Die Überschrift mag zu diesem Zeitpunkt überraschend wirken. Scheinbar ist die SPD am Ende. Erste Umfragen sehen sie bei 16,4 %. Der vor wenigen Monaten noch mit 100 Prozent gewählte Parteivorsitzende ist zur absoluten Lachnummer verkommen. Es gibt keine Fehlentscheidung, keinen Umfaller, den er ausgelassen hätte. Der Noch-Außenminister versuchte seine Absetzung mit einer peinlichen Jammernummer und Zitaten seiner Tochter abzuwenden und hat gerade dadurch bewirkt, dass keine derzeit mögliche Parteiführung ihn im Amt lassen kann, zumindest nicht ohne Gesichtsverlust. Nicht, dass Gesichtsverlust bei dieser Partei noch etwas zählte. Selbst die kontrollierte Machtübergabe des Vorsitzes misslang, weil jemand zart darauf hinwies, dass es "Parteivorsitz", nicht "Erbkönigtum" heißt, und dass es dem scheidenden Vorsitzenden eben nicht zustünde, sich einfach wild aus der Mitgliederschaft jemanden herauszupicken und kraft seiner verschwundenen Autorität zu verkünden: Die ist es.
Die designierte Nachfolgerin reißt auch nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin. Zu sehr neigt sie zu verbaler Kraftmeierei, zu selbstverliebt ist ihr Auftreten, und doch: Wenn jemand die SPD noch retten kann, wenn es jemanden gibt, den die SPD in diesen Tagen braucht, ist es Andrea Nahles. Das Spiel ist riskant, die Partei scheinbar in Auflösung begriffen, aber gerade deswegen sage ich: Etwas Besseres konnte ihr nicht passieren, wir erleben hier möglicherweise nicht das Ende, sondern einen neuen Anfang. Das ist kein heilloses Chaos, das ist der Umbau der SPD zu einer demokratischen Partei.
Über Jahrzehnte verwechselte die SPD großspuriges Mackertum mit Führungsstärke. Über Jahrzehnte unterdrückte sie dringend notwendige interne Diskussionen mit Kampfvokabeln wie "Solidarität" und "Stärke zeigen". Auf Parteitagen galten Kampfkandidaturen als Zeichen der Zerrissenheit, nicht als demokratische Selbstverständlichkeit. Vorsitzende wurden mit Zustimmungsraten gewählt, die irgendwo zwischen DDR und Nordkorea lagen. Peinlich genau wurde mit der Stoppuhr gemessen, wie lang die Delegierten applaudierten, und selbst bei Ansprachen auf dem Niveau einer Abirede musste es alle von den Stühlen reißen.
Vielleicht ist der einzige historische Verdienst, den man Martin Schulz zurechnen kann, nicht der, die SPD in den Abgrund gerissen, sondern durch seine Inkompetenz die Widersprüche in seiner Partei offengelegt und sie in einen Umwandlungsprozess gezwungen zu haben. Vielleicht geht es schief, aber ich behaupte, die Erfolgsaussichten sind gar nicht schlecht.
Ich sehe die missglückte Machtübergabe an Nahles nicht als peinliches Missgeschick, sondern als deutlichen Hinweis des Parteivolks: Es gibt Regeln. Nichts gegen Andrea, aber die wird immer noch gewählt, nicht inauguriert. So ist auch die Kampfkandidatur der Flensburger Bürgermeisterin gegen Nahles zu werten: nicht als ernsthaften Zweifel an ihrer Führungsrolle, sondern als Signal, dass sie eine echte Wahl im Sinne von Auswahl haben möchte.
Obwohl ich nichts von Nahles halte: Sie hat genau die richtige Mischung zwischen Bierzelt und Konferenzraum, den es gerade braucht. Das Bierzelt, in dem sie die gebeutelte Parteiseele aufpeppelt, der Konferenztisch, an dem sie hart, aber verlässlich verhandelt. Nahles hängt seit Jahrzehnten im Parteidickicht. Das Attribut "personeller Neuanfang" ist das Letzte, was mir bei ihrem Namen in den Sinn kommt. Dennoch hat sie es geschafft, sich aus den größten Katastrophen (sieht man einmal von ihren eigenen peinlichen Auftritten ab) herauszuhalten. Es gab schon einmal eine Frau, die völlig unterschätzt viele Jahre im Schatten der Platzhirsche ganz ruhig ihre Sachen erledigt hat, um dann, als um sie herum alles kollabierte, als Retterin aufzutreten, die Partei zu reformieren und wieder an die Macht zu bringen: Angela Merkel. Vielleicht gelingt Andrea Nahles das Gleiche für die SPD.
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