Samstag, 7. März 2009

Rettet die Wahlen!

Wieder einmal hat das Bundesverfassungsgericht auf bösartigste Weise arme, schuldlose Despoten an ihrer freien Entfaltung gehindert und ewiggestrigen Demokraten das Feld überlassen, die mit ihrem faschistoiden Konzept von freien, gleichen und geheimen Wahlen die Herrschaft des Pöbels anstreben. Vergeblich waren die Versuche, die verstockten Richter zur Einsicht zu bringen: Wahlen sind viel zu kompliziert, als dass man sie Menschen überlassen könnte. Dafür haben wir doch Wahlcomputer und Experten, die sich damit auskennen. Die haben sich einen Prototypen ganz genau angeguckt und nichts finden können. Wenn schon ein einzelnes Gerät so toll funktioniert, wie viel toller funktionieren dann ganz viele weitere Geräte - alle baugleich, mein Wort drauf! Sehen Sie, das ist noch Qualität.
Ganz anders sind hingegen diese technikfeindlichen Körnerfresser vom CCC. Wenn ich das Gejammere schon höre: "Wahlen werden durch die verwendeten Computer intransparent." So ein Unsinn, das sind Computer, da kann gar nichts schief gehen - sieht man doch beim Computer daheim, da gibt es doch auch nie Fehler. Da stürzt nie was ab, da gehen nie Daten verloren, da gibt es keine kaputten RAM-Riegel oder defekte Festplatten. Da haben vorher ganz tolle Experten aufgepasst, dass nichts schiefgeht.
Ganz tolle Experten haben übrigens auch gesagt, da könne nie was schiefgehen, als man in Köln anfing, ein klitzekleines Löchlein zu buddeln, um durch dieses Löchlein eine U-Bahn zu schicken (Kenner der Szene werden wissen, dass "U-Bahn" als Bezeichnung für das, was da unter Kölns Straßen herumrollt, etwas hoch gegriffen ist, und wie sich zeigen wird, ist es auch der Begriff "Tunnel" für das, was man dort vergeblich zu graben versucht.). Auch als ein Kirchturm nahe der Baustelle sich die lächerliche Kleinigkeit von 71 cm aus der Senkrechten zu neigen begann, sah keiner dieser Experten Anlass zur Sorge. "Komm Jung", werden sie gesagt haben. "In Pisa lebt eine ganze Stadt von sowas, nur hier jammern die Technikfeinde bei jeder Kleinigkeit herum. Eine seltene Krötenart hier, ein Kirchturm da - die sollen aufhören, alles mies zu reden." Man grub weiter, Unkenrufen über mangelnden Stützdruck und Schwierigkeiten mit dem Grundwasser zum Trotz - bis es noch einmal rummste, diesmal etwas deutlicher, und 2000 Jahre Kölner Stadtgeschichte sowie zwei Menschenleben ein jähes Ende fanden.
Für beides - das Buddeln im Kölner Untergrund sowie den Einsatz von Wahlmaschinen - gibt es gute Gründe. Wer einmal mit der Linie 16 nach Köln gefahren ist, wird sich gewundert haben, wie schnell man in Sichtweite des Doms kommt, um dann kurz vor dem Ziel mit einem scharfen Schwenk nach links eine Irrfahrt durch die Kölner Innenstadt einzuleiten. Der geplante Tunnel sollte dem Axiom der euklidischen Geometrie, dass die kürzeste Verbindung zweier Punkte eine Gerade ist, zu seinem Recht und den Reisenden Richtung Bahnhof zu etwas angenehmeren Fahrzeiten verhelfen. Ähnlich ist es mit Wahlmaschinen. Die Zeiten, in denen man mit langweiligen zwei Kreuzchen darüber entscheiden konnte, wer die nächsten vier Jahre die Herausforderungen dieses Landes vor sich her schiebt, sind endgültig vorbei. Wir leben im Zeitalter von Demokratie 2.0. Die Wähler können kumulieren und panaschieren - Verfahren, die den Wahlhelfern beim Auszählen der Stimmzettel