Donnerstag, 31. Dezember 2015

Hacker auf dem Weg zur gesellschaftlichen Verantwortung

Das Thema "Verhältnis zwischen Hackern und dem Rest der Welt" zieht sich schon seit einigen Jahren durch den Congress. Behandelte der 27C3 mit "We come in peace" die vorsichtige Annäherung zur Nicht-Nerd-Sphäre, war der 28C3 mit "Behind enemy lines" schon skeptischer und sah die Hacker auf sich gestellt in einer für sie fremden Umgebung. Selbstkritisch forderte der 29C3 auf, sich zuständig zu fühlen, Verantwortung zu übernehmen. "Not my department" durfte nicht länger als Ausrede herhalten, die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, dass die Anderen schon irgendwie die Sache erledigen. Große Ratlosigkeit herrschte ausgerechnet auf dem Jubiläums-Congress 30C3, der ganz ohne Motto auskommen musste. Fast schon starr vor Entsetzen mussten die Hacker sehen, wie ihre Träume von einer besseren, freieren und menschlicheren Welt durch unkontrolliert marodierende Ermittlungs- und Geheimdienstbehörden zerstört wurden. Alle Versuche, den Nicht-Nerds zu vermitteln, dass die Aufgabe von Freiheit keineswegs mehr Sicherheit bringt, schienen gescheitert.

Natürlich durfte Resignation nicht den restlichen Lauf der Dinge blockieren, und so forderte der 31C3 mit "A new dawn", es noch einmal zu versuchen.

Es gehört schon fast zur Tradition des Clubs, das jeweils neue Motto erst einmal zu bekritteln, und so hub das Gejammer auch diesmal wieder an, als verkündet wurde, es ginge diesmal um "Gated communities". Die Einen hatten das Motto schlicht falsch verstanden und vermuteten, es ginge darum, neue abgeschottete Bereiche zu errichten, krittelten die Anderen, der Club habe es gerade nötig, Cliquenbildung anzuprangern, da gerade er es ist, der sich gern als die Elitenvereinigung aufführt, die mit den weniger tollen Leuten nichts zu schaffen haben will. Dass die Organisatoren sich dieses Umstands durchaus bewusst sein könnten und mit dem Motto auch intern einen Umbildungsprozess anstoßen wollen, schien ihnen komplett abwegig. So viel Selbstironie trauten sie ihnen nicht zu.

Selbstironie ist ohnehin nicht gerade die Stärke der Gutmensch_innenbewegung, die sich seit einigen Jahren mal mehr, mal weniger lautstark im Clubumfeld zu Wort meldet, erfolgreich die Piratenpartei kaputtgetrollt hat und beim 29C3 einiges unternahm, um die Veranstaltung zu kippen. Auch diesmal rumorte sie etwas vor sich hin und versuchte, sich an ihrem Lieblings-Hassobjekt Felix von Leitner abzuarbeiten, weil er es gewagt hatte, ihr heiliges Mantra "Check your privileges" als Titel eines Vortrags über Computersicherheit zu nehmen, in dem es um die saubere Rechtezuweisung bei Computerprogrammen ging. Wer die Stirn hat derartige Gedankenverbrechen zu begehen, ist nicht nur ein Antifeminist - war wir alle schon seit Jahren wissen -, sondern er ist sogar ein Antisemit - worauf auch immer sich diese steile These gründet. Nun mag Fefe nicht unbedingt der große Sympath sein, die teuflische Mischung aus Richelieu und Hitler, zu der ihn sene Gegner gern stilisieren, ist aber auch ein wenig viel der Ehre und verwechselt die Relevanz, die ihm eine relativ kleine Gemeinde zugesteht, mit realem Einfluss. Mehr noch: Wer sich seiner Sache so wenig sicher ist, dass ihn ein derart kleiner Seitenhieb komplett aus der Ruhe bringt, bestätigt von Leitners These, dass man solche Leute einfach nicht ernst nehmen kann.

Als der Congress vor drei Jahren zurück nach Hamburg zog, war man sicher, dass auf absehbare Zeit keine Platzprobleme auftauchen werden. Zu groß erschien das Gebäude, das man zu diesem Zeitpunkt nicht einmal komplett gemietet hatte. Inzwischen aber ist das ganze CCH vom Congress in Beschlag genommen. 12.000 Menschen bietet das Haus Platz, und auch das reicht nicht mehr. Die Dauertickets waren schon Wochen vor Veranstaltungsbeginn ausverkauft, und jeden Morgen stapelten sich im Foyer die Leute, die auf eine Tageskarte hofften. Kurz: Der Congress ist fast wieder da, wo er war, als er aus dem BCC auszog, und die würdelose Ticketlotterie vergangener Jahre wünscht sich hoffentlich niemand wieder zurück. Wenn der Club seinem Anspruch, abgeschirmte Gemeinschaften aufbrechen zu wollen, erfüllen will, musss er eine Möglichkeit finden, allen Leuten, die teilnehmen wollen, das auch zu ermöglichen. Niemand hat gesagt, dass dies einfach sein wird, aber wenn die Hacker wirklich so schlau sind, wie sie von sich glauben, sollten sie hier eine Lösung finden.

Einer der auffälligsten Versuche, Absperrungen zu überwinden, bestand in der Maßnahme, Toiletten nicht mehr nach Geschlechtern zu trennen, sondern nach der Frage, ob man sitzen oder stehen wolle. Wer schon einmal bei Großveranstaltungen erlebt hat, wie schlecht Loadbalancing auf geschlechtergetrennten Toiletten funktioniert, wird schon aus reinem Pragmatismus diese Idee begrüßen. Da aber in einem akademisch geprägten Umfeld selbst so banale Dinge wie die Entsorgung körperlicher Abfallprodukte ideologisch aufgeladen und diskutiert werden müssen, wurde auch hieraus gleich wieder ein Genderthema - was auch prompt diegenigen auf den Plan rief, deren Ratio beim Wort "Gender" in den Hibernate-Modus schaltet und zur Debatte führte, wie denn nun ideologisch korrekt uriniert wird. Um es mit einer in der Szene kursierenden Redewendung zu sagen: "Das kannste schon so machen, aber dann isses halt Kacke."

A propos Toilette: Der Congress hat aus den Erfahrungen der letzten Jahre gelernt und der Congress-(Magen-Darm-)Grippe den Kampf angesagt, die auf dem 31C3 scharenweise Leute aus dem Verkehr gezogen hatte. Wenn 12.000 Menschen sehr eng zusammen hocken und einige von ihnen ein massives Problem mit Körperhygiene haben, breiten sich Krankheiten explosionsartig aus. Eine sehr einfache und gleichzeitig sehr wirksame Gegenmaßnahme besteht im regelmäßigen Händewaschen, insbesondere vor dem Essen. Darüber hinaus sollte man nichs essen, von dem unklar ist, wer es vorher in den Händen und was er vorher angefasst hatte. Daran hielten sich offenbar viele Congressbesucherinnen, und so gab es in diesem Jahr keine größeren Zwischenfälle zu registrieren.

Rückblickend auf das Jahr 2015 fiel häufiger der Begriff "Katastrophenjahr". Die Vorratsdatenspeicherung wurde alle Einwände ignorierend wieder eingeführt, dafür wurde die Netzneutralität abgeschafft. Nach den Pariser Anschlägen greift Terrorhysterie um sich, und Regierungen begrüßen dankbar jede Gelegenheit, ihre Macht auszuweiten. Mündige Völker waren schon immer eine dumme Idee. In Diktaturen laufen Dinge viel geordneter.

Doch ganz so düster ist die Lage auch wieder nicht. Die Erfolge sind vielleicht nicht so strahlend wie damals, als die Vorratsdatenspeicherung erstmals in Deutschland verboten wurde, aber sie sind da. So stellte sich beispielsweise heraus, dass man nicht einfach kritische Journalisten des Landesverrats bezichtigen und ins Gefängnis stecken kann. Der Generalbundesanwalt, der jahrelang die durch den BND begangenen Grundrechtsverletzungen ignoriert hat, aber gegen die Blogger von Netzpoltik.org die ganz große Keule herauskramen zu müssen meinte, hatte die Heftigkeit der öffentlichen Reaktion offenbar unterschätzt und musste seinen Posten räumen.

Ein weiterer Erfolg ist die Ausbreitung des Freifunks - so traurig auch der Anlass sein mag. Die große Menschenmenge, die in den vergangenen Monaten aus ihrer Heimat flüchten musste und hier in Massenunterkünften notdürftig untergebracht wird, hat neben unmittelbaren Bedürfnissen wie denen nach Essen und einem Bett auch andere, nicht ganz so offenbare, aber dennoch dringede wie die nach Kommunikation. Diese scheitern aber oft an bürokratischen Hürden. Die öffentliche Hand könnte einfach einen Stapel WLAN-Router kaufen und sie in den Heimen aufstellen, aber die Angst vor der Störerhaftung ist zu groß. Hier schaffen die Freifunker einfach Fakten, indem sie ohne lange Absprache mit ihrer Hardware auftauchen und den Heimbewohnerinnen freies WLAN mit minimalen rechtlichen Risiken ermöglichen. Es ist ein klassischer Hack: Die Heimverwaltung ist froh, dass die Freifunktechnik die Störerhaftung umgeht, die Freifunker sind froh, dass sie ihr freies, unzensiertes Netz erweitern können. Wer weiß, wie bald wir es brauchen werden.

Schließlich hat der Bundestag den Routerzwang aufgehoben. Das ist in mehrfacher Hinsicht eine positive Überraschung, weil man sich kaum vorstellen kann, dass außerhalb der Gruppe der Hardcore-Nerds überhaupt eine nennenswerte Menge Menschen existiert, die sich am Routerzwang stört.

Der Anspruch, aus den eingezäunten Grüppchen auszubrechen, ist selbst innerhalb der Hackergemeinde nicht unumstritten. Man muss nur über das Congressgelände gehen und darauf achten, welche Gruppen ihre Tische offen und für Außenstehende einladend aufgebaut haben und wer sich hinter Barrieren und Stellwänden verschanzt hat. Insgesamt aber scheint der einladende Charakter des Congresses zu überwiegen. Immerhin stieg seine Besucherinnenzahl seit der Rückkehr nach Hamburg jährlich um 3.000 Menschen. Zieht man von den 12.000 Leuten, die sich auf dem 32C3 trafen, die 6.000 Clubmitglieder ab, die maximal anwesend gewesen sein können, bleiben weitere 6.000, die der Club darüber hinaus anlocken kann. Man merkt auch am Medieninteresse, dass der Congress wahrgenommen wird. Das mag teilweise der traditionell nachrichtenarmen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr geschuldet sein, es ist aber wohl auch due besondere Atmosphäre der Veranstaltung. Zum Einen dürfte es kaum eine Veranstaltung geben, die von ihren Teilnehmerinnen so liebevoll und bis ins Detail optisch gestaltet wird. Das fängt bei den zigtausend Deckenleuchten an, die jede einzeln mit bunter Folie abgeklebt werden und hört beim raumschiffartig gestalteten Tunnel zum Hackcenter nicht auf. Zum Anderen sind es die Besucherinnen selbst, die den Congress auszeichnen. 12.000 Menschen bergen ein großes Konfliktpotential, aber wirklich schlimmen Ärger gibt es nicht. Das zeigt sich unter anderem daran, dass immer noch viele verwaiste Laptops herumstehen, deren Besitzer nicht befürchten, dass den Geräten etwas zustößt. Das zeigt sich aber auch daran, dass die veranstaltungseigne "Security" gerade einmal aus einer handvoll Nerds besteht, deren Auftauchen allein schon so viel Respekt einflößt, dass Hausverbote in all den Jahren zur absoluten Ausnahme gehören. So etwas wie Körperkontrollen oder Taschendurchsuchungen ist völlig undenkbar. "Be excellent to each other", ist keine leere Phrase. Sie wird auf dem Congress gelebt.

So nimmt die Gemeinde den Congress auch zum Anlass, sich selbst zu feiern. Das Gefühl, dem Rest der Menschheit ein paar Jahre voraus zu sein, kann man überall spüren, und so unbescheiden dieses Selbstbild auch sein mag - es ist nicht unbegründet. Wer sich so wie der CCC seit über 30 Jahren nicht nur mit der Technik selbst, sondern auch mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen beschäftigt, hat einige Dinge begriffen, die dem Rest noch nicht klar sind. Doch statt sich nun in ihre Hackspaces zurückzuziehen und mitleidig auf die restliche Welt zu blicken, die noch nicht so weit ist, fordert das Motto des 32C3 dazu auf, hinaus zu gehen, und aus der gesellschaftlichen Relevanz, die man unbestritten inzischen hat, auch gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. So peinlich die Frage des Innenministers nach einer "Notfallnummer" des CCC war - der zugrunde liegende Gedanke, es reiche nicht aus, einmal jährlich in den "Security Nightmares" auf Missstände hinzuweisen, sondern man müsse auch konstruktiv eingreifen, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Frage ist nur, wie dieser Beitrag genau aussehen soll.

