Das mit dem Wahlkampf ums Bundeskanzlerinnenamt müssen die Grünen noch üben.
Zugegeben, es ist in den 40 Jahren nach Parteigründung auch das erste Mal, da darf man sich etwas deppert anstellen. Eigentlich sollte mich eher beunruhigen, wie wenig Fehler ihnen trotz fehlender Übung unterlaufen. Daran sehe ich, wie bürgerlich-spießig die Partei inzwischen ist. Früher, da hätte sich bei so guten Umfragezahlen längst irgendein siegestrunkener Depp zu Wort gemeldet und einen Benzinpreis von 5 Mark, den Ausstieg aus der NATO oder irgendwas Anderes gefordert, was inhaltlich gar keine schlechte Idee, aber leider auch perfekt geeignet ist, Leute zu verschrecken, die zwar Änderungen wollen, aber bitte in Nanoschritten. In die Falle mit dem Benzinpreis zum Beispiel wollen sie dieses Mal nicht tappen, indem sie vorrechnen, dass sie zwar höhere Steuern wollen, sie aber zurückzahlen. Das ist natürlich Quatsch. Keine Regierung seit Gründung der Bundesrepublik hat jemals Steuern erhoben, um die dann wieder zurückzuzahlen, und selbst wenn sie es täte: Hat jemand mal nachgerechnet, wie viel des eigenommenen Geldes am Ende wieder zurückgegeben werden soll? Im Zweifelsfall bietet eine Payback-Karte bessere Rendite.
Interessanterweise spielt diese Diskussion im Moment aber keine Rolle. Die Leute haben geschluckt, dass unter jeder Regierung deutlich höhere Energiekosten auf sie zukommen und dass die Grünen mit ihren Forderungen auch nicht weit über denen der Union liegen. Das stört also niemanden. Was die Öffentlichkeit viel mehr bewegt, ist die B-Note der Kanzlerkandidatin.
Dabei hatten die Grünen einen Traumstart hingelegt.Während die Union die Wahl zwischen einem über Leichen gehenden Selbstdarsteller und einem aussagelosen Gute-Laune-Bären hatte, die SPD gar nicht erst versuchte, einen brauchbaren Kandidaten auszugraben, weil inzwischen dem Letzten klar ist, dass nach Jahrzehnten der Selbstdemontage die Fünf-Prozent-Hürde ein wesentlich akuteres Thema als das Kanzleramt darstellt, standen die Grünen vor dem Luxusproblem, zwei gleichermaßen vorzeigbare Optionen zu haben und sich entscheiden zu müssen, welches Narrativ besser zündet.
Weniger verklausuliert ausgedrückt: Habeck wusste, wenn Baerbock die Frauenkarte zieht, sticht sie alle anderen, und wer in der Partei auch nur den Hauch einer Zukunft haben will, ist gut beraten, das Spiel mitzuspielen und sich so zu verhalten, als sei die Wiederkunft des Messias ein Klacks zu Baerbocks Kanzlerkandidatur.
So geschah es auch. Im öffentlichen Freudentaumel störte sich niemand daran, dass die Kandidatenkür mit der Entscheidungstransparenz der chinesischen KP stattfand. Im Vergleich zur Resterampe der beiden Konkurrenzparteien konnte Baerbock gar nicht anders als glänzen. Für ein paar Tage sah es so aus, als müssten die Grünen einfach nur ein paar Wochen abwarten und sich dann in aller Ruhe aussuchen, wem sie das Mitregieren anbieten wollen.
Alles schien perfekt choreografiert und mit der Professionalität eines US-Wahlparteitags in Szene gesetzt - bis sich die Grünen Fehler auf absolutem Anfängerniveau leisteten.
Einfach gesagt war ihnen einfach nicht in den Sinn gekommen, jemand könnte etwas gegen ihre Spitzenkandidatin haben. Völlig blind von der Überzeugung der eigenen moralischen Überlegenheit hatten sie vorausgesetzt, jedes politisch denkende Wesen sänke angesichts so klarer Argumente automatisch in die Knie, um dem Jubelchor mit einzustimmen.
So funktionieren Demokratien aber nicht. Sie leben vielmehr davon, dass gerade bei der Neubesetzung hoher politischer Ämter genau hingesehen wird. Ist der Posten erst einmal verteilt, mag es einen gewissen Mangel an Experimentierfreude geben, aber bis es so weit ist, müssen sich die Aspirantinnen Zweifel an ihrer Göttlichkeit gefallen lassen.
Diese Zweifel drehen sich nicht unbedingt um sachliche Fragen. Ich erinnere nur an die peinlichen Rollstuhlwitze über Schäuble oder das Herumgemäkel an Merkels Frisur. Oft sind solche Sticheleien das Letzte, was einem einfällt, wenn die Argumente ausgegangen sind und es nur darum geht, ob sich das Objekt des Spotts provozieren lässt. So widersinnig dies auf den ersten Blick erscheinen mag: Derartige Angriffe müssen sein, denn zur Führungsqualität zählen nicht nur Sachargumente, sondern auch die Fähigkeit, unter Druck die Nerven zu behalten. Hier staucheln die Grünen derzeit.
Es begann mit Stümpereien, die ich sonst nur in Bewerbungsschreiben auf Praktikumsstellen sehe. Weil die Biografie zu diesem Zeitpunkt wenig Bemerkenswertes vorzuweisen hat, werden Banalitäten zu Sensationen gepimpt. Hast du schon mal aus dem Urlaub eine Ansichtspostkarte geschickt? Schreib: "umfangreiche Auslandserfahrungen im internationalen Logistikgewerbe". In wie vielen Sprachen kannst du "guten Tag" sagen? Schreib: "beherrscht fließend Spanisch, Englisch, Italienisch und Polnisch". Hast du deine Tochter zum Brötchenkaufen für die Geburtstagsfeier geschickt? Schreib: "Führungsposition mit Personal- und Budgetverantwortung im Eventmanagement". Nichts davon ist gelogen, es streckt die Wahrheit nur ein wenig.
