwanzig Prozent sind natürlich besser als nichts. Die SPD ist nicht am Boden zerstört, aber wenn ihr in den kommenden Jahren keine Antwort auf die Frage "Wer braucht euch noch?" einfällt, gibt es nichts, was den freien Fall bremst. Eins scheint mir klar: Mit der jetzigen Mannschaft gelingt die Antwort nicht.
Dann heißt es also schwarz-gelb. Knapp die Hälfte meines Lebens werde ich von dieser Farbkombination regiert worden sein. Ich bin also im Training und habe eine grobe Ahnung von dem, was kommen wird. Die FDP wird bei jeder größeren Schweinerei entsetzt aufschreien, mit ihnen den Liberalen, ginge das auf gar keinen Fall, eher friere die Hölle zu. Die CDU sagt daraufhin "OK, wir senken die Steuern für Einkommen ab 100.000 €", und schlagartig kann man im Fegefeuer Schlittschuh laufen. Warten Sie ab, wann wir die Bundeswehr im Innern haben. Eine einfache Stoppuhr mit Sekundenzeiger sollte reichen.
Ideologisch hat der Neuaufguss von schwarz-gelb seine Vorteile. Diese Regierung wird so agieren, wie man es von ihr erwartet. Auf ein linkes Korrektiv braucht man gar nicht erst zu hoffen. Gespannt bin ich unter anderem auf die kommende Ausweitung der Internetzensur - vor allem auf technischer Ebene. Bei den IP-Blockaden wird es wohl kaum bleiben. Was kommt danach? Ich tippe auf Sendezeiten für bestimmte Inhalte. Diese Idee wurde in der Vergangenheit immer wieder diskutiert und ist so herzerweichend dumm, dass unsere christliberalen Internetexperten der Versuchung nicht lange werden widerstehen können.
Das Abschneiden der Piraten offenbart den Unterschied zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung. Wer die Internetaktivität dieser Partei beobachtete, musste den Eindruck bekommen, die Kanzlerschaft sei in greifbarer Nähe, und nicht wenige Wahlkämpfer ließen sich zur Äußerung hinreißen, die Fünf-Prozent-Hürde sei ein realistisches Ziel. Am Ende waren es zwei Prozent - ein Achtungserfolg, wenngleich auch meilenweit vom Einzug ins Parlament entfernt. Nüchtern betrachtet war es auch gut so. Weder personell noch programmatisch war man für den Bundestag gewappnet. Die Piraten hätten sich gnadenlos blamiert und wären wieder in der Versenkung verschwunden. Nun aber haben sie genug Stimmen bekommen, um sich ermutigt zu fühlen, aber auch wenig genug, um zu wissen, dass sie noch viel vor sich haben. Die Informationsgesellschaft wirft Fragen auf, die von den bisherigen Parteien nicht angemessen beantwortet werden. Den Bedarf für eine auf diese Fragen spezialisierte Partei gibt es also. Die kommenden vier Jahre werden zeigen, ob die Piraten diese Partei sind.