Samstag, 3. Februar 2018

Wand und AStA und Farbe und wieder ein paar Prozent mehr für die AfD

Jetzt ist es amtlich. Die Alice-Solomon-Hochschule wird ein Gedicht von der Außenwand eines ihrer Gebäude entfernen lassen und durch ein anderes ersetzen - eines, bei dem der AStA noch nicht weiß, was daran verwerflich sein könnte. Über Monate zog sich der Streit hin, weit über hundert Artikel und Radiobeiträge sind dazu verfasst worden. Wir lernen: Kunst hat gefälligst kantenlos zu sein, gefällig, weichgespült, und sie hat sich allen unterzuordnen, die mit abenteuerlichsten Argumentationen sich theatralisch als Opfer, als potenzielle Opfer, als potenziell gefährdete Opfer, inszenieren. Nein, das hat natürlich nichts mit Zensur gemein, das erinnert überhaupt nicht an Totalitarismus. Wir hatten nicht im vergangenen Jahrhundert zwei Diktaturen, in denen festgelegt war, welche Kunst der Staatsideologie dienlich und welche "entartet" ist und sollten daraus vielleicht die eine oder andere Lehre gezogen haben.

Die Uni ist kein Bällebad

"Pffkrrz. Achtung, der kleine AStA will gern aus dem Kinderparadies abgeholt werden." Ich weiß nicht, was es diesmal war. Vielleicht waren die Bälle zu grell bemalt, oder Lisa-Marie hatte wieder den Joghurt gegessen, von dem doch alle wissen, dass er nicht vom Demeter-Bauern ist, und damit kommt der kleine AStA gar nicht klar.

Es mag für unsere hoffnungsvollen Nachwuchsakademikerinnen hart sein, aber Hochschulen sind als Orte, an denen unser Land die höchsten Bildungsweihen vergibt, die es hat, nicht als angenehm konzipiert. "Studere", lateinisch für "sich bemühen, abmühen" deutet es bereits an. Idealerweise stellt das Lernen an einer Hochschule jeden Tag aufs Neue die eigenen Überzeugungen infrage. Nichts Anderes ist nämlich Forschung: Hypothesen aufstellen, Experimente zur Überprüfung ersinnen, sie durchführen, und erst, wenn die Hypothesen erfolgreich alle Angriffe überstanden haben, sie ganz vorsichtig in den Rang einer Wahrheit erheben - immer bereit, sie erneut zur Debatte zu stellen.

Da muss man auch einmal damit leben können, an einer Wand vorbeigehen zu müssen, auf der etwas steht, was einem nicht ganz in den Kram passt. Zumal an dieser Wand keine Hakenkreuzschmierereien oder das Horst-Wessel-Lied standen, sondern einfach nur ein Gedicht. Nicht das beste, aber ich habe auch schon sehr viel schlechtere gelesen.

Das sieht der AStA anders. In seiner Weltsicht hat eine Hochschule eine Art Disneyland zu sein. Schon von weitem sieht man Cinderellas Märchenschloss, und je näher man herankommt, desto quietschbunter wird es. Micky, Goofy, Donald und alle ihre Freunde winken schon von fern und wollen mit einem spielen.

