Mittwoch, 9. Juni 2021

Schutz ja, aber nicht für Arme

Eines muss ich der sich ohne erkennbaren Anlass "sozialdemokratisch" nennenden Partei lassen: Egal, wie niedrig die Ansprüche liegen - und sei es bündig mit dem Estrich - die SPD schlängelt souverän drunter durch. Dabei gelingt ihr das Kunststück, selbst Lachnummern wie Jens Spahn souverän und kompetent erscheinen zu lassen. Jüngstes Beispiel ist der Versuch, einen 15 Monate alten Fehlkauf als Wahlkampfmunition zu missbrauchen und Spahn als menschenverachtenden Zyniker hinzustellen. Beeindruckend ist hierbei, wie die SPD aus einer nahezu lückenlosen Kette von Fehlentscheidungen und Managementkatastrophen ausgerechnet den einen Punkt herauspickt, der sich am wenigsten für einen Skandal eignet. Der Vorwurf an den Minister lautet: Im März des Jahres 2020 habe der Minister für einen Milliardenbetrag aus China Masken liefern lassen, die sich bei näherer Prüfung als ungeeignet erwiesen. Daraufhin habe er überlegt, sie an soziale Einrichtungen und Obdachlose zu verschenken, oder wie es seine Kritiker ausdrücken: Die Masken taugen zwar nichts, aber für ein paar Hartz-IV-Empfänger reicht es.

Was diejenigen, die mit vor Empörung bebender Stimme daraus einen Skandal zu konstruieren versuchen, dabei übersehen, ist das Datum. März 2020. Für die, deren Erinnerungsvermögen weiter reicht als das eines Goldfischs: Das war der Monat des ersten Corona-Lockdowns. Die Bundesrepublik schlidderte praktisch unvorbereitet in diese Situation. Es mangelte an allem, selbst an Massenartikeln wie Gesichtsmasken. Die Leute banden sich Halstücher und Schals vor die Nase. Die etwas Geschickteren nähten sich selbst irgendwelche Stoffe zurecht. In den Hackspaces liefen 3D-Drucker im Dauerbetrieb, um für Krankenhäuser und Arztpraxen "Face Shields" zu drucken, im Prinzip vor dem Gesicht hängende Plastikfolien, um sich wenigstens etwas vor Tröpfcheninfektionen zu schützen. Die Haltung war: Egal, wie schlecht diese improvisierten Masken schützen, alles ist besser als nichts. Behalten Sie diesen Satz im Kopf.

Hemdsärmligkeit war angesagt, und wenn Jens Spahn eins kann, ist es: Erst handeln, dann denken. Der zweite Teil kann aus Zeitgründen gelegentlich auch wegfallen. Die Aufgabe war klar: Es mussten Masken her. Alles schrie nach der Hilfe des Staats, der gefälligst welche herhexen sollte. Also begab sich der Minister auf die Suche, wurde in China fündig - zu nicht gerade günstigen Konditionen, aber immerhin - und klickte auf "bestellen". Später stellte sich heraus, dass er besser einmal die Produktbeschreibung gelesen hätte. Dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass den Masken die den Einsatz in Krankenhäusern nötigen Prüfsiegel fehlten. So aber spielte sich wahrscheinlich eine Szene ab, die aus "Papa ante portas" stammen könnte: Im Foyer des Bundesgesundheitsministerium stapelten sich Masken, für die niemand Verwendung hatte und die jetzt wieder weg sollten.

Nun war "niemand" als Mengenangabe der Maskenbedürftigen nicht ganz korrekt. Bei genauerem Hinsehen belief sich die Zahl auf ungefähr 80 Millionen, nämlich all denen, die nicht in Krankenhäusern arbeiten, sondern sich einfach im Alltag schützen wollen und dabei mehr schlecht als recht improvisierten. Egal, was da aus China geliefert worden war, es war im Zweifelsfall um Klassen besser als die selbstgeschneiderten Gesichtstücher. Vor allem war es besser als nichts, was ziemlich genau der Zahl an Schutzmasken entsprach, die sozial Schwachen zur Verfügung stand. Die SPD versucht jetzt, es so hinzustellen, als habe man Müll an Obdachlose abgeben wollen. Umgekehrt ergibt es Sinn: Die Masken waren zwar nicht für den Klinikbetrieb, wohl aber für den Alltag geeignet, und es gab die Überlegung, sie an Leute abzugeben, die sich anders kaum hätten schützen können. Die sich mir stellende Frage lautet: Warum blieb es nur bei den Überlegungen?

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