Es ist ja nicht so, als hätte der Club vor allem nach dem Schockerlebnis des KGB-Hacks nicht immer wieder versucht, in den demokratischen Diskurs einzugreifen. Teilweise geschah dies mit weit reichenden Folgen, wie beispielsweise den Gutachten vor dem Bundesverfassungsgericht in den Verhandlungen gegen die Vorratsdatenspeicherung, Wahlcomputer und Onlinedurchsuchung. Doch die Rolle des Clubs ist eher eine reaktive. Irgendwer verschusselt es, und der CCC muss wieder eingreifen, um die Sache zu richten. Besser wäre es natürlich, schon weiter vorn im Prozess, bei der demokratischen Willensbildung einzugreifen, aber genau da weiß inzwischen niemand, wie das funktionieren soll. Der Versuch, mit der Piratenpartei eine Art parlamentarischen Arm des Clubs zu schaffen, ist grandios gescheitert. Die heillos zerstrittene Partei spielt allenfalls in irgendwelchen Ratsversammlungen noch eine Rolle. Spätestens auf Landsebene warten die wenigen verbliebenen Mandatsträger darauf, bei der nächsten Wahl ihren Sitz zu verlieren. Gründe dafür gibt es viele, und die schöne Selbstillusion, man werde von den Medien absichtlich ignoriert, lenkt wohlfeil vom eigenen Versagen ab und klingt schon arg nach "Lügenpresse". Die wahren Ursachen reichen von einer zu raschen Expansionsphase, in deren Verlauf man sich auch jede Menge Idioten und Karrieristen eingetreten hat, über eine unzureichende Diskussionskultur bis hin zur ernüchternden Erkennnis, dass politisches Tagesgeschäft ganz schön öde sein kann. Am Ende stehen tausende verbrannte Aktivisten, die vor allem eins wissen: nie wieder eine Parteineugründung.

Der naheliegendste Weg zur politischen Einflussnahme führt in diesem Land eindeutig durch die Parlamente. Dummerweise ist das auch genau der Weg, der sich für die Nerdgemeinde als ungeeignet erwiesen hat. Vielleicht gibt es eine Chance für eine Piratenpartei 2.0, aber dazu müsste man mehr als nur ein paar Feinjustierungen am zuletzt gescheiterten Versuch vornehmen. Das Problem ist struktureller Natur und lässt sich nicht dadurch lösen, dass man das nächste Mal andere Leute in den Vorstand wählt und auf dem Liquid-Democracy-Server die aktuellen Patches einspielt.

Nun ist die Aufgabe, dass der direkte Weg nicht funktioniert und man es deswegen über einen Umweg versuchen muss, eine klassische Herausforderung des Hackings. Ich bin gespannt, wie die Lösung aussehen wird.

Montag, 21. Dezember 2015

Ich will nicht das sein, was ich bin (Du darfst)

Die Aufregung war groß: Eine Farb-äh Schwar-äh Person-of-Colour-Bürger*innenrechtsaktivistin wurde bezichtigt, genetisch gesehen eben nicht farb-äh schwar-äh person-of-colour zu sein. Sowas geht ja nun überhaupt nicht. Man versprach uns rassisch einwandfreie Aktivistinnen. Da half es auch nichts, dass die Betroffene erklärte, sie fühle sich nun einmal als Farb-äh, Schwar-äh, Person of Colour, nein, sie musste von ihren Ämtern zurücktreten.

Die sonst um theatralische Aufschreie nicht verlegene Bürger*innenrechtsbewegung hielt sich auffallend zurück, was die Kommentierung dieses Vorgangs anging, und das verwundert nicht, berührt er doch eine unangenehme Frage: Wie weit darf ich Leuten zugestehen, nicht ihre genetische Disposition haben zu wollen, sondern sich eine andere zu wünschen und sich entsprechend zu verhalten?

Seit Jahrzehnten herrscht beispielsweise Einigkeit darüber, dass Gene allein nicht darüber entscheiden dürfen, ob man nun ein Mann oder eine Frau ist. Wenn ein Mann sich als Frau fühlt (oder umgekehrt), ist es im Wesentlichen egal, was der eigene Körper äußerlich darstellt. Im Extremfall erkennt die Krankenkasse die Situation sogar an und zahlt die Operationskosten sowie die Medikamente, um den Körper dem Geist anzupassen.

Bis hierhin ist die Lage relativ einfach. Wenn sich jemand einen anderen Körper wünscht, steht es uns nicht zu, darüber zu richten. Es betrifft uns nicht, es schadet uns nicht, warum also sollten wir ihm oder ihr diesen Wunsch verwehren? Komplizierter wurde es in den vergangenen Jahren, als sich herausstellte, dass es Leute gibt, die sich in der Geschlechterfrage nicht eindeutig festlegen wollen. "Na komm", mögen viele denken. "es kann ja nun wirklich nicht so schwer sein, sich in dieser Hinsicht irgendwann einmal zu entscheiden", doch dem Anschein nach ist es nicht nur schwer, die Betroffenen legen auch großen Wert darauf, auf  diesen Umstand möglichst oft und lautstark hinzuweisen. So wurde zwischenzeitlich Facebook um eine Möglichkeit erweitert, im Profil neben männlich und weiblich auch noch diverse andere Fälle einzutragen. Letztlich gilt auch hier: Es schadet niemandem, also gut, dann lass sie halt gewähren, auch wenn sie sich häufiger mal umentscheiden, ist das ihre Sache.

Die für ihren grob austeilenden Stil bekannte Zeichentrickserie Southpark hat sich vor einigen Folgen der Sache angenommen. Angewidert von den ständig überfüllten und verdreckten Jungentoiletten behauptet Cartman, sich als Mädchen zu fühlen und beansprucht folgerichtig, deren deutlich weniger frequentierten und saubereren Toiletten benutzen zu dürfen. Die Schule geht zwar von einem weiteren Bluff des Jungen aus, fürchtet aber die öffentliche Auseinandersetzung, die entstünde, entsprächen sie seinem Wunsch nicht und richten schließlich nur für ihn eine eigene Toilette ein.

So bizarr die Geschichte auch erscheinen mag, sie lehnt sich an tatsächliche Ergeignisse an. Wie üblich, hat natürlich die Realität schon längst die Satire überholt. In den USA gibt es inzwischen den Fall eines Schülers, der als Mädchen geboren wurde, sich aber als Junge fühlt, daraufhin eine eigene Toilette gestellt bekommt und sich nun über genau diese Sonderbehandlung beschwert. er fühle sich diskriminiert, wenn er nicht die Toilette benutzen darf, die er für sich angemessen findet.

Wer bis hierhin zustimmend nickt und meint, im Prinzip sei das alles zwar schon etwas skurril, aber als tolerante Menschen müssten wir schon irgendwie damit klarkommen, sollte dann aber auch keine Schwierigkeiten damit haben, wenn sich jemand als Person of Colour fühlt und entsprechend behandelt werden möchte. Ob Geschlechter- oder Hautfarbenfrage, das darf nun wirklich keine große Rolle spielen. In der Konsequenz ist es doch nur verständlich, wenn eine selbst ernannte Person of Colour sich gegen die Diskriminierung einsetzt, der sie sich nicht ausgesetzt sähe, hätte sie nicht den unbändigen Wunsch verspürt, eben dieser Gruppe anzugehören. Böswillig gesagt: Sie will für ihr Blackfacing auch noch gemocht werden.

Sie sei nicht etwa Person of Colour, sondern schlicht und einfach verrückt, heißt es aus ihrem Umfeld, aber auch diese Erklärung erscheint mir nicht konsistent. Warum bezeichnen wir eine mit ihrer Hautfarbe unglückliche Frau als geistesgestört, aber wenn sie das Geschlecht wechseln wollte, hätte sie unsere gesamte Solidarität? Selbst wenn es verrückt wäre, warum tolerieren wir die eine Verrücktheit, nicht jedoch die andere?

Insgesamt birgt der an sich sinnvolle Ansatz, die Gefühle anderer Leute ernst zu nehmen, einige Fallen. Das zeigt sich beispielsweise bei der Frage, was sexuelle Belästigung ist. Der Gesetzgeber neigt hier dazu, genau zu definieren, welche Handlungen noch zulässig sind und welche nicht. Jetzt argumentieren unter anderem Feministinnen völlig zu recht, das könne man nicht pauschalisieren, die Frage, ob sie sich belästigt fühle, müsse jede für sich selbst beantworten. Das klingt zunächst einleuchtend, führt aber gerade, wenn es zum Strafprozess kommt, in eine Situation, die wir seit den Zwölftafelgesetzen eigentlich abgeschafft haben wollten: zur Willkürjustiz. Das sich als solches fühlende Opfer wird zur Richterin, es gibt keine neutrale, über den Sachverhalt entscheidende Instanz mehr, allein das Gefühl der Klägerin zählt.

Wer diese, Jahrhunderte juristischer und humanistischer Überlegungen geschmeidig über den Haufen werfende Argumentation akzeptiert, sollte erst recht keine Schwierigkeiten damit haben, wenn eine Nicht-Person-of-Colour sich als Person-of-Colour fühlt, aber seltsamerweise höre ich diese Argumentation im Moment selten.

Insgesamt scheint die Argumentation, wer sich wann warum als was zu fühlen habe, stark vom gerade verfolgten politischen Ziel abzuhängen. So zählen die Bloggerinnen von "50 Prozent" seit Jahren penibel den Anteil von Männern und Frauen auf den Referentenlisten verschiedener Veranstaltungen. Erste Frage: Was ist eine Frau? Antwort: "Mit Frauen* meinen wir alle, die sich selbst als Frau verstehen." Zweite Frage: Wie findet ihr heraus, welche Person auf einer Namensliste sich als Mann, welche als Frau versteht, und überhaupt: Ist diese Unterscheidung nicht aufs Diskriminierendste grob? Darüber schweigt das Blog auffallend, genauso wie zu Fragen mathematischer Grundlagen, die das wohlige Gefühl stören könnten, sich als Opfer_in zu fühlen und damit alle widerfahrende Unbill nicht etwa der eigenen Unfähigkeit, sondern der verschworenen Umwelt anlasten zu können. So hingegen wird einfach eine Namensliste abgeklappert und nach Gutsherr*innenmanier entschieden, wer darauf sich als Frau oder als Mann zu fühlen habe. Ebenso ausgeklammert wird der Aspekt, wo sich der Anteil von Frauen oder Männern bei den Einreichungen zu einer Konferenz bewegt. Gab es beispielsweise zwei Plätze zu vergeben mit 10 Einreichungen von Männern sowie einer Frau, wurden bei paritätischer Verteilung 90 Prozent der Männer abgelehnt, während 100 Prozent der Frauen angenommen wurden. Auf einmal lautet dann die Frage nämlich nicht mehr, warum das fiese Programmkomitee Frauen diskriminiert, sondern warum so wenig Frauen sich ermutigt fühlten, für die Konferenz etwas einzureichen. Während man am ersten Symptom mit einer Quotenregelung noch irgendwie herumfrickeln kann, ist es sehr viel schwieriger, am zweiten Symptom etwas zu ändern.

Die Idee, den Begriff "Geschlecht" vollkommen von biologischen Zwängen abzukoppeln, mag uns auf der gesellschaftlichen Blümchenwiese ein paar verträumte Stunden einbringen, letztlich bettelt diese Idee aber geradezu darum, missbraucht zu werden. Eine Konferenz hat eine Frauenquote? Wunderbar, bei Einreichungen fühle ich meine weibliche Seite immer besonders stark. Zu anderen Anlässen krame ich dann wieder den Mann in mir hervor. Beschwert sich jemand, weise ich entrüstet darauf hin, wie diskriminierend und rückständig es doch ist, Menschen ein für allemal auf ein Geschlecht festlegen zu wollen, ich hätte schon genug darunter zu leiden, die Varianz meiner Identitäten nicht frei leben zu können, und dann werde ich auch noch zutiefst traumatisiert, indem man mir gewaltsam ein Geschlecht aufnötigen wolle.

Es kommen unterhaltsame Jahre auf uns zu.

Montag, 14. Dezember 2015

Facebook und die Links-Pegida

Wer wissen will, was genau bei der politischen Linken schief läuft, muss sich einmal in deren Niederungen begeben. Dorthin, wo falsches Gendern fast schon ein Todesurteil bedeutet. Dort, wo extrem rechts und extrem links sich vor allem darin unterscheiden, dass die Linken das mit den Nebensätzen besser begriffen haben. Dort, wo die linke Pegida sitzt: bei "Linksunten".

Da ist man neuerdings ganz stolz darauf, Facebook "gehackt" zu haben. Wer jetzt meint, da hätten sich ein paar findige Köpfe gefunden und nach Analyse des Seitencodes sowie der verwendeten Infrastruktur eine Sicherheitslücke genutzt, um in die Systeme einzudringen, dort sensible Daten abzugreifen oder auf der Startseite ein wenig Schabernack zu treiben: weit gefehlt. "Linksunten" ist eher was für die schlichten Gemüter, da muss es "mit reichlich Steinen und Farbe" zugehen, mit denen man "in der Hamburger Innenstadt (Caffamacherreihe 7) die Glasfront der Deutschlandzentrale von Facebook 'zerhackt'" hat. Ganz stolz präsentiert die Seite auch gleich ein Foto, versehen mit reichlich Revolutionslyrik, in der es mal gegen Google, mal gegen Facebook, gelegentlich auch gegen Twitter, AirBnB und Uber geht - ach, im Prinzip ist nach eigenen Angaben das ganze "Netz kaputt".