Der AStA hat gesprochen

Doch sehen wir uns die Erklärung des AStA genauer an. Es ist ein Dokument fraktaler Dummheit. Egal, wie nah man heranzoomt, es kommt nur Blödsinn dabei heraus:
Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind. 
Für diejenigen, an denen die Schuljahre so spurlos vorübergezogen sind, dass elementare Lesekenntnisse nicht zu den erworbenen Kulturtraditionen gehören: Im Gedicht steht nicht "notgeiler Spanner, der alles vergewaltigt, was ihm vors Gemächte kommt", sondern "Bewunderer". Stellen wir uns die Szene noch einmal vor: Da ist eine Allee mit Bäumen, die Sonne scheint wahrscheinlich, es ist ein angenehmer Frühlingstag, nicht zu kalt, nicht zu warm, die Allee entlang gehen ein paar offenbar nicht ganz unattraktive Frauen, und irgendwo abseits steht (oder sitzt vielleicht auf einer Parkbank) ein stummer Bewunderer. Er rennt nicht auf die Frauen zu, quatscht sie an oder betatscht sie, er steht (oder sitzt) einfach nur da und denkt sich: "Meine Güte, was sehen die toll aus." Mehr nicht. Vielleicht ist er viel zu schüchtern, vielleicht lässt er auch jeden weitergehenden Gedanken gar nicht erst zu. Wir wissen es nicht, das Gedicht geht mit Details nicht gerade üppig um. Für den AStA ist das aber alles eine große Suppe. Bewundern, Vergewaltigen - das unterscheidet sich doch allenfalls graduell:
Zwar beschreibt Gomringer in seinem Gedicht keineswegs Übergriffe oder sexualisierte Kommentare und doch erinnert es unangenehm daran, dass wir uns als Frauen* nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches „Frau*-Sein“ bewundert zu werden.
OK, fangen wir mit der Art und Weise an, wie sich der AStA menschliche Erstbegegnungen offenbar vorstellt: Wenn ein Mensch eine Frau sieht, muss er oder sie sofort jeden optischen Eindruck von ihr aus dem Gedächtnis bannen, damit nicht die Gefahr einer darauf basierenden Sym- oder Antipathie besteht. Dann geht Mensch - ganz wichtig, mit abgewendetem Gesicht, bloß nicht ansehen - auf die Frau zu, überreicht ihr ein Klemmbrett mit einem IQ-Test und einem auszufüllenden Charakterprofil und fordert sie in möglichst teilnahmslosen Ton auf, die Unterlagen durchzugehen und wieder zurückzugeben. Nachdem Mensch auf diese Weise sich einen Eindruck der nicht-äußerlichen Merkmale der Frau verschafft hat, hinterlässt Mensch seine Kontaktdaten bei einer Vermittlungsbehörde, damit die Frau sich auf keinen Fall gegen ihren Willen angesprochen fühlt. Sollte es in der Zukunft zu einem schriftlichen oder - G'tt bewahre! - gar mündlichen Informationsaustausch kommen (was dazu führen könnte, dass die Frau aufgrund des Klangs ihrer Stimme irgendwelche von ihren inneren Werten ablenkenden Daten hinterlassen könnte), ist natürlich streng darauf zu achten, dass Mensch die Frau niemals zu sehen bekommt, denn das sind ja Äußerlichkeiten, und die könnte man ja bewundern.

Ich will ja nicht dem Islam das Wort sprechen, aber der hat sich für genau solche Fälle die Ganzköprerverschleierung einfallen lassen. Das ist in unserer technologisierten Welt natürlich nicht mehr zeitgemäß. Vor allem kann man es Frauen nicht zumuten, sich äußerlich so zu geben, dass an ihnen nichts Bewundernswertes zu sehen ist. Das wäre nämlich Victim Blaming. Wahrscheinlich wäre es eine gute Idee, alle trügen Augmented-Reality-Brillen, die automatisch alle Menschen mit schwarzen Rechtecken überblenden und nur den Blick auf diejenigen freigeben, die in einer Datenbank als sich eindeutig männlich Identifizierende hinterlegt wurden. Die anzusehen und für ihr Äußeres zu bewundern, ist aus Sicht des AStA OK.
Die U-Bahn-Station Hellersdorf und der Alice-Salomon-Platz sind vor allem zu späterer Stunde sehr männlich dominierte Orte, an denen Frauen* sich nicht immer wohl fühlen können. Dieses Gedicht dabei anzuschauen wirkt wie eine Farce und eine Erinnerung daran, dass objektivierende und potentiell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können. 
Und daran hat dieses Gedicht - nochmal welchen Anteil? Ah, da steht's:
Eine Entfernung oder Ersetzung des Gedichtes wird an unserem Sicherheitsgefühl nichts ändern. Dennoch wäre es ein Fortschritt in die Richtung, dass es unsere Degradierung zu bewunderungswürdigen Objekten im öffentlichen Raum, die uns Angst macht, nicht auch noch in exakt solchen Momenten poetisch würdigen würde. 
Bei weiteren Fragen oder konkreten Vorschlägen für alternative Gedichte, stehen wir gerne zur Verfügung  
Oder, ehrlicher formuliert: Das nächste Gedicht hat gefälligst in Zusammenarbeit mit uns ausgewählt zu werden, sonst treten wir noch einmal so eine Welle los.

Verteidigungsversuche

Es hagelte Kritik, aber es gab auch einige - personell wenig überraschende - Versuche, das Gedichteüberpinseln moralisch zu rechtfertigen. Leider fielen sie argumentativ reichlich dünn aus:

"Die Nazis sind auch gegen das Wändestreichen." Ich gebe zu, es verwirrt mich auch, dass gerade die AfD sich auf einmal für Kunstfreiheit einsetzt, zumal sie andernorts ein etwas gespannteres Verhältnis zu den Musen hat, aber auf der anderen Seite: Ist eine Meinung deswegen automatisch falsch, weil ein Nazi sie hat? Wenn die AfD - einfach, um euch zu ärgern - im Bundestag einen Antrag zur Erleichterung des Familiennachzugs einbrächte, wärt ihr dann auf einmal dagegen? Kann man euch wirklich so leicht vor sich hertreiben?