arbeitsreiche und fehlerträchtige Stunden bescheren. Böse Zungen mögen behaupten, man könne einen Eimer Gülle noch so lange umrühren, es käme nie eine Bouillabaisse dabei heraus; nicht das Wahlsystem vergraule die Wähler, sondern eine Kaste von Despoten, deren Selbstwahrnehmung umgekehrt proportional zu ihrer Befähigung steht, die Schicksale eines Landes zum Besten zu wenden, doch diesen Spöttern sei gesagt: Ihr verkennt die Zeichen der Zeit. Politische Schwerstgewichte wie Thorsten Schäfer-Gümbel tummeln sich jetzt auf Twitter, Mein-VZ, Wer-kennt-wen und Facebook gleichzeitig. Die Kanzlerin daselbst wendet sich mittels Video-Podcast ans Volk. Wenn jetzt noch Wahlen übers Internet möglich werden, da werdet ihr erst einmal sehen, wie die Wahlbeteiligung durch die Decke schießt. Da werden Zahlen erreicht, wie sie unter unserem Führer und bei den Volkskammerwahlen nicht möglich waren. Vielleicht werden sie auch genau so überflüssig sein, weil im Prinzip ja schon vorher alles klar ist. Demoskopen, Experten also, die in den vergangenen Jahrzehnten bei ihren Prognosen so manchen Regierungswechsel schlicht verschlafen haben, wären froh, wenn sie ihre Umfrageergebnisse vor der Wahl in die Computer einspeisen und so die Realität wenigstens in die Nähe ihrer Zahlenspielereien bringen könnten. Außerdem könnte man endlich einmal eine vernünftige Statistik über Wählerwanderungen erstellen. Haben Sie sich nicht auch manchmal gefragt, woher Infas weiß, dass 33.976 männliche Elektriker über 45 mit Realschulabschluss bei der vergangenen Wahl von der CDU zur FDP gewechselt sind? Das wissen die gar nicht, das können sie gar nicht wissen, das steht nämlich auf dem Wahlzettel gar nicht drauf. Was Infas hat, sind parallel zur Wahl durchgeführte Befragungen, und ob da ein bis zur Schmerzgrenze angesäuerter Verwaltungsangestellter, der eben gerade der SPD gezeigt hat, wo der Hammer hängt, noch genug Herr seiner Sinne ist, um den Fragebogen von Infas sauber auszufüllen, steht in den Sternen. Anders wäre es freilich, wenn man sich mit seiner persönlichen Kennung bei www.bundestagswahl.de anmelden und dort seine Stimme abgeben kann. Was sich da alles an statistischen Daten gewinnen ließe - anonymisiert, versteht sich.
Wenn es um Sicherheit im Straßenverkehr geht, muss jedes einzelne Fahrzeug alle zwei Jahre von einem Experten begutachtet werden. Wenn es um Bagatellen wie den Fortbestand der Demokratie geht, reicht es aus, wenn sich ein Experte einmalig einen Prototyp ansieht.
Die Tatsache, dass sich auch die unterlegene Prozesspartei bei der Karlsruher Klage als Sieger fühlte, mag einerseits daran an der Schmerzfreiheit mancher Leute liegen, deren empfindichen Stellen man mit einem Morgenstern bearbeiten könnte, ohne dass sie dabei etwas empfänden, andererseits neigt das Bundesverfassungsgericht zu ausgesprochen salomonischen Urteilen. Zwar erteilen die Richter immer wieder gern für die Betroffenen ausgesprochen peinliche Nachhilfestunden in Demokratie, selten aber verwerfen sie eine Idee in Bausch und Bogen. So verboten sie nicht etwa die Onlinedurchsuchung grundsätzlich, sondern nur in der geplanten Form und ließen sie unter bestimmten scharfen Auflagen zu. Ebenso verboten sie nicht Wahlcomputer im Allgemeinen, sondern nur die bislang in Deutschland eingesetzten. Was wollten sie? Sie wollten, dass meine Oma begreift, wie Wahlen ablaufen.