Was genau soll die Nummer in Hamburg noch einmal gebracht haben? Oh, ja, "Mit Rauch haben" die linken Aktivist*innen "die Cops der nur 70 Meter entfernten Polizeiwache im Nebel gelassen." Und das bewirkt jetzt was? "Die Unternehmensführung von Google war empfindlich getroffen." Weil ein paar Bekloppt_innen Steine und Farbe auf eine Häuserwand werfen? Ach nein, das war eine andere Aktion, gegen Google nämlich, "gegen den astronomischen Anstieg der Wohnkosten im Umkreis der Haltestellen dieser Shuttle-Busse, die jeden Morgen Tausende Google-Mitarbeiter*innen aus der Umgebung von San Francisco zum Unternehmenssitz im Silicon Valley bringen". Ja, aber was sollte die Nummer in Hamburg, bei Facebook? "Mark Zuckerberg ist letzte Woche mit Anfang 30 in Elternzeit gegangen." Wegen der Steineschmeißerei? Nein, das war später. Um es vorweg zu nehmen: Das eigentliche Ziel bleibt den ganzen Text hindurch unklar. Nur einmal schimmert ein Hauch von Begründung auf, als die "Times of India" erwähnt wird, die sich aus einem von Facebook initiierten Projekt zurückgezogen hat, das ein vom Konzern kontrolliertes Pseudo-Internet in die unterversorgten Gebiete Indiens bringen sollte.

Für Leute, die wie die Schnullernazislink.innen von "Linksunten" eine Mikrometerschraube brauchen, um ihren IQ zu messen: Wer in Hamburg die Wand eines Bürogebäudes beschädigt, beeindruckt damit Facebook nicht im Geringsten. Leute, wir haben schon vor 30 Jahren ganz ähnliche Nummern gegen Banken gesehen, und die hat das kein Stück beeindruckt. OK, ein paar von denen hat es inzwischen zerlegt, aber nicht wegen der kaputten Fenster in den Achtzigern, sondern von innen heraus, weil ein paar Excelsheet-Ausfüller mit BWL-Abschluss zu blöd sind, mit Geld umzugehen und dabei mehr Kapital vernichtet haben als sämtliche SPD-Regierungen seit Bestehen der Bundesrepublik zusammen. Springer, genauer genommen "Bild" hat gewaltige Schwierigkeiten mit seinen Auflagezahlen, aber auch das ist nicht das Ergebnis der Anti-Springer-Proteste der Achtundsechziger, sondern die Folge davon, dass kein Mensch mehr Zeitungen liest, wenn er viel aktuellere Informationen im Internet findet.

Wenn ihr Facebook angreifen wollt, müsst ihr Infrastruktur angreifen, und die sieht so aus. Das sind so genannte Rechenzentren. Viel Zaun und bemerkenswert wenig Fenster, nicht wahr? Warum? Weil Computer_innen nicht nach draußen gucken müssen. Weil fensterlose Räume viel leichter gekühlt werden können als welche mit Fenstern. Weil man nicht vorhandene Fenster nicht einschmeißen kann. Von Gebäuden dieser Art betreibt Facebook weltweit ein ganzes Bündel, davon einige in Ländern, in denen man auf Revoluzzerspielchen deutlich weniger entspannt reagiert als hier, aber dort habt ihr wohlweislich keine Steine geschmissen.


Leute, wenn ihr Facebook so unfassbar doof findet, dann nutzt den Kram doch einfach nicht.

Oh, aber da wären noch die knapp 1,4 Milliarden Menschen, die das anders sehen. Wie wäre es, wenn ihr erst einmal die dazu bekämt, ihr Handeln zu überdenken. Ach nein, das wäre ja Arbeit. Das wäre demokratisch. Steineschmeißen ist viel lustiger, viel heroischer.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es gibt viele gute Gründe, Facebook nicht zu nutzen, und eine ganze Reihe davon tauchen im Linskunten-Artikel auf. Wer glaubt, dagegen etwas mit Farbe und Steinen gegen eine Hamburger Hauswand etwas ausrichten zu können, glaubt wahrscheinlich auch, etwas gegen die Klimaerwärmung zu unternehmen, indem er beim VW-Händler ein paar Reifen aufschlitzt. Nein, gegen eine Webseite geht man nicht mit Steinen vor, sondern politisch. Da ist die Sache nicht mit fünf Minuten Steineschmeißen und dann wegrennen erledigt, sondern da muss man argumentieren, die eigene Position zu hinterfragen bereit sein, Anderen zuhören, Mehrheiten erlangen,

Mal sehen, ob ihr das auch könnt.

Mittwoch, 25. November 2015

Weißer Nicht-Terrorismus

In Zeiten der Terrorhysterie fällt es schwer, die Finger von der Tastatur fern zu halten, zu groß ist der Wunsch, sich sein Warholsches Viertelstündchen Ruhm durch Schreiben eines total intelligenten Kommentars abzuholen. Dummerweise ist das Meiste, was es zu diesem Thema zu sagen gibt, schon gesagt. Da ist die Versuchung groß, einfach ein paar Fakten zu erfinden und sich mit der twittereigenen Theatralik darüber zu echauffieren. Zum Beispiel wäre da die vermeintliche Tatsache, dass Terroranschläge nur dann Terroranschläge genannt werden, wenn Nicht-Weiße sie verüben. Organisationen wie der Ku-Klux-Klan hingegen bekämen andere Attribute wie "Widerstandsorganisation" oder "Separatisten".

OK, wenn ich das mal umformulieren darf: Ihr seid sogar zu blöd, Google zu benutzen.

Schauen wir doch einmal nach: Rote Armee Fraktion - Weiße. Die ETA - Weiße. Rote Brigaden - Weiße. Wehrsportgruppe Hoffmann - sowas von weiß. Vorgang begriffen? Suchmaschine aufrufen, das gewünschte Land und "Terrorismus" eingeben, nachsehen, was rauskommt.

"Ja, also nee, das ist ja mal wieder typisch. Ich sag nur: Äpfel und Birnen. Die RAF und die Roten Brigaden zum Beispiel, das waren Stadtguerllia, die ETA sind Separatist*innen. Bei der Wehrsportgruppe, OK, da kann man diskutieren, aber was ist mit den Anschlägen auf Asylbewerber_innenheime, das war ja nun ganz klar Terrorismus."

Ach, auf einmal gibt es ihn also doch, den weißen Terror.

"Neenee, das nenne nur ich ja so, in der Lügenpr- äh, in den Mainstreammedien heißen die natürlich anders."

Merken Sie jetzt, worin die eigentliche Schwierigkeit besteht? Bereits im Jahr 2001 wurde mehrfach darauf hingewiesen: Es gibt keine einheitliche, allgemein anerkannte Definition des Begriffs "Terrorismus". Jeder dengelt sich die Definition so hin, wie sie gerade ins eigene Weltbild und Argumentationsschema passt. Es kann also, wie in diesem Beispiel gezeigt, durchaus passieren, dass die Einordnung, was noch als Terrorismus zu werten ist und was nicht, abhängig vom Beobachter und dessen gerade verfolgter Argumentationsstrategie variiert. Das nennt sich "selektive Wahrnehmung", sollte irgendwann während der Schullaufbahn einmal als Begriff gefallen sein. Wenn ich rumjammern will, dass "Terrorismus" in rassistischer Weise verwendet wird, dann google ich mir halt genau die Artikel zusammen, in denen Terrorakte von Weißen nicht also solche bezeichnet werden. Weist mich jemand auf den überwiegend von Weißen verübten Europäischen Links- und Nationalterrorismus hin, krame ich die Definitionen raus, welche diese in meinen Augen gerechtfertigten Terrorakte mit anderen Begriffen wie "Separatismus" oder eben "Stadtguerrilla" bezeichnen. Rechtsterrorismus hingegen, ja das ist echter Terrorismus, aber um nicht in Widerspruch zu meiner Eingangsthese zu geraten, google ich so lange herum, bis ich nur Artikel habe, die um rechten Terrorismus beschönigend herumreden.

Um es mit Volker Pispers zu sagen: Schön, wenn man ein klares Weltbild hat, dann hat der Tag Struktur.

Sonntag, 22. November 2015

Terrorhysterie könnte Sie verunsichern

3.377 Tote allein in Deutschland. Im Jahr 2014. Es ist offensichtlich: So frei und liberal, wie unsere Gesellschaft bisher war, gibt sie zu viel Raum für Menschen, welche diese Freiheit missbrauchen. Sie fordert den Extremismus geradezu heraus. Es wird Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Dieser Preis für unsere Freiheit ist zu hoch. Wir brauchen endlich schärfere Gesetze, mehr Kontrollen und flächendeckende Überwachung, um dem Einhalt zu gebieten. Ich weiß, die Paranoiker und Bürgerrechtsromantiker werden jetzt wieder reflexartig herunterspulen, dass man Sicherheit und Freiheit nicht gegeneinander aufwiegen darf, dass wir am Ende beides verloren haben werden: Freiheit und Sicherheit, aber jeder, der sich nüchtern die Fakten anschaut, wird zugeben, dass etwas unternommen werden muss. Immerhin geht es hier um Menschenleben, und wenn auch nur eines gerettet werden kann, sollten wir als Gesellschaft bereit sein, diese geringfügigen Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Die Meisten trifft es sowieso nicht. Das Signal hingegen wird ein deutliches sein: Ein wehrhaftes Volk nimmt es nicht länger tatenlos hin, wie skrupellose Fanatiker wahllos töten.

Gratuliere, Sie haben eben Tempo 100 auf Autobahnen zugestimmt.

"Ja, also, nee, das ist ja was Ganz Anderes. Man darf nicht Äpfel mit Birnen- freie Fahrt für freie Bürger*innen. Einself."

3.377 Verkehrstote im Jahr 2014 in Deutschland. Das ist ungefähr 25mal Paris, also etwa alle zwei Wochen ein Terroranschlag dieser Größenordnung. Sehen Sie deswegen massenweise in den Nationalfarben gehaltene Twitter- und Facebook-Avatare? Gibt es dazu auch nur einen ARD-Brennpunkt? Wann hat die Bundesregierung anlässlich eines Verkehrsunfalls zuletzt landesweit Trauerbeflaggung angeordnet? Ruft die Kanzlerin den Notstand aus? Findet auch nur eine Zeitung dazu mehr als ein paar nüchterne Zeiten im Lokalteil? Wo ist das sozialmediale Wetteifern um den betroffensten Tweet, das trauerndste Facebook-Posting? Wer bleibt angesichts dieser furchtbaren Todesdrohung daheim und schreibt schwülstige Blogbeiträge über das Klima der Angst, das über der Nation liegt? Wo bleibt die Forderung der CSU, alle BMW-Fahrer vorsorglich in Haft zu nehmen, besser noch: des Landes zu verweisen?

Na gut, man kann den Leuten nicht vorschreiben, welche Emotionen sie haben sollen. Trotzdem befremdet mich die Hysterie, Planlosigkeit und Dummheit, mit der die die Meisten gerade auf die Anschläge reagieren. Besonders befremdet mich das unprofessionelle Verhalten des Bundesinnenministers.

Dass sein Vorgänger Friedrich mit schon fast mitleiderregender Trottelhaftigkeit durchs Amt stolperte, muss an dieser Stelle nicht wieder ausgewalzt werden. Von de Maiziere war man aus dessen erster Amtsperiode allerdings Besserers gewohnt. Er galt nicht gerade als liberal, aber sachkundig und besonnen. Was er sich aber als Krisenmanager nach den Pariser Anschlägen leistete, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man in solchen Situationen auf keinen Fall handeln sollte:

  1. Den Mund ordentlich voll nehmen. Noch hat man keine Ahnung, worum es eigentlich geht, aber das Fußballspiel des deutschen Nationalteams gegen das niederländische findet statt. Als Zeichen, dass sich die freie Welt nicht  dem Terror beugt.
  2. Nachdem man so richtig doll die dicke Hose markiert hat, hastig zurückrudern und das Spiel doch absagen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich finde es völlig in Ordnung, eine Gefahr als so konkret einzuschätzen, dass man eine Veranstaltung absagen lässt. Ich möchte im Zweifelsfall auch nicht in der Haut desjenigen stecken, der nach einem Anschlag erklärt, warum man ihn nicht verhindert hat, wenn die Hinweise doch so deutlich waren. Ich hätte allerdings vorher nicht den Fehler begangen, das Ereignis zum Fanal gegen den Terrorismus zu stilisieren. So hingegen sendet die Absage nur eine einzige, dafür aber besonders klare Botschaft: Der Terrorismus ist stärker als die Demokratie.
  3. Das allerletzte, wozu ich mich hinreißen ließe, wäre eine Pressekonferenz, bei der ich diese an Dummheit nicht zu überbietenden Sätze fallen ließe: "Die Quelle und das Ausmaß der Gefährdung möchte ich nicht weiter kommentieren." [...] "Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern." Auf keinen Fall bäte ich dann noch die "deutsche Öffentlichkeit um einen Vertrauensvorschuss".
Noch einmal zur Klarstellung: Der Mann ist Bundesinnenminister, nicht der Zugführer der Freiwilligen Feuerwehr Ingeln-Össelse. Er ist seit Jahren im Geschäft. Er ist Profi. Wenn er gesagt hätte, zum derzeitigen Zeitpunkt könne er aus ermittlungstaktischen Gründen nicht ins Detail gehen, hätten das alle verstanden. Sich vor die Presse zu stellen, herumzuposen, wie wahnsinnig wichtige und geheimnisvolle Geheimerkenntnisse man als Innenminister doch zugesteckt bekommt, aber das sei natürlich nichts für das dummelige Fußvolk, das derart brisante Neuigkeiten nur verunsichern könnte, erinnert mich vor allem an die sonnenbebrillten Cops in US-Spielfilmen, die breitbeinig vor einer Absperrung stehen, hinter der gerade die Wutz tobt und mit gewichtiger Stimme verkünden es gäbe nichts zu sehen, man solle ihnen vertrauen und weitergehen.