"Es ist doch schön, wenn sich junge Leute politisch engagieren." Ja, das ist es in der Tat. Es ist auch das Recht, vielleicht sogar die Pflicht der jüngeren Generation, überspitzte Positionen zu vertreten. Kompromisse schließt man schon früh genug ab. Und genau weil es zum politischen Diskurs gehört, für eine schlechte Argumentation für einen idiotischen Standpunkt öffentlich die Rechnung zu kassieren, dürfen sie auch diese Lektion lernen. Früher beim Krippenspiel im Kindergarten war es noch niedlich, wenn Josef den Text vermasselte. Gut eineinhalb Jahrzehnte später gelten andere Qualitätsmaßstäbe, insbesondere für Studierend_innen einer staatlichen Hochschule.

"Und was ist mit Dieter Wedel?" Say what? Ernsthaft? Ist das euer Argument? Für genau diese Rhetorik, vom eigentlichen Diskussionspunkt abzulenken und auf ein völlig anderes Thema abzulenken, habt ihr doch eigens einen Kampfbegriff erfunden: Whataboutism. Es ist doch genau eure Taktik, dass Dinge total böse sind, wenn ihr sie mit eurem Pseudofachvokabular runterputzen könnt. Genau dafür und für nichts Anderes habt ihr sie doch alle erfunden, die ganzen Zauberworte wie Mansplaining, Ableism, Derailing oder Lookism. Wenn andere außer Euch so etwas benutzen, dann ist die Aufregung groß, aber wenn ihr selbst euch dieser Mittel bedient, dann ist das auf einmal in Ordnung? Könnten wir uns vielleicht entweder darauf einigen, dass keine Seite diese Verhaltensweisen einsetzt oder, was ich persönlich bevorzuge, dass wir einander tief in die Augen schauen, einsehen, dass diese Kampfvokabeln kompletter Schwachsinn sind und sie dann ganz schnell in einem ganz tiefen Loch entsorgen?

"Haben wir wirklich nichts Wichtigers, um das wir uns streiten?" Stimmt, haben wir, und genau hier setzt meine grundsätzliche Kritik an. Ihr behauptet, für eine bessere Welt zu kämpfen, und an einigen Stellen habt ihr sogar Erfolg, Im Großen und Ganzen aber begeht ihr die gleichen Fehler wie vor einem halben Jahrhundert die 68er: Die große Revolution blieb aus, abgesehen von ein paar kleinen Verbesserungen blieb hierzulande vieles gleich, und weil keiner das zugeben wollte, fingt die 68er auf einmal an, sich für Lateinamerika zu interessieren - ganz gewiss kein unwichtiges Thema, aber doch ganz klar eine Ausweichreaktion, weil es im eigenen Land nicht voran ging. Genau der gleiche Quatsch passiert gerade noch einmal. Wieder einmal stellt die "Linke" beleidigt fest, dass ein 80-Millionen-Land nicht über ihr Stöckchen hüpfen möchte, ja schlimmer noch: dass eine Gegenbewegung einsetzt, gefährlich, aggressiv und bisweilen sogar brutal. Keiner hat eine wirklich gute Idee, was man der erstarkenden Ultrarechten entgegensetzen kann. Es gibt viele Analysen, einige Ideen, aber es sieht so aus, als müssten wir uns zumindest mittelfristig darauf einstellen, dass ein Sechstel der hier lebenden Menschen offen rechtsreaktionär auftritt. Auch das linke Spektrum hat das begriffen, und weil es sein Versagen nicht eingestehen mag, wendet es sich gegen die eigenen Leute. Hier lassen sich wenigstens noch Erfolge erzielen, denn Gegner in den eigenen Reihen wehren sich natürlich nicht ernsthaft. Für den Moment mögen die auf solche Weise gewonnenen internen Scharmützel über die verlorenen echten Schlachten hinwegtäuschen, aber der Preis ist hoch: Immer weniger Leute haben für die zunehmend abgefahrenen Argumentationen (so steht zum Beispiel  "Person of Color" inzwischen nicht mehr für Menschen nicht-weißer Hautfarbe, sondern für "Menschen, die von Rassismus betroffen sind", also auch Polen, die durch das Vorurteil, Diebe zu sein, in Deutschland diskriminiert werden) noch Verständnis und lassen sich vom diffusen Versprechen der Ultrarechten ködern, mit diesem Unsinn aufräumen zu wollen. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber mir wird dabei mulmig.

Sie werden es nicht begreifen. Bis zuletzt.

Wenn eines Tages die AfD mit in der Regierung sitzt, wenn wieder unter abenteuerlichen Anschuldigungen Oppositionelle verfhaftet und in fragwürdigen Verfahren verurteilt werden. Wenn - nicht nur in Sachsen, sondern bundesweit - der Mob das erledigt, was der zu diesem Zeitpunkt schon arg gebeutelte Rechtsstaat sich nicht zu erledigen traut, werden die "Linken" ungäubig auf die Wahlergebnisse starren und sich beleidigt fragen, warum das Volk sich von ihnen abgewendet hat, statt ihnen dankbar zuzujubeln.

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