Das Verständnis für technische Fragen endet bei meiner Oma irgendwo bei dem Brikettherd, mit dem sie bis in die Siebzigerjahre ihr Essen zu kochen pflegte. Sie unterscheidet sich damit nicht besonders von den meisten Einwohnern dieses Landes, nur sind die Wenigsten selbstkritisch genug, dies zuzugeben. Meine Oma hat erlebt, wie in zwei deutschen Diktaturen Wahlen abliefen, und seitdem will sie genau sicher sein, dass keiner Unfug mit ihrem Zettel baut. Sie hat viel Zeit, deswegen packt sie am Wahlsonntag einen Kuchen und eine Thermoskanne mit Kaffee ein und setzt sich ins Wahllokal. Das ist nicht etwa eine Schrulle von ihr, sondern ihr gutes Recht. Sie passt genau auf, wie jemand das Wahllokal betritt, seine Benachrichtigungskarte abgibt, sich im Verzeichnis abhaken lässt, den Stimmzettel bekommt, sich in die Kabine begibt und kurz danach seinen Zettel in die Urne wirft, worauf ein Helfer seine Strichliste ergänzt. Sie weiß: Die Häkchen auf der Strichliste, die ausgestrichenen Namen im Verzeichnis und die eingeworfenen Zettel müssen übereinstimmen. Einzig der Stapel der abgegebenen Karten darf etwas kleiner sein, wenn jemand nur seinen Ausweis dabei hatte, aber gute Wahlhelfer vermerken selbst dies, und dann stimmt auch diese Zahl. Den ganzen Tag sitzt meine Oma da und achtet darauf, dass niemand an der Urne herumspielt. Am Abend sieht sie zu, wie die Urne geöffnet wird und gibt Acht, dass kein Zettel verloren geht oder einer dazu kommt. Zettel - das begreift sie. Was man oben in die Urne hinein wirft, muss irgendwann wieder heraus kommen, und in der Urne sitzt bestimmt niemand, der heimlich die Kreuzchen ausradiert. Ganz anders ist es bei einem Wahlcomputer. Da drückt man auf eine Taste, und das Einzige, was man bekommt, ist die Meldung: "Ihre Stimme wurde erfasst."
"Ik wull di wat mit 'Stimme erfasst'", sagt meine Oma. "Düsse Kiste snackt veel wenner tach lang is."- "Aber die Experten...", wage ich einzuwenden, doch Oma schneidet mir das Wort ab. "Experten" - fast spuckt sie das Wort aus. "Di könn mi fix anne Hacken kleim. Wer geht denn nu wählen, die oder ik?"
Traditionell nimmt man hierzulande Veränderungen gegenüber eine distanzierte Rolle ein. Sei es die Einführung des Abgaskatalysators, die Verwendung fünfstelliger Postleitzahlen, der Computer, das Internet - reflexartig spult man Gründe ab, warum das alles ganz schlimm ist und dass es so etwas unter den Nazis auch schon gab. Entsprechend gerät auch das Bundesverfassungsgericht schnell in den Verdacht, neuer Technik gegenüber nicht gerade aufgeschlossen zu sein. Sei es das Urteil zur Volkszählung von 1983, das zur Onlinedurchsuchung von 2008 oder das zu Wahlmaschinen von 2009 - in allen drei Fällen schoben die Richter einem allzu sorglosen Umgang mit moderner Technik einen Riegel vor. Was aber ist der Unterschied zwischen der Karlsruher Technikskepsis und anderen Bestrebungen, die neuen Medien in den Griff zu bekommen, beispielsweise die von Ursula von der Leyen und Uwe Schünemann geforderten Zensurmaßnahmen?
Die Antwort ist einfach: Die Verfassungsrichter schauen erst ins Grundgesetz und fangen dann an zu reden. Genau das mag Wolfgang Schäuble an ihnen nicht. Das Leben als Politiker sei doch viel schöner, wenn man ohne Rücksicht auf Grund- und Menschenrechte einfach so drauf los regieren könnte, meint er. Im Gegensatz dazu hat man in Karlsruhe bereits vor einem Vierteljahrhundert eines begriffen: Computer sind nicht dazu da, den Menschen zu gängeln, sondern ihm mehr Freiheiten zu verschaffen. So hat man auch nicht die Volkszählung insgesamt verboten, sondern den Menschen die Freiheit gegeben, darüber zu entscheiden, was andere von ihnen wissen sollen. Man hat nicht die Onlinedurchsuchung insgesamt verboten, sondern den Menschen die Freiheit gegeben, in ihren vier Wänden und auf ihrem Computer unbeobachtet sein zu wollen. Man hat nicht Wahlcomputer insgesamt verboten, sondern den Wählern das Recht gegeben, jeden Schritt einer Wahl nachvollziehen zu können.
Die Freiheit haben wir also. Wir sollten sie nutzen.
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