OK, es geht noch dümmer als de Maiziere. Beispielsweise hat sich ein gewisser Alan Posener zu Wort gemeldet und verkündet, ein Krieg, so ein richtig schicker Krieg, der sei es, mit dem man dem Muselmann zeigen könne, wo es langgeht: "Man kann mit einem Krieg nämlich viele Terroristen töten, was eine gute Sache ist. [...] Man kann den Terroristen zeigen, dass wir viel stärker sind als sie, was eine gute Sache ist und Möchtegern-Terroristen abschrecken dürfte, was auch eine gute Sache ist."

Für alle, deren IQ leider nur reichte, um ein paar Artikel für die "Welt" zusammenkritzeln zu dürfen: Die Erfolgsstatistik von Kriegen ist miserabel. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen haben sie keine Probleme gelöst, sondern allenfalls dafür gesorgt, dass der Gegner sich eine Weile lang nicht rühren konnte. Besonders schlecht hingegen sieht die Bilanz aus, wenn Kriege gegen Terroristen geführt wurden. Das hat die Sowjetunion gegen die Taliban in Afghanistan versucht - und verloren. Deswegen haben es die USA gleich darauf noch einmal probiert - und haben die Sache nicht im Griff. Die USA waren im Irak - nicht einmal, sondern gleich zweimal. Auch hier kann nicht einmal im Ansatz die Rede davon sein, die Situation unter Kontrolle zu haben.

Wenn Staaten Kriege führen, brauchen sie irgendetwas staatenähnliches als Gegner, sonst greift ihre Taktik nicht. Deswegen war es möglich, den zweiten Weltkrieg zu gewinnen, und deswegen scheiterten die technisch weit überlegenen USA in Vietnam. Armeen brauchen andere Armeen als Gegner. Soldaten müssen als solche klar erkennbar und von Zivilisten unterscheidbar sein. Terroristen halten sich aber nicht an diese Regel. Sie tauchen unter, und oft erkennt man ihre Absicht erst, wenn es zu spät ist. Wer wie Posener fordert, in einem Krieg viele Terroristen zu töten, nimmt in Kauf, gleichzeitig massenweise Zivilisten zu töten, deren einziges Verbrechen darin bestand, zufällig in der Nähe gewesen zu sein, als man die Terroristen tötete. "Tötet sie alle! Gott kennt die Seinen schon (Caedite eos! Novit enim Dominus qui sunt eius)" ist eine Geisteshaltung aus dem Albigenserkreuzzug 1209. Man hätte hoffen können, dass Posener die 806 seitdem vergangenen Jahre in irgendeiner Form zur Kenntnis nimmt.

Noch peinlicher ist nur noch der Anspruch, den Terroristen zeigen zu wollen, wer der Stärkere ist. Die Welt ist kein Marvel-Comic, in dem Superhelden sich tüchtig gegenseitig eins auf die Omme geben, und dann die Sache geregelt ist. Zivilisatorische Überlegenheit zeigt man nicht, indem man wie pubertierende Teenies unter der Dusche das Lineal hervorholt. Wer Terroristen mit Krieg antwortet, lässt sich genau auf deren Provokation ein und kann aus den oben genannten Gründen nicht gewinnen.

So schwer es im Moment auch zu glauben sein mag: An der Wahrscheinlichkeit, durch einen Terroranschlag ums Leben zu kommen, hat sich durch die Ereignisse in Paris nichts geändert. Sie rangiert immer noch unter ferner liefen, weit abgeschlagen hinter Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs mit 578.335 Toten in Deutschland im Jahr 2013. Statt wie 91 Prozent der Deutschen den Überwachungsstaat herbeizubeten, könnten Sie einfach weniger fettes Zeug in sich hineinstopfen und sich mehr bewegen.

Aber das wäre vernünftig, und damit hat's der Deutsche nicht so.

Montag, 2. November 2015

Buchkritik: Stephan Urbach: Neustart

Die Netzbewohnerinnen schreiben Bücher. Ganz klassisch. In Papierform. Ein wenig bizarr mutet es schon an, wenn man noch ihre Pamphlete in Erinnerung hat, die großspurig das Ende des "Totholzzeitalters" verkündeten und von einer Welt fabulierten, in der nur noch Gedanken real wären. Man kann es drehen und wenden wie man will - so ein schöner, breiter Buchrücken im Regal gibt einfach mehr her, ist immer noch realer als ein paar eifrig auf der Festplatte rotierende Elementarmagnete.

Für langjährige Datenreisende bieten die Ergebnisse dieser Schreibarbeit selten Überraschungen. Constanze Kurz und Frank Rieger erklären, warum Datenschutz ganz toll ist, Christian Heller erklärt, warum Datenschutz der größte Blödsinn ist, Sascha Lobo erklärt, warum beide Unrecht haben, wie eigentlich alle außer ihm Unrecht haben. Dann gibt es noch vor Selbstgerechtigkeit und -mitleid triefende Machwerke, die mit Wikileaks abrechnen, mit den Piraten abrechnen, oder man gibt gleich ganz den Anspruch auf, über irgendetwas Anderes als sich selbst schreiben zu wollen und schwadroniert in epischer Breite über die paar Wochen, in denen die eigene Existenz so etwas Ähnliches wie Relevanz besessen hat.

In diese Kategorie hätte auch Stephan Urbachs Buch fallen können. Als Internetaktivist in CCC-Kreisen bekannt und geschätzt, durch seine Arbeit bei Telecomix auch außerhalb der Nerdszene mit ausreichend Street Credibility versehen, um mit einem Buch Absatz erwarten zu lassen. Er hätte einfach nur eine mit reichlich Anekdoten und Insiderwissen gespickte Beschreibung der letzten Jahre schreiben müssen, und das Werk hätte sich verkauft.

Aber das wäre nicht Stephan Urbach gewesen.

Wer ihm schon einmal im Analogleben begegnet ist, wird sich an seine für Nerds ungewöhnliche Emotionalität erinnern, ganz im Gegensatz zum sich in der Regel eher distanziert und entspannt gebenden Standard-Hacker. Wenn er auf einer Konferenz eine Keynote hält, hat er nicht tagelang an jeder Formulierung gefeilt. Er hat nicht überlegt und abgewogen, wie er seinen Punkt möglichst gefällig vermittelt. Nein, er sagt, manchmal rotzt er auch raus, was er meint, kompromisslos und vor allem: ehrlich. Ohne politisches Kalkül. Dafür wird er oft kritisiert, aber eben auch geschätzt. In einer Zeit, in der ölige Politprofis sich durchs Leben taktieren, braucht man einen Stephan Urbach, dem dieser ganze diplomatische Firlefanz zuwider ist. Er neigt zum Pathos. Auch in seinem Buch gibt es reichlich davon, aber es ist nicht der Pathos eines sich in Szene setzenden Helden, sondern eines Menschen, dem eine Sache nahe geht, der sich kümmert und der seinen Gefühlen Ausdruck verleiht.

Wenn man in einer Kritik sagt, jemand habe "ein mutiges Buch geschrieben", ist das normalerweise der Code für: "Ja, es ist mutig, so einen Stuss auf die Öffentlichkeit loszulassen." Urbachs "Neustart" ist auch ein mutiges Buch. aber in einem anderen, viel positiveren Sinn. Es gehört Mut dazu, ein Buch zu schreiben, in dem man immer wieder wie der letzte Idiot wirkt. Es gehört Mut dazu, über eigene Schwächen, Unzulänglichkeiten und Fehler zu schreiben, und zwar nicht so, dass es als die große Lebensbeichte daherkommt, in deren Verlauf man praktisch verzeihen muss, sondern so, dass man oft genug sagt: "Ja, Tomate, das war wirklich daneben, aber gut, dass du nicht drumherum redest." Urbach hat ein Buch geschrieben, in dem er sich eine Blöße nach der anderen gibt. Über die Gründe kann ich nur spekulieren, aber durch diese Blößen wird das Buch etwas Besonderes: kein weiteres eitles, kokettierendes Selbstbeweihräucherungsmachwerk, von denen die Netzgemeinde in den letzten Jahren reichlich produziert hat, sondern die Biografie eines Netzaktivisten und Hackers, der sein Leben nicht im Griff hat und mit viel Glück an seinem Engagement nicht zerbrochen ist.

Hier wird auch klar, warum Urbach sein Buch möglicherweise geschrieben hat, warum er es so und nicht anders geschrieben hat: Er sieht sich nicht als Einzelfall. Er sieht sich als einer von vielen Aktiven. Aktive, die in einer Mischung aus Flucht vor sich selbst und Idealismus auf Reserve leben. Das ist oft genug schief gegangen, und auch Urbach hätte es beinahe nicht überlebt. Doch er hat nicht nur überlebt, sondern auch Konsequenzen gezogen. Er brennt immer noch für seine Sache, aber er weiß, wo es enden kann, und er schreibt darüber, damit Andere es ebenfalls wissen. Sein Buch ist nicht ein weiteres netzphilosophisches Machwerk, das man durchliest, ein paar nette Ideen mitnimmt und es dann ins Regal stellt. Sein Buch ist unperfekt, emotional, distanzlos. Es berührt.

Danke.

Samstag, 10. Oktober 2015

Die Nazikeule als Bumerang

Hunderttausende in Berlin gegen TTIP unterwegs. Die Veranstalter kommen im Adrenalinrausch auf 250.000, die Polizei wird mit 100.000 oder 150.000 zitiert. Wie auch immer, das sind Zahlen von denen die "Freiheit-statt-Angst"-Demonstrationen nur träumen können.

Die Frage ist: Wo kommen diese ganzen Leute her? Das Thema ist ähnlich wie die NSA-Affäre eher sperrig und abstrakt, aber komischerweise springen deutlich mehr Menschen auf ein künftiges Freihandelsabkommen an als auf gegenwärtigen Überwachungsstaat. "Spiegel Online" hat eine Antwort darauf: Nazis.

Schauen Sie mich nicht so erstaunt an, ich wusste es bis vor wenigen Stunden auch nicht. Die Argumentation verläuft wie folgt: "Pegida-Bachmann, Marine Le Pen und Donald Trump" sind gegen TTIP, einige in deren Gedankengut Verwurzelte sind bei der Demonstration dabei, also ist damit gleich die ganze Demonstration diskreditiert.

"Lächerlich", werden Sie sagen. "Es mag ja sein, dass bei der Demonstration auch Leute aus dem rechten Spektrum mitlaufen, aber dafür können doch die Anderen nichts." Wenn es denn so leicht wäre.

"Wer mit den Nazis auf die Straße geht, ist selber Nazi." Wie oft habe ich den Spruch gehört, als Anfang dieses Jahres Zigtausende Menschen auf den Pegida-Demonstrationen auftauchten. In den Augen der stets und überall den Pesthauch des Faschismus witternden Empörungslinken waren das alles Nazis. Ausnahmslos.

Ich fand die Argumentation damals schon gefährlich. Ich will nicht bestreiten, dass die Pegida-Bewegung falsch lag. Ich bestreite nur, dass alle, die auf deren Demonstrationen auftauchten, Nazis waren. Schlecht informiert vielleicht, hysterisch überreagierend, aber eben keine Nazis - zumindest noch nicht. Wer Leute, die aus einem schlechter Bildung geschuldeten, aber ehrlichen Bauchgefühl heraus mit den falschen Leuten auf die Straße gehen, pauschal in die Naziecke drängt, bewirkt damit nicht etwa, dass sie sich erschrocken von der Bewegung abwenden, sondern im Gegenteil die Trotzreaktion: "Och, wenn die ganzen netten Leute vom letzten Samstag alles Nazis waren, dann können die doch gar nicht so schlimm sein. Dann bin ich auch Nazi."

Die Faschismuskeule wird gern geschwungen, und nach stalinistischer Selbstsäuberungsmanier auch gern gegen die eigenen Leute. So müssen sich die Mitglieder von Digitalcourage, die zu Demonstrationen gern ihren riesigen Datenkraken mitbringen, immer wieder den Vorwurf anhören, ein Nazisymbol zu benutzen. Mit solchen Leuten will die brave Antifaschist.in natürlich keinen Umgang pflegen. Datenschutz kann ja nur Mist sein, wenn die schon solche Symbole benutzen.

Die Annahme, dass Nazis von dem Moment an, wenn sie morgens aus dem Bett steigen, nur schlimme Dinge unternehmen, führt zur bizarren Konsequenz, alles pauschal als faschistoid abzulehnen, wenn es zufällig auch von Nazis vertreten wird. Ich verurteile die völkerrechtswidrigen Gefangenenlager der USA, und dass die Nazis gleichzeitig über den US-Imperialismus wettern, lässt Guantanamo nicht einen Tick humaner werden. Ich sehe eine erhebliche Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat, wenn die von TTIP vorgesehenen Geheimgerichte ihre Urteile sprechen, und dass die Nazis aufgrund ihrer verschrobenen Verschwörungstheorien das auch so sehen, lässt diese Geheimgerichte nicht einen Tick harmloser werden.