In normalen Bewerbungsverfahren stört das nicht. Wir alle wissen, wie solche Texte zu lesen sind und filtern sie automatisch auf ein realistisches Maß. Am Ende zählt ohnehin nur, was die Bewerberin im Alltagsgeschäft liefert. Sollte sie an den entscheidenden Stellen gelogen haben, fällt das auf, und die nicht entscheidenden prüft ohnehin niemand. Genau für solche Realitätsabgleiche sind Probezeiten da.
Nun sieht das Grundgesetz bekanntlich keine Probezeiten für Bundeskanzlerinnen vor, Umso genauer untersucht die Öffentlichkeit die Lebensläufe im Vorfeld. Baerbocks Herumgepose wäre bei jeder Bewerbung in einer Firma glatt durchgegangen, aber eben nicht beim Kandidieren ums mächtigste Amt einer Industrienation. Da kann sie noch so oft wiederholen, wie sehr "sie das selbst am meisten" geärgert hat - neben der angekratzten Glaubwürdigkeit bleibt vor allem der Makel fehlender Professionalität.
Auf der anderen Seite ist mir Baerbocks Biografie relativ egal. Es steht so oder so nichts drin, was mich positiv oder negativ beeindruckt hat. Zumindest aus meiner Sicht war die ganze Flunkerei völlig überflüssig. Bedenkenswert für mich ist, dass ihr ein derartiger Anfängerfehler überhaupt unterläuft. Wenn sie schon nicht einmal einen ordentlichen Lebenslauf schreiben kann, was kann sie dann noch nicht?
Bücherschreiben, wie sich herausstellt. Sagen ihre Kritiker. Ich halte das für Blödsinn.
Seit den republikanischen Anfangstagen schreiben Aspiranten mehr oder weniger lesenswerte Pamphlete, in denen sie darlegen, wie tolle Hechte sie doch sind und was hier alles anders wird, wenn sie erst einmal an der Macht sind. So auch Baerbock. Jetzt hat sich ein Plagiatsjäger, über dessen Kamin schon einige Trophäen hängen, nicht entblödet, mit den gleichen Kriterien, die er bisher zum Auseinanderpflücken von Dissertationen ansetzte, Baerbocks Buch zu zerpflücken, und was er da gefunden hat, reichte meiner Einschätzung nach selbst bei Doktorarbeiten nicht aus, sich mehr als eine Rüge einzufangen. Das Wichtigste aber ist: Hier geht es nicht um eine wissenschaftliche Facharbeit, bei der jede Aussage entweder die eigene oder auf eine präzise benennbare Quelle rückführbar sein muss, sondern "nur" um ein politisches Spitzenamt. Da muss gar nicht jeder originelle Gedanke von ihr stammen, es reicht, wenn sie ihn teilt. Es ist natürlich nicht falsch, zu erfahren, ob eine Passage von den Webseiten der Bundeszentrale für politische Bildung oder irgendwelchen Schriften der Grünen stammt, an deren Zustandekommen Baerbock im Zweifelsfall ebenfalls Anteil hatte - ohne dass im Gegenzug ihre Beiträge als Zitat gekennzeichnet worden wären. Wichtig für das Verständnis des Buchs oder der Einschätzung Baerbocks politischer Agenda ist es jedenfalls nicht. Noch einmal: Sie will Kanzlerin werden, nicht Doktor. Ihr Buch wendet sich nicht an eine Handvoll Akademikerinnen, die Lust dabei empfinden, sich durch endlose, verquastete Schachtelsätze jenseits der Lesbarkeitsgrenze zu quälen. Es wendet sich an Millonen Wahlberechtigte, die eine Entscheidungshilfe für die kommende Bundestagswahl haben möchten. In meinem Regal stehen hunderte Bücher, viele davon Sachbücher, einige davon politisch. Keines davon zitiert auch nur ansatzweise so sauber wie eine Doktorarbeit. Niemand regt sich darüber auf.
Dass meine Sympathien für Baerbock überschaubar sind, sollte klargeworden sein. Sie und die Grünen sind für mich nicht gänzlich unwählbar. Das ist aber schon alles, wenn auch viel mehr, als ich über die meisten anderen Parteien sagen könnte. Egal, wie im Herbst meine Wahlentscheidung ausfallen sollte - Baerbocks aufgeblähter Lebenslauf und ihr Buch haben darauf keinen Einfluss, wohl aber die Art, wie sie und ihre Mitstreiterinnen mit Kritik umgehen. Von "Rufmord" ist da die Rede, von einer "Kampagne". Ich warte noch darauf, dass jemand von "Gotteslästerung" spricht, denn als genau das empfindet die Partei die Ruchlosigkeit, mit welcher der Pöbel der Spitzenkandidatin die Gefolgschaft verweigert. Natürlich ist es nicht nett, wie sie gerade behandelt wird, aber so erging es bislang allen, die sich um dieses Amt bewarben. Unter Feuer zu stehen, nicht wie ein getretener Dackel herumzukläffen, sondern souverän zu bleiben - darin zeigen sich Kanzlerqualitäten. Oft entscheiden nicht die großen Lebensentwürfe darüber, wer die Wahl gewinnt. Mitunter reicht ein Mittelfinger.
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