Wahrscheinlich sind am heutigen Samstag auch Nazis in Berlin auf der Demonstration gewesen. Komischerweise hat das niemanden besonders gekümmert, niemanden von den Grünen, den Gewerkschaften, den Natur- und Umweltschutzverbänden oder von Digitalcourage. Komischerweise haben sie sich nicht wie sonst mit dem Schreckgespenst der falschen Bündnispartner herumscheuchen lassen. Ich könnte mich jetzt genüsslich darüber auslassen, wie oft auch nur ein einziger falscher Name auf einer Unterstützerliste dazu führte, dass ganze Gruppen sich empört zurückzogen, statt dessen freue ich mich, wie souverän derlei Kinderkram diesmal vermieden wurde. Waren Nazis auf der Demonstration? Vielleicht, das ist ein freies Land, und wir führen beim Betreten des Veranstaltungsgeländes keine Gewissensprüfung durch, nicht bei 150.000 Menschen. So lange die große Mehrheit aus dem demokratischen Spektrum kommt, verkraften wir die unvermeidlich mitlaufenden Idioten locker.

Samstag, 12. September 2015

Brandbomben und Klatschspaliere

Verbrennen und Vergöttern - zu mehr Differenzierung ist die deutsche Leitkultur nicht fähig, wenn es um den Umgang mit Ausländern geht. Beides ist übrigens gleichermaßen rassistisch, auch wenn ihr es nicht wahrhaben wollt.

Dass Brandsätze auf Flüchtlingsheime rassistisch sind, braucht wohl keine weitere Erläuterung. Warum aber soll die Gegenreaktion - Spalierstehen am Bahnhof und Applausklatschen - auf einmal rassistisch sein?

Weil es unangemessen ist. Weil es den Betroffenen nicht hilft und vor allem den Applaudierenden als Onaniervorlage gilt, wie wahnsinnig links und menschenfreundlich sie doch sind. Warme Decken, Essen und ein sauberes Zimmer schafft das Geklatsche freilich nicht herbei, das kostet nämlich Geld, bedeutet, dass man wirklich vom Überfluss etwas abgibt, dass man vielleicht sogar Zeit aufwendet, in die Heime geht und dort hilft. Das kann man natürlich von unseren aufgeklärten Händchenpatschern nicht verlangen, die haben ihren Beitrag mit dem Spalier am Bahnhof ja wohl schon mehr als geleistet. "Hey, reife Leistung, Jungs! Die 3000 Kilometer in weniger als 4 Wochen! Neue Bestzeit!"

Ich bin mal gespannt, wie lange sie an den Bahnhöfen herumstehen und applaudieren wollen. Einen Tag? Eine Woche? Einen Monat? Der Flüchtlingsstrom wird so schnell nicht abreißen, und irgendwann werdet ihr meinen, dass aus irgendeinem vorgeschobenen Grund die ab jetzt kommenden Ausländer es nicht mehr wert sind, von euch begrüßt zu werden.

Ich frage mich vor allem, wie sich die Flüchtlinge in solchen Situationen fühlen. Sie haben in ihrer Heimat alles zurückgelassen, haben neben ihrem Leben noch ein bisschen Handgepäck retten können, sind tausende Kilometer gelaufen, geschwommen, sind in Containern oder Ladebuchten von Schlepperbooten fast erstickt, wurden beschimpft, bespuckt, bekämpft, und jetzt, da sie es irgendwie in ein sicheres Land geschafft haben, treibt man sie durch ein Spalier, in dem die Leute irgendwas mit "Räffjudschihs wällkamm" bellen. Mutet nur mir so etwas bizarr an?

"Refugee" - das ist die neue Modevokabel. "Flüchtling" ist aus irgendeinem Grund böse. Ich habe schon mehrfach gefragt warum, aber nie eine Antwort erhalten. Ich vermute, es ist der linke Impuls, dass die Sprache der Täter im Dritten Reich historisch so belastet ist, dass man sie am besten gleich abschafft. Aus diesem Grund spricht man ja auch von "hate speech" und "harassment" - beides Begriffe, von denen der "Spiegel" behauptet, man könne sie nicht übersetzen. Nun, ich hatte zwar nur in der Schule Englisch und auch da nur mit mäßigem Erfolg, aber selbst die paar Worte, die mir im Gedächtnis kleben geblieben sind, reichen aus, um "Hasssprache" und "Belästigung" als Übersetzung zu finden. Wem "Belästigung" zu schwach ist, kann auch "Übergriff" oder "Angriff" nehmen. Auch hier sehe ich kaum einen anderen Grund für dieses Wortgepose als den akademischen Impetus, sich mit Fachsprache vom Pöbel abzugrenzen. Seht her, welch tolle Wörter wir benutzen, wir sind was Besseres, denn wir haben Abitur.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung scheint ohnehin nur den Gebildeten zuzustehen. Immer wieder sehe ich, wie genüsslich Kommentare in grauenhafter Rechtschreibung, zweifelhaftem Satzbau und schwülstigem Vokabular zitiert werden, deren Verfasser wirres Gestammel gegen Ausländer oder Leuten loslassen, die sich für sie einsetzen. Das sind dann "Hater". Prima, Zettel drauf, braucht man nicht weiter drüber nachdenken. Außerdem: Seht euch das Geschreibsel doch an. Wer zu dumm ist, auch nur das Wort "aus Lender won Heim" richtig zu schreiben, der hat doch praktisch automatisch schon Unrecht.

Es ist nun einmal die bittere Wahrheit: In einer Demokratie haben auch Leute ohne einen Masterabschluss das Partizipationsrecht am politischen Diskurs. Ihre Ansichten mögen krude sein, sie mögen menschenverachtend, volksverhetzend und extrem ungebildet sein, aber wir schaffen solche Ansichten nicht aus der Welt, indem wir aus unserem akademischen Elfenbeinturm heraus ihr Verbot fordern.

"Nationalsozialismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen." Ui, das beeindruckt die "Hater" bestimmt. Ich gebe euch mal einen kleinen Hinweis: Durch Gesetze und Verbote wird praktisch nie ein Missstand beseitigt, sondern nur sanktioniert. Ein Gesetz, das die Leute nicht einsehen, wird auch nicht befolgt. Nehmen wir als Beispiel die Straßenverkehrsordnung. Obwohl da unmissverständlich drin steht, dass man in Städten nicht schneller als 50 fahren darf, habe ich in jahrzehntelanger Fahrpraxis exakt niemanden erlebt, der sich daran hielt. Selbst in den Fahrschulen bekommt man beigebracht, schneller als erlaubt zu fahren. Tatsächlich bekommt man einen Strafzettel erst, wenn man knapp 60 fährt. Warum? Weil das die Grenze ist, die man noch irgendwie durchgesetzt bekommt. Bestraften die Behörden ab 51 km/h - was in Skandinavien übrigens passiert - käme es wahrscheinlich zum Volksaufstand. Recht ist nicht das, was im Gesetzbuch steht, sondern das, was die Leute als Recht akzeptieren.

Entsprechend schaffen wir Ausländerhetze nicht aus der Welt, indem wir sie "hate speech" nennen und bei Facebook fordern, dass entsprechende Beiträge sofort gelöscht werden. Wie stellt ihr euch das überhaupt vor? Der deutsche Blockwart erblickt mit seinen Adleraugen ein nicht genehmes Stück Text, meldet das bei der Reichsgesichtsbuchkontrolle, und sofort rückt ein Trupp aus, der das Geschmiere entfernt und den Täter verhaftet. Ist es das, was ihr wollt? Sollen muslimisch-fundamentalistische Staaten, Nordkorea und China die gleichen Rechte haben, ihrer Ansicht nach unangemessene Beiträge zu entfernen? Dürfen US-amerikanische Radikalchristen dann auch alle Darstellungen einer kugelförmigen Erde und der Evolution löschen lassen? Die fühlen sich von solchen Texten bestimmt auch ganz furchtbar "harasst". Ich bin gespannt, wie die drei Facebookseiten aussehen, die dann noch übrig bleiben.

Darüber sollten wir uns ohnehin klar sein: Mit den Flüchtlingen kommen auch deren Ansichten zu uns, kommt deren Demokratieverständnis, deren Rechtsauffassung, deren Religion, deren Frauenbild zu uns, und das entspricht nicht unbedingt unseren Vorstellungen. Im Moment scheinen wir das Klischee zu haben, da käme ein hageres, ausgemergeltes Wesen angekrochen, das den deutschen Herrenmenschen um ein paar Brosamen anbettelt und von unserem Land so komplett geflasht ist, dass es sofort der CDU beitritt. Nein, da kommen Leute, die über tausende Kilometer hinweg ihr Leben verteidigt haben. In solchen Situationen geht es selten ethisch und moralisch einwandfrei zu. Der Krieg treibt nicht nur das Edelste und Beste, was ein Land zu bieten hat, zu uns. Im Überlebesnkampf zählen Doktortitel nur in Ausnahmefällen. Ich arbeite seit Jahren mit Flüchtlingskindern. Glaubt mir, die haben Methoden, Konflikte zu lösen, die nicht viel mit den niedlichen Glubschaugenfotos gemein haben, die gerade in den sozialen Medien ihre Kreise ziehen. Was erwartet man eigentlich von Leuten, die im Krieg überleben mussten? Kantzitate und Bibelverse? Und, festhalten, ihr müsst jetzt ganz tapfer sein: Ich habe gehört, einige von denen schreiben "Lehrerin" ohne Gender-Gap!

Das heißt nicht, dass wir diese Menschen nicht aufnehmen sollten. Ich gehe weiter und sage: Nicht nur Kriege und politische Verfolgung sind völlig legitime Gründe, in diesem Land Schutz zu suchen. Hunger ist es auch. Wir leben in einem Land, das jeden Tag tonnenweise völlig einwandfreie Lebensmittel wegwirft, weil deren Mindeshaltbarkeitsdatum erreicht wurde. Noch schlimmer: Wir produzieren hektoliterweise Milch und Wein, tonnenweise Butter und jede Menge anderer Nahrung, die nicht einmal in den Verkauf gelangen, sondern gleich vernichtet werden, weil sie zu viel produziert wurden. Wir vernichten Grundlagen menschlichen Lebens, die woanders dringend benötigt werden, nur um die Preise stabil zu halten. Bedarf es weiterer Belege, dass der Kapitalismus menschenfeindlich ist? Ein Land, das so mit den Allernotwendigsten umspringt, hat gar kein Recht, irgendwen an seiner Grenze abzuweisen, der vom Überfluss etwas abhaben will. Statt dessen zwingen wir diese Menschen in ein verlogenes Asylverfahren, von dem alle Beteiligten wissen, dass es Quatsch ist.

Genau das ist "Asylmissbrauch", auch wenn Sascha Lobo das Wort am liebsten verbieten lassen möchte. Ein Grundrecht, geschaffen, um politisch Verfolgten bei uns Schutz zu bieten. Ein Recht, das wir Edward Snowden vorenthalten. Ein Recht, auf das man sich berufen muss, will man hier für längere Zeit bleiben. Natürlich wird es missbraucht, weil es fast das einzige Schlupfloch darstellt, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen und es deswegen eine kluge Taktik ist, einen entsprechenden Antrag zu stellen, selbst wenn man weiß, dass er keine Grundlage hat. Vielleicht hat man ja Glück, zu verlieren gibt es nichts. Wer so etwas stoppen will, muss für ein ordentliches Einwanderungsgesetz sorgen, aber das gilt seit Jahrzehnten als tabu. Noch einmal: So lange woanders Menschen verhungern, während wir einwandfreies Essen wegschmeißen, hat jeder das moralische Recht, seinen Teil an diesem Überfluss einzufordern. Das ist zwar kein Recht auf politisches Asyl, aber: na und? Willkommen!

Mittwoch, 26. August 2015

Nacktscanner an Bahnhöfen

Natürlich ist es noch nicht so weit, aber keine Idee ist so idiotisch, dass sie unter Ausnutzung allgemeiner Hysterie nicht doch umgesetzt werden könnte.

Was ist passiert? In einem Thalys-Zug konnte ein Mann daran gehindert werden, wild mit einer Kalaschnikov herumzuschießen. Die Reaktion? Statt einfach mal die Nerven zu behalten und sich zu überlegen, wie oft ähnliche Vorfälle in den letzten Jahren passiert sind, stellen sich die Leute an, als fände so etwas täglich statt, weswegen es ja wohl das Mindeste ist, Polizei im Thalys mitfahren zu lassen. Dass in der angeheizten Stimmung solche Maßnahmen natürlich noch nicht das Ende sind, ist klar, und so werden wieder einmal Ideen herausgekramt, wie man Bahnhöfe mit Personenkontrollen wie am Flughafen ausstattet.

Mit Verlaub, habt ihr sie noch alle?


Wissen Sie, was eine ganz reale Bedrohung ist? Alkoholisierte Halbstarke, die ihrem Freundeskreis beweisen zu müssen meinen, wie toll sie doch sind und deswegen irgendwen suchen, mit dem sie sich anlegen können. Vollidioten, die in einen überfüllten Zug einsteigen wollen, bevor die Anderen augestiegen sind und dadurch wertvolle Zeit verschwenden - die gleichen Vollidioten übrigens, die dann stundenlang nicht begreifen, dass Türen so lange nicht schließen und der Zug nicht abfahren kann, wie sie ihren dämlichen Hintern nicht aus der Lichtschranke bewegt haben. Superwichtige Models, die im vollbesetzten Zug ihr Täschchen auf dem Nachbarsitz, ihren wohnzimmerschrankgroßen Koffer auf dem schräg gegenüberliegenden und ihre Füßchen auf dem direkt gegenüberliegenden Sitz ablegen müssen, somit einen kompletten Vierersitzplatz für sich in Anspruch nehmen. Fußballfans, die den Zug in ein rollendes Tanzlokal mit Pissoir und Ablagefläche für Erbrochenes verwandeln. Karnevalisten, die außerhalb der Fußballsaison den Job der Fußballfans übernehmen. Und natürlich: Verspätungen.

Um ein Gefühl für die Zahlen zu bekommen: Im Fernverkehr kam die Bahn im Jahr 2013 insgesamt 3,78 Millionen Minuten zu spät. Hinzu kamen 12,01 Millionen Minuten im Nahverkehr. Zusammen sind das 15,79 Millionen Minuten. Laut Statistik kommen 94,5 Prozent der Züge pünktlich an. Das heißt: Von den  118,7 Millionen Passagieren im Fernverkehr Jahr 2007 plus 1,1 Milliarden Passagieren im Nahverkehr im Jahr 2005, zusammen also 1,22 Milliarden Menschen, müssen 65,81 Millionen jährlich auf ihre Züge warten. Multipliziert man das mit den Verspätungsminuten, werden kollektiv jedes Jahr 1,04 Millarden Minuten verschwendet, weil die Bahn ihren Zugverkehr nicht im Griff hat. Täglich sind das 2,85 Millionen Minuten oder 5,42 Jahre. Ein achtzigjähriger Mensch lebt ungefähr 42,08 Millionen Minuten. Alle 15 Tage wird also ein Menschenleben Zeit durch Warten vergeudet. Rechnen Sie das einmal gegen die Zahl der Menschen, die in Zügen durch Anschläge sterben. Um solche Werte zu erreichen, müssen sich die Terroristen ganz schön ranhalten.

Let's face it: Risiko gehört zum Leben dazu. Jedes Mal, wenn Sie über eine Ampel gehen, an der ein paar Autos warten, gibt es keine Garantie, dass nicht plötzlich jemand durchdreht und Sie überfährt, und Sie können sicher sein, dass früher oder später jemandem genau das zustoßen wird. Trotzdem kämen nur Vollidioten auf die Idee, Ampeln so zu bauen, dass bei Rot automatisch Sperrzäune ausgefahren werden. Genauso ist es völliger Quatsch, flughafenähnliche Kontrollen an Bahnhöfen zu fordern. Möglicherweise erwischt man damit den einen Kerl, der statistisch gesehen alle Jubeljahre einmal mit einem Bombenkoffer oder einer Schusswaffe in einen Zug steigt, aber der Preis dafür wäre, dass die Bahn als Verkehrsmittel schlicht unbenutzbar wird. Heute löst man zur Not direkt vor Fahrtbeginn eine Karte und steigt in den nächsten Zug. Wenn wir wie an Flughäfen eine Stunde vor Abfahrt am Check-in erscheinen, unser Gepäck und uns selbst durchleuchten lassen müssen, müssen wir eine spontane Fahrt von Berlin nach Hamburg plötzlich genau so langfristig im Voraus planen wie einen Flug. Die Heimfahrt für Millionen Pendler wird dann schnell zum Mitternachstausflug.

Es gab einmal etwas, das nannte sich Vertrauen. Vertrauen darin, dass der Kerl neben mir im Zug nicht zum Maschinengewehr greift. Vetrauen darin, dass ich über eine Ampel gehen kann, ohne dass jemand Amok fährt. Vetrauen von Eltern darin, dass ihre Kinder sich vielleicht gelegentlich irgendwo herumtreiben, wo sie eigentlich nicht sein sollten, aber schon wissen, wo das Verbotene in das Gefährliche übergeht, was man besser bleiben lässt. Vertrauen darin, dass der Partner nicht fremdgeht und man deswegen nicht heimlich in seinen Mails und Telefonkontakten herumschnüffeln muss. Und vor allem: Vertrauen eines Staats darin, dass praktisch alle im Land lebenden Menschen irgendwie miteinander klarkommen wollen und es deswegen keinen Grund gibt, flächendeckend ihre Telefonate mitzuschneiden, ihre Mails zu durchsuchen, ihre Bewegungsprofile abzugleichen, ihr Surfverhalten zu analysieren - kurz: sie wie Terrorverdächtige zu behandeln. Und wissen Sie was? Das hat ganz großartig funktioniert, auch in unsicheren Zeiten. Misstrauen erzeugt Misstrauen, und mit jeder Kamera, mit jeder Eingangskontrolle, mit jedem neu installierten Internetüberwachungsprogramm erzeugt man vielleicht etwas mehr Sicherheit, sendet vor allem aber die Botschaft: Ich habe euch im Auge, Leute, und wenn ihr euch auch nur den geringsten Fehltritt erlaubt, bekomme ich das mit, und dann seid ihr dran.

Das ist keine Vision aus Science-Fiction Dystopien, das ist Realität. Bei jedem Unglück, bei jedem Anschlag führen wir uns auf, als stürmten täglich Heerscharen von Terroristen auf uns ein, als steuerten täglich Piloten absichtlich Flugzeuge gegen Berghänge als explodierte täglich in einem Zug eine Bombe. Die von uns hysterisch geforderten und gegen uns gerichteten Repressionsmaßnahmen kosten mehr Lebensqualität, als wir mit der dadurch vielleicht gewonnene Sicherheit zurückbekommen könnten.

Ist das wirklich das Land, in dem Sie leben wollen?

Samstag, 1. August 2015

Generalbundeszensor

Es ist einfach eine doofe Idee, sich mitten im Sommer mit der Presse anzulegen.

Anders: So viele taktische Fehler wie der Genrealbundesanwalt auf einmal zu begehen, als er gegen Netzpolitik.org ein Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats einleitete, zeugt schon fast wieder von Talent.

Erstens der Zeitpunkt: im Sommerloch. Die Zeit, in der Journalisten drei Tage lang darüber berichten, wie die Kanzlerin ein Kind getätschelt hat. Da muss es doch klar sein, dass sie auf so eine Sache aufspringen werden.

Zweitens die Zielgruppe: Journalisten, genau die Leute also, die größtenteils zwar handzahm sind, das aber äußerst ungern vorgehalten bekommen. Wenn man denen - und vor allem denen, die an ihre Arbeit noch einen gewissen ethischen Anspruch erheben - bei einem zwar unangenehmen, im Wesentlichen aber ungefährlichen Artikel die jursitische Keule des Landesverrats überzieht, reagieren sie äußerst empfindlich. Mit solchen Mitteln hält man sich in totalitären Regimes wie Russland und China oder Bananenrepubliken die Presse gefügig, aber in westlichen Demokratien ist man offiziell stolz darauf, dass die Presse mit kritischer Berichterstattung als Korrektiv wirkt. Nun kommt ein Blog an einige Papiere, die als Verschlusssache deklariert sind, also der geringsten Geheimhaltungsstufe, die es überhaupt gibt. Die Klassifzierungskriterien lauten sinngemäß: peinlich, wenn es rauskommt, aber keine Gefährdung des Staatswohls, geschweige denn der Handlungsfähigkeit. Ein souverän agierender Staat hätte sich vielleicht etwas geärgert, aber nicht besonders erschüttern lassen. Aber nein, es muss "Landesverrat" sein. Kleiner ging's nicht.

Drittens die Fehleinschätzung, ein Blog sei kein journalistisches Erzeugnis. Natürlich ist nicht jedes Geschreibsel gleich Journalismus, aber Netzpolitik.org hat die Hobbyliga längst verlassen. Das haben die Kollegen der Süddeutschen, des Spiegels, von ARD und ZDF auch begriffen, und entsprechend fassen sie einen Angriff auf Netzpolitik.org als das auf, was er nun einmal ist: einen Angriff auf die Pressefreiheit.

Viertens der Begriff: Landesverrat. Das ist eine Vokabel, wie wir sie nur aus Spielfilmen kennen. Zuletzt spielte sie in Deutschland während der Spiegel-Affäre Anfang der Sechziger eine Rolle, einer Zeit also, in der die junge Bundesrepublik vom Nationalsozialismus hat Abschied nehmen müssen, aber in der Demokratie noch nicht so recht angekommen war. Regierungen wurden zwar wieder gewählt, galten in den Köpfen aber als quasi gottgesandt. Die kritisiert man nicht, denen folgt man. "Landesverrat", das klingt so wie "Wehrkraftzersetzung" oder "Feigheit vor dem Feind". So etwas ziemt sich nicht für einen anständigen Deutschen.

Genau diese Vokabel zerrt der Generalbundesanwalt also jetzt hervor. "Verrat", so etwas wirft man auch Whistleblowern vor. Seinem Unternehmen, seiner Partei, seinem Land hält man gefälligst Nibelungentreue, egal was die gerade ausfressen. Der Traditionsflügel der SPD benutzt in diesem Zusammenhang das Wort "Solidarität" und rechtfertigt damit die größten Sauereien. Wenn die Partei erst einmal etwas beschlossen hat, dann interessiert es nicht mehr, wie dumm die Idee ist und wie viele Grundüberzeugungen sie verrät. Man hat sich solidarisch zu verhalten, das zählt.

Nun kann der Generalbundesanwalt nichts für das im Strafgesetzbuch verwendete Vokabular, aber dass ihm dieser Straftatbestand ausgerechnet jetzt wieder in den Sinn kommt, ist ein weiterer Beleg für lausiges Timing, und das führt uns zu Punkt fünf.

Fünftens der Zeitpunkt. Etwa drei Wochen ist es her, dass der CCC ein Schreiben des Generalbundesanwalts bekommen hat, in dem dieser erklärt, er sähe keinen Anlass, im BND-NSA-Abhörskandal weiter zu ermitteln; immerhin seien ja seit zwei Jahren gigabyteweise veröffentlichte Belege nichts, womit sich ein Verfahren begründen ließe. Ganz anders sieht es da natürlich aus, wenn so ein paar Blogger sich erdreisten, über das Versagen des Verfassungsschutzes zu berichten. Da muss der Rechtsstaat natürlich volle Härte zeigen.

Genau hier irrt Kristina Schröder, wenn sie behauptet, die Kritik am Generalbundesanwalt sei Beschimpfung der Justiz. Range ist mitnichten "die Justiz". Er ist weisungsgebundener Beamter und dem Bundesjustizministerium unterstellt. Sowohl seine über zwei Jahre andauernde und mit schon fast bemitleidenswert lauen Argumenten verteidigte Arbeitsverweigerung im NSA-Skandal als auch seine plötzliche Agilität, wenn es darum geht, zwei Bloggern das Maul zu stopfen, werden im Zweifelsfall mit dem obersten Dienstherren abgestimmt sein. Beim Landesverratsverfahren wissen wir sogar, dass es mit dem Bundesinnenministerium koordiniert wurde. Umso, sagen wir: überraschender ist es, dass Heiko Maas plötzlich von all dem nicht mehr wissen will, sich von Range distanziert und ihn ungeschützt im Regen stehen lässt. Nun hat die SPD außer Machtgier ohnehin keine Werte, die sie zu verraten nicht bereit wäre, aber normalerweise hat sie wenigstens ein paar Wochen Schamfrist zwischen dem vollmundigen Verkünden einer Position und dem gegenteiligen Handeln. Dass Maas auf einmal sein Herz für Grundrechte entdeckt hat, glaubt ihm nach der Nummer mit der Vorratsdatenspeicherung ohnehin keiner mehr.

Zwar ist Feigheit vor dem Shitstorm kein Zeichen von Charakterstärke, aber irgendwo noch verständlich. Unverständlich sind mir hingegen die Versuche aus der Union, die Aktion des Generalbundesanwalts auch noch zu rechtfertigen. Immer wieder lese ich beispielsweise Äußerungen, das Veröffentlichen geheimer Informationen sei nun einmal eine Straftat und müsse verfolgt werden. Sekunde, heißt das, ich plane einfach irgendeine Sauerei, klebe auf alle belastenden Materialien einen "Geheim"-Aufkleber, und plötzlich darf niemand mehr darüber reden? War Gysis Stasi-Akte nicht auch eigentlich "geheim"? Warum hat das niemanden gehindert, aus ihr zu zitieren? Von anderen, wesentlich brisanteren Geheimdokumenten ganz zu schweigen.

Auch hier merkt man wieder, wie wichtig es wäre, das Phänomen Whistleblowing endlich einmal ausführlich zu diskutieren. Im Wesentlichen herrscht immer noch der Corpsgeist der Kaiserzeit. Kohl darf seit Jahrzehnten unbehelligt die Aussage im CDU-Parteispendenskandal verweigern, weil er sich durch ein "Ehrenwort" gebunden fühlt. Ein deutscher Soldat verrät seine Kameraden nicht - oder wie das heißt. Fragen Sie einmal außerhalb der Nerd-Filterblase, was die Leute von Edward Snowden halten. Viele Leute sehen den Mann in erster Linie als Verräter, nicht als Aufklärer.

Range hat also die Situation komplett falsch eingeschätzt, und die schon fast totgeglaubte netzpolitische Bewegung kommt wieder in Wallung. Wieder einmal hat man den Eindruck, dass sich über lange Zeit Druck aufgebaut hat, bis erneut ein "Das-Maß-ist-voll"-Moment erreicht ist. Wir hatten das schon einmal bei der Vorratsdatenspeicherung und bei der Internetzensur. In beiden Fällen fanden sich praktisch aus dem Nichts einige zigtausend Leute, die nicht bereit waren, die neusten Übergriffe der Regierung weiter zu dulden. In Berlin waren heute - tja, die Zahlen differieren stark - einige hundert, wahrscheinlich aber eher zweitausend Menschen unterwegs, um gegen das Ermittlungsverfahren zu demonstrieren. Bei campact wurde vor wenigen Stunden eine Unterschriftenliste angelegt, und bereits jetzt haben mehr als 68.000 Menschen unterzeichnet. Wir wissen alle, dass Unterschriftenlisten im Netz praktisch wertlos sind, aber dennoch verblüfft die Zahl, die Demonstration in Berlin war zwar nicht wirklich groß, aber bei zwei Tagen Vorlaufzeit schon ganz ordentlich, praktisch alle wichtigen Zeitungen und Nachrichtensendungen sind aufgesprungen, und wir sind noch ganz am Anfang. Mal sehen, was der Sommer uns noch bringt.

Freitag, 17. Juli 2015

Sommergetwitter

Vielleicht sollte ich mir einfach abgewöhnen, im Sommer Twitter zu nutzen. In dieser Zeit ist dieses Medium einfach unerträglich.

Der Sommer ist eine nachrichtenarme Zeit, zugegeben, aber das heißt doch noch lange nicht, dass man sich über jeden, und ich meine damit wirklich jeden Schwachsinn aufregen muss, als hätte man die Gene von Hitler, Stalin, Pol Pot und Dschingis Khan zusammengerührt, um mit dem Ergebnis einen unfassbar brutalen Vernichtungsfeldzug gegen lesbische Katzenbabies zu führen. Ich finde es ja in Ordnung, wenn ihr meint, zu allem, und ich meine damit wirklich allem eine Meinung haben zu müssen, aber könnt ihr sie vielleicht mit ein bisschen weniger Drama in die Welt schreien? Ich weiß ja nicht, was ihr damit bezwecken wollt, aber wenn ihr glaubt, Journalisten seien in diesen Tagen so verzweifelt, dass sie in ihrer Not jeden hinreichend lauten Selbstdarsteller in die nächste Talkshow zerren, sei euch gesagt: So einfach funktioniert das Geschäft nun auch wieder nicht.

Es gibt so viele interessante Dinge, über die man schreiben kann. Leute, wir sind am Pluto vorbeigeflogen. Am Pluto! Das kleine Kügelchen kannten wir bisher nur als verwaschenen Lichtfleck, und jetzt haben wir hochaufgelöste Fotos von der Oberfläche. Das, liebe Leute, ist Wissenschaft in ihrer ganzen Schönheit.

Wir bekommen die Vorratsdatenspeicherung. Wir haben die nahezu unkontrollierte Fluggastdatenweitergabe. Frankreich und Großbritannien verwandeln sich in Polizeistaaten. Der Bundesnachrichtendienst entpuppt sich als völlig außer Kontrolle geratene Spionagetruppe, der Generalbundesanwalt weigert sich, seiner Aufgabe nachzukommen und wegen des offensichtlichen mehrfachen Rechtsbruchs Ermittlungen einzuleiten. Lauter Themen, über die zu reden und derentwegen aktiv zu werden sich lohnt.

Griechenland zähle ich übrigens zu den für mich minder interessanten Dingen, weil doch klar war, dass man sich irgendwie einigen wird. Die griechische Regierung hat das getan, was jeder in ihrer Situation versucht hätte: Sie hat gepokert. Ich kann darin nichts Verwerfliches entdecken und bedauere es allenfalls, dass sie so wenig herausschlagen konnte. So wenig mich persönlich das Thema berührt: Relevant und diskussionwürdig ist es auf jeden Fall.

Der Sommer, meine an sich geschätzte Filterblase, ist also nicht so ereignisarm, dass ihr über den Quatsch reden müsstet, über den ihr gerade redet. Was heißt "redet"? Über den ihr ein Theater veranstaltet, das seinesgleichen erst einmal finden muss.

Es ging damit los, dass irgendein Youtuber die Kanzlerin zu interviewen versucht hat. Ein Youtuber, der draußen in der realen Welt etwa die Relevanz hat wie der Vorsitzende des Görlitzer Dackelzüchtervereins vor der UN-Vollversammlung. Heraus kam - naja ein belangloses Geplänkel, wie es bereits tausende gibt. Ein Politikerinterview halt.

Ja, aber was hattet ihr denn erwartet? Dass der Kerl sich auf einmal für den Pulitzer-Preis empfiehlt? Das hat schon bei Raabs harmlosen Tapsern auf der Polittalk-Bühne nicht funktioniert, warum sollte es auf einmal anders sein? Vor allem aber: Was war daran relevant?

Dann bricht ein kleines Mädchen angesichts der sehr realen Gefahr, bald wieder in die Heimat abgeschoben zu werden, in Tränen aus, während die Kanzlerin die Situation komplett falsch einschätzt und einen völlig am Kern der Sache vorbei gehenden Versuch unternimmt, das Kind zu trösten. Im Prinzip hat Michael Seemann in einer ausgezeichneten Analyse schon alles gesagt, was man dazu sagen muss, was natürlich die vor Selbstgerechtigkeit triefende Twitterhorde nicht davon abhält, sich über die emotionale Fehlleistung der Kanzlerin zu ereifern. Leute, wenn ihr unbedingt einen Emo als faktisches Staatsoberhaupt haben wollt, dann wählt Claudia Roth. Die ist außerstande, auch nur die aktuelle Uhrzeit zu verkünden ohne dabei in Tränen auszubrechen. Natürlich hat Merkel in dieser Situation nicht optimal reagiert, aber mit Verlaub: Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Ein paar Stunden vorher hat sie sich noch mit europäischen Staatschefs um Milliardenbeträge gestritten, und auf einmal soll sie in einer Schule weinende Mädchen trösten? Was hättet ihr erwartet? Dass sie sagt: "Pass auf, ich bin die Kanzlerin, hier schiebt dich keiner ab?" Wisst ihr, was ihr dann geschrieen hättet? "Mimimi, an diesem einen Beispiel zeigt sie auf einmal Menschlichkeit, während gleichzeitig im Mittelmeer die Flüchtlinge ertrinken", und ihr hättet Recht gehabt. Dass wir Menschen, die hungernd und geschunden an unserer Türschwelle kauern, verrecken lassen, das ist der Skandal, und der wird nicht dadurch besser, dass wir theatralisch ein Kind vor diesem Schicksal bewahren. Nein, Ziel einer menschlichen Flüchtlingspolitik wäre es, diese Leute aufzunehmen und nicht ihre Wohnheime niederzubrennen.

Als einzige Hoffnung verbinde ich mit der Aufregernummer über Merkel, dass ihr vielleicht endlich damit aufhört, die Frau "Mutti" zu nennen. Mutti kann nämlich ordentlich trösten. Die Kanzlerin dem Anschein nach nicht.

Und jetzt hat auch noch Dieter Nuhr es gewagt, über das nach Aufmerksamkeit gierende Twittergekreisch zu lästern. Ursache war ein - zugegebenermaßen nicht besonders intelligenter - Tweet zur Griechenlandfrage. Hätte er den in einem seiner Comedyprogramme untergebracht, hätte es niemand registriert. So aber hatte er es gewagt, seine platte Pointe in den heiligen Hallen der Twittersphäre zur Schau zu stellen, und da darf bekanntermaßen nur das Edelste, was der deutsche Liberalismus zu bieten hat, zu lesen sein. Entsprechend war das Echo. Nuhrs Fehler bestand nun darin, es dabei nicht bewenden zu lassen, sondern in der FAZ einen länglichen, weinerlichen, verständnis- sowie humorlosen und in meinen Augen komplett vorhersagbaren Artikel über die Lynchmentalität bei Twitter zu verfassen. Wenn der Twittermob eines nicht leiden kann, dann ist es, den Spiegel vorgehalten zu bekommen, und entsprechend fiel die Reaktion aus. Oh, das kostet wieder Follower, die kostbare Währung der Social Media. Einige ganz Eifrige haben schon vor einiger Zeit eine Art digitale Kollektivhaft eingeführt, die sie bereits bei Don "Fonsi" Alphonso anwenden und jetzt auf Nuhr ausweiten: Sie entfolgen nicht nur das Objekt ihrer Verachtung, sie entfolgen auch alle, die ihn retweeten und alle, die ihm folgen. Vielleicht entfolgen sie auch alle, die denen folgen, die dem Geächteten folgen, Hauptsache, ihr eigenes Subnetz ist ethisch rein, von keinem falsch Denkenden beschmutzt.

Vielleicht nehmt ihr alle einfach mal ein paar Tage Urlaub. Geht an den Strand, an den nächsten Baggersee meinetwegen, aber lasst vor allem eure Twitterclients zu hause. Das ist für alle Beteiligten das Beste.

Samstag, 27. Juni 2015

Körperfetisch und Opfermythos

OK, erst der Pöbelteil und dann die Passage zum Abkühlen:

An meine Schulzeit denke ich ohnehin ungern zurück. Ein Großteil meiner Lehrerinnen waren selbstherrliche Idioten, die man auf alles hätte loslassen dürfen, nur nicht auf Kinder. Der Unterricht war, konservativ geschätzt, zur Hälfte verschwendete Lebenszeit, die mir niemand zurückgeben kann, ohne jede auch nur ansatzweise herstellbare Relevanz für mein heutiges Leben, die von vielen rückblickend verklärte Klassenkameradschaft ein jahrzehntelanges Mobbing. Den Gipfel diesen Namen nicht verdienender "Bildungspolitik" stellte für mich regelmäßig Sport dar. Anfangs fand ich das Herumgetolle ja noch ganz nett, aber da es in diesem Fach nicht um Spaß haben sondern um Leistung und so sinnvolle Betätigungen wie das Durch-die-Gegend-Werfen von Eisenkugeln und Aufschwung am Reck ging, gehörte ich schnell zu denen, die man halt mitschleift und nur dann in seine Mannschaft aufnimmt, wenn sonst niemand mehr da ist.

Da es jedoch den deutschen Recken seit jeher gelüstete, seinen im Kampf gestählten Arierleib im edlen Wettstreit mit anderen zu messen, reichte es natürlich nicht aus, die wöchentliche Lektion Frustrationstoleranz auf den regulären Unterricht zu beschränken, nein, da muss unbedingt etwas wie die Bundesjugendspiele her, mit verpflichtender Teilnahme für alle. Natürlich gab es zu meiner Zeit bereits ein paar Reformpädagogen, die, wenn man schon ganze Jahrgänge zu diesem Blödsinn verdonnert, irgendeine Anerkennung für alle jene wollten, die zumindest den Versuch ernsthafter Beteiligung erkennen ließen. Dafür gab es eine - wie hieß der Kram doch gleich? Siegerurkunde? Ehrenurkunde? Egal, jedenfalls ein Zettelchen, dessen Erlangungskriterien so lax gefasst waren, dass eigentlich jeder Depp so ein Ding bekommen konnte, der nicht nur einfach dumm herumstand.

Und jetzt raten Sie mal, wer in den ganzen Jahren nie auch nur die Teilnahmeurkunde bekam, trotz ernsthafter Versuche? Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man außer dem Typen, der die ganze Veranstaltung aus Prinzip boykottiert, die Einzige ist, die ohne Zettel ausgeht? "Teilnahme ist wichtiger als Sieg" lautete das Olympische Motto, und selbst das bekam ich nicht zugestanden. Da wäre es ehrlicher, Urkunden denen vorzubehalten, die auch wirklich Überdurchschnittliches leisten und den Rest als das zu behandeln, was sie faktisch sind: Füllmaterial, Zaungäste.

Ob ich die Bundesjugendspiele abschaffen möchte? Natürlich. Ich hätte dieses Relikt aus einer Zeit, in der man blöd wie Achsenfett sein konnte, so lang man hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie Windhunde war, unmittelbar mit Gründung des Bundesrepublik auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, aber mit dieser Meinung war ich immer in der Minderheit. Ob ich die gerade laufende Petition bei change.org unterschreiben werde? Himmel, nein. Warum? Weil die Begründung so ziemlich das Dämlichste ist, was ich seit langem gelesen habe.

"Mein Sohn hat geweint, als er nur eine Teilnehmerurkunde bekam." Dieser Satz fasst alles zusammen, was neoaufklärerische Winselkultur auszeichnet. Erstens: Wir haben ein Opfer, in diesem Fall ein kleines, unschuldiges Kind. Wenn es jetzt noch homosexuell wäre, eine kleine Behinderung oder wenigstens Migrationshintergrund hätte, wäre das Glück perfekt, aber so reicht es ja auch schon. Zweitens: Diesem zarten, reinen Geschöpf wird Gewalt angetan. Naja, also nicht wirklich Gewalt, aber seht her, es weint.

Eltern, jetzt müsst ihr ganz tapfer sein: Eure Kinder weinen. Das ist nun einmal ihre Default-Reaktion, wenn sie nicht weiter wissen. Sie haben geweint, als sie ihren ersten Atemzug taten, sie haben unzählige Male geweint, als ihre Hosen voll waren, als sie Hunger hatten oder wegen irgendeiner anderen Kleinigkeit in der Nacht wach wurden. Sie haben geweint, als ihnen im Sandkasten die Schaufel weggenommen wurde, sie haben geweint, als sie sich beim Skaten die Knie aufschlugen, sie haben geweint, als sie ihre erste 5 in einer Klassenarbeit bekamen, sie werden weinen, wenn sich ihre große Liebe als das letzte Dreckstück entpuppt. Natürlich ist das nicht schön, und natürlich möchte man ihnen unnötiges Leid ersparen, aber so hart es auch sein mag: Niederlagen, auch bittere Niederlagen gehören zum Leben dazu, und wenn man im Leben eine wichtige Lektion lernen muss, dann ist es die, wie man mit Verlusten und Niederlagen umgeht. Kindern diese Erfahrung zu verweigern, diese der Kuschelpädagogik der Achtziger entsprungene Idee, man könne Kindern eine Welt ohne Verlierer vorgaukeln - das, Eltern, ist wirkliche Gewalt, die ihr euren Kindern angedeihen lasst. Die Welt da draußen kennt nun einmal Gewinner und Verlierer. Sie kennt sie seit Anbeginn der Evolution, und kein noch so aufgeregtes Esogequatsche wird daran etwas ändern. Ihr habt in den Grundschulen die Zensuren abgeschafft, weil dieses zugegebenermaßen sehr starre Schema keine differenzierte Beschreibung des Leistungsstands eines Kindes zulässt. Aber damit nicht genug: Um den zarten Kinderseelen jedes Leid zu ersparen, habt ihr die Unsitte der Arbeitswelt übernommen, dass in Zeugnissen nur positive Aussagen zu stehen haben. Statt also zu schreiben, dass der kleine Lukas-Maximilian ein unausstehlicher Drecksbalg mit dem IQ eines Feldwegs ist, der dringendst seinen faulen Hintern in Bewegung setzen muss, wenn er in seinem Leben mal mehr werden will als Briefbeschwerer oder Türstopper, steht in den Zeugnissen irgendein Geschwurbel von "beim Addieren von Zahlen musst du dich noch ein wenig mehr bemühen und vielleicht noch seltener deine Klassenkameraden vom Lernen abhalten". Ihr habt die Rechtschreibung abgeschafd wail ez di Grehatiwited pehinterrt wänn Mann dole Seze schraipd unnt ter Lerä turch klainkahrihrtäs kohrrigihrän tehn gansn Schpahz ferrtirpd. Ja, ihr schiebt damit den Moment der ersten Niederlage erfolgreich um ein paar Jahre hinaus, aber zum Ausgleich wird der erste große Schlag eure Kinder umso härter und umso schlechter vorbereitet treffen. Wenn eure Tochter schon bei den Bundesjugendspielen weint, wie soll es ihr erst ergehen, wenn etwas von wirklicher Relevanz passiert? Wie schon gesagt: Schafft diese idiotischen Zwangssportwettbewerbe als Relikt vergangener Epochen ab, aber nicht mit der Begründung, Kinder verkrafteten es seelisch nicht, auch mal zu verlieren.

Jetzt zum stilistisch etwas gesetzteren Teil. Warum wettere ich so vehement gegen Sport und nicht gegen Physik, Deutsch oder Mathe? Platt gesagt: Weil es da bei mir immer wenigstens für befriedigende Zensuren gelangt hat. Das heißt nicht, dass ich statt der Bundesjugendspiele die Leute zwangsweise zur Matheolympiade anmelden möchte, das heißt nur, dass ich von der anderen Hälfte der von mir eingangs genannten Schulfächer wenigstens grob einsehe, wozu man sie brauchen kann. Selbst bei Latein, einem Fach, das ich gehasst habe und in dem ich miserabel war, kann ich verstehen, dass die dort vermittelten Vokabeln und Grammatikkenntnisse irgendeinen Nutzen haben. Ob man den gleichen Effekt nicht auch mit einer anderen Sprache und weniger militärischem Drill erzielen kann, lasse ich offen, aber ich merke bis heute, wie ich immer wieder auf dieses Wissen zurückgreife.

Das geht mir so. Andere mögen es komplett anders sehen. Deren Leben kommt wahrscheinlich komplett ohne Physik und Mathe, dafür aber mit Erdkunde, Kunst und vielleicht auch Sport aus. Das Dumme an allgemeinbildenen  Schulen ist nun einmal, dass sie unterschiedslos alle Leute in den gleichen Kanon zwingen, egal, wo nun ihre wirklichen Talente liegen, und es ist nur zu natürlich, dass ein Mathegenie in Geschichte völlig untergeht. Trotzdem ist es sinnvoll, beide Fächer besucht zu haben, allein schon, um allen wirtschaftlichen Anforderungen zum Trotz Spezialisierung und Fachidiotentum nicht schon zu früh zu fördern. Für eine Programmiererin reicht es eigentlich aus, Mathe, Deutsch und Englisch zu können, aber genug Geschichtskenntnisse, um zu wissen, dass mit Hilfe von Hollerithmaschinen ein Völkermord in Europa durchgeführt wurde, wären in meinen Augen sinnvoll. Technik hat eben immer Konsequenzen, und "ich habe von all dem nichts gewusst und nur Befehle befolgt" wird als Ausrede nicht mehr anerkannt.

Es kann also nicht schaden, in jedes Fachgebiet einmal hineingeschnuppert zu haben. Selbst Sport ergibt so betrachtet noch irgendeinen Sinn. Statt Reck, Barren und diesen komischen Holzkästen hätte ich mir zwar viel lieber irgendetwas angetan, was auch nur ansatzweise Spaß bringt, aber das ärgert mich weniger. Es ärgert mich, dass man wegen Sport sitzen bleiben kann. Es ärgert mich, dass unser Schulsystem nicht mit der Tatsache klar kommt, dass es in bestimmten Fächern einfach hoffnungslose Fälle gibt. Natürlich muss ein möglichst breites Wissen oberstes Ziel bleiben, aber wenn sich herausstellt, dass jemand beispielsweise einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt hat und dafür in den Sprachen nie über Gestammel hinaus kommt, muss es doch möglich sein, sie unter der Bedingung, dass sie sich Sprachen wenigstens grob weiterhin anguckt, um nicht gänzlich den Anschluss zu verlieren, als Ausgleich in den Naturwissenschaften ordentlich zu fördern. Nein, das geht nicht. Wir schleifen die Leute lieber jahrelang mit, lassen sie mangelhafte und ungenügende Zensuren kassieren und möglicherweise sogar deswegen Klassen wiederholen, obwohl völlig klar ist, dass sie in ihren guten Fächern brillieren und es in ihren Schwachpunkten nie zu etwas bringen werden. Noch einmal: Zu frühe Spezialisierung sollte man vermeiden, aber wenn sie sich abzeichnet, sollte man die Augen davor nicht verschließen.

Und wenn ihr es dann noch hinbekommt, Sport endlich einmal interessant und nicht als verstaubte Militärübung zu gestalten, dürft ihr auch eure bekloppten Bundesjugendspiele behalten.

Sonntag, 14. Juni 2015

Demokratie als Quengelware

Die parlamentarische Sommerpause naht, die Zeit also, in der die Doofsten - und die Konkurrenz ist hart - die Chance ergreifen, sich in mangels echter Themen in ihre Richtung gereckte Journalistenmikrofone zu erbrechen. Normalerweise werden solche Leute von der Fraktionsführung schamhaft im Keller versteckt, aber auch die ist einmal im Urlaub, und dann kommen sie hervor, um die Schlagzeilen zu bevölkern. Selten geht es dabei um wirklich drängende Themen - natürlich nicht, es ist ja Sommerpause - aber dafür sind es traditionell Dinge, zu denen jeder, aber auch wirklich jeder eine Meinung hat, egal wie qualifiziert sie ist. So wie sich jeder für einen Bildungsexperten hält, weil er irgendwann einmal zur Schule gegangen ist, jeder "Voraussetzung" fälschlicherweise mit doppeltem "r" schreibt, aber über die Rechtschreibreform schwadroniert und sowieso weiß, wie die deutsche Nationalelf endlich einmal ordentlichen Fußball spielen könnte, hat auch jeder was zur niedrigen Wahlbeteiligung zu sagen, meist etwas der Art: "Sind doch eh alles die gleichen Idioten,"

Genau damit soll nun Schluss sein, zumindest wenn es nach dem Willen der Generalsekretärinnen der CDU, CSU, SPD, Grünen, Linkspartei und FDP geht. Sinkende Wahlbeteiligungen sind zwar nicht gerade ein neues Phänomen, genau genommen gibt es sie schon seit 43 Jahren, aber irgendwann muss man ja wohl einmal anfangen, warum also nicht jetzt?

Ein wenig verwunderlich ist es dennoch, dass nun plötzlich die etablierten Parteien Handlungsbedarf erkennen, zumal ihnen auf den ersten Blick egal sein kann, wie viele Leute wählen gehen. Das Wahlgesetz sieht keine Mindestbeteiligung vor, ab der eine Wahl erst gültig ist. Im Prinzip reicht es, wenn auch nur eine einzige gültige Stimme abgegeben wird, und das sollte sich wohl noch irgendwie arrangieren lassen. Die einzige Erklärung für das überraschende Interesse könnte vielleicht die Tatsache sein, dass mit niedriger Wahlbeteiligung auch die absolute Stimmenzahl sinkt, die nötig ist, um einen Sitz ins Parlament zu erringen. Das bescherte vor einigen Jahren den Piraten den Einzug in diverse Stadträte und Landtage und lässt heute die AfD Erfolge erzielen. Zwar haben sich die Piraten mit seifenopernhafter Theatralik selbst zerlegt, und auch die AfD scheint derzeit alles daran zu setzen, sich mit möglichst großem Trara ins politische Nichts zu verabschieden, aber die nächste Protestpartei bildet sich bestimmt gerade in irgendeinem Hinterzimmer. Das wiederum deutet darauf hin, dass der Wille, zur Wahl zu gehen, schon da ist. Man will nur nicht das Vorhandene wählen.

Umso bizarrer wirken die Ideen, die der Initiative gegen Wahlmüdigkeit einfallen: Erst- und Zweitstimme sollten in Kandidaten- und Parteistimme umbenannt werden. Klar, so stelle ich mir die Welt auch vor. Die Leute gehen ins Wahllokal, schauen auf den Stimmzettel, sagen: "Nee, also Erstimme, Zweitstimme klingt doof, da gehe ich lieber gar nicht erst wählen" und gehen unverrichteter Dinge wieder heim. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich wüsste nicht einmal, ob auf einem Stimmzettel überhaupt diese beiden Worte stehen.

Ebenfalls immer wieder gern in solchen Situationen hervorgezaubert wird die Forderung nach elektronischen Wahlen. Was ich vor über 6 Jahren schon schrieb, gilt auch heute noch: Frei, geheim, gleich und prüfbar lassen sich gleichzeitig nur sehr schwer - ich behaupte: gar nicht - elektronisch umsetzen.

Das Wählen für Deutsche im Ausland vereinfachen - sind inzwischen so viele geflohen, dass durch deren Stimmabgabe die Wahlbeteiligung schwindelerregende Höhen erreicht? Das Wahlrecht sei zu kompliziert - aber gleichzeitig rumjammern, mit einem einzigen Kreuzchen ließe sich der Wählerwille nicht vernünftig erfassen. Besonders krude: Stimmabgabe im Supermarkt, wahrscheinlich direkt neben der anderen Quengelware an der Kasse. Zwei Tüten Milch, ein Kilo Mehl, zehn Eier, ach ja, und einmal CDU, dafür reicht das Geld noch.

Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Man kann Bellos Hundehaufen nicht dadurch den Leuten als Mousse au Chocolat andrehen, indem man mehr davon hinstellt oder weniger Geld dafür verlangt oder direkt ins Haus liefert oder ein Papierschirmchen reinsteckt. Wer wirklich will, dass sich mehr Menschen am demokratischen Willensbildungsprozess beteiligen, muss schon etwas mehr unternehmen, als alle vier Jahre mit riesigem Tamtam Blankovollmachten für die kommende Legislaturperiode einzuwerben und sich dann wieder in seine parlamentarische Trutzburg zurückzuziehen, aus der man dann gelegentlich in Gesetzesform geronnene Abfälle herausschleudert. Wer eine vom Volk mitgestaltete Politik will, muss aufhören, für Geld auch das letzte Fitzelchen Anstand sausen zu lassen, muss aufhören, das eigene Volk als ständige Gefahr zu sehen, der nur mit den Mitteln des Überwachungsstaats beizukommen ist. Wer eine lebendige Demokratie will, muss aufhören, in jeder neu aufkommenden Partei eine Gefahr für die eigenen Pfründe zu sehen und geht vor allem nicht Große Koalitionen ein, die mit 80 Prozent Sitzanteil im Bundestag eine deutlich größere Gefahr für Verfassung und Grundrechte darstellen, als irgendwelche radikalen Protestparteien es je könnten.

Schließlich bleibt noch ein Faktor übrig, den wir bisher als eher passives Element vernachlässigt haben: Das Volk selbst. Leute, immer nur mimimi aber dann doch wieder die Einheitsfront CDU-SPD und für die ganz mutigen Prenzelbergmuttis ein bisschen Grün wählen reicht eben nicht. Wenn euch eine Partei ärgert, tretet ein und ändert was, und wenn in dieser Partei nur Idioten herumschwirren, dann gründet eine neue, und wenn auch da nur Idioten auftauchen, dann gründet eine Initiative, eine Lobbyorganisation, was auch immer. Ich gehöre schon seit Jahrzehnten keiner Partei an, und dennoch haben die von mir unterstützen Organisationen es geschafft, mindestens drei verfassungswidrige Gesetze zu kippen. Es gibt weit mehr Möglichkeiten, ein Land zu gestalten, als alle vier Jahre die gleiche Partei zu wählen.