Egal, welchem Ende des politischen Spektrums er angehört - wenn der Deutsche keinen Führer hat, fühlt er sich irgendwie leer. Da bildet die Netzbewegung keine Ausnahme. Edward Snowden heißt seit einem Jahr ihr Idol - so rein, so klar, so edel.
So edel, dass die sein Antlitz zeigenden Heiligenbildchen jetzt eine Millionen mal zu sehen sein sollen - auf Laternenpfählen, auf Hauswänden, auf Zugfenstern, eben überall dort, wo der politisch bewegte Aktivistenteenager sie dem unaufgeklärten Restvolk zwangsvorzuführen beschlossen hat. Ein Spießer, wer so etwas Sachbeschädigung nennt. Für die gerechte Sache hat das Gesetz zu schweigen.
Früher war es Julian Assange, dem unsere uneingeschränkte Verehrung galt, doch der ist bei uns unten durch, seit da diese ungeklärten Vergewaltigungsvorwürfe aus Schweden im Raum stehen. Ein Spießer, wer auf uralte Rechtsgrundsätze verweist, denen zufolge ein Angeklagter bis zu seiner Verurteilung als unschuldig zu gelten hat. Nein, schuldig ist nicht der, dem man es nachweist, sondern der, dem wir es zutrauen, und wenn sich jemand erst einmal so schwer befleckt hat, kann er unmöglich mit seiner Whistleblowingplattform Demokratie und Freiheit weltweit vorangebracht haben. Nein, Julian ist passé.
Edward hingegen ist super. So wie die westliche Welt die Jahre nach Geburt ihres Heilands zählt, so lautet die Zeitrechnung der Netzbewegung "im Jahr nach Snowden". Google liefert knapp viereinhalbtausend Treffer.
Ich will nicht die Leistung dieses Menschen schmälern. Snowden hat sehenden Auges sein komplettes Leben ruiniert, um der Welt die Schweinereien der Geheimdienste vorzuführen. Er muss jetzt in ständiger Sorge leben, in die USA ausgeliefert und dort wegen Hochverrats ermordet zu werden. Für das, was er getan hat und gerade auf sich nimmt, verdient er Respekt und Dank.
Was er nicht verdient, ist dieses lächerliche Fanboytum, das seit Monaten in der Bewegung vorherrscht. Keine Lebensäußerung, kein Detail seines Daseins, das nicht ausgiebigst durch sämtliche Social-Media-Kanäle getrieben wird. Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen Tagen die Meldung vorgesetzt bekam, Snowden hätte kurz vor seiner Flucht eine Cryptoparty veranstaltet. Ja und? Welche Aussage hat das? Bekommt die Cryptoparty, die innerhalb der Netzgemeinde ein leichtes Schmuddelimage hat, weil sie den Profis zu unprofessionell und den Politischen zu unpolitisch ist, damit den Ritterschlag digitalgesellschaftlicher Akzeptanz? Wenn selbst Super-Snowden an solchen Veranstaltungen teilnimmt, können die so schlecht nicht sein?
Was soll diese komplett hirnverbrannte Aktion mit den Millionen Aufklebern? Glaubt ihr, in diesem Land werden politische Entscheidungen neuerdings nicht mehr in Parlamenten, sondern auf Laternenmasten getroffen? Glaubt ihr wirklich, dass eine Handvoll hyperaktiver Netzbewohner, die in Köln mit viel guten Willen 500, in Hamburg bestenfalls 1200 Menschen auf die Straße bekommen, dadurch einen politischen Stimmungswechsel im Land erzeugen, dass sie Aufkleber auf Wände pappen? Wahrscheinlich stellt ihr euch vor, wie die Kanzlerin morgens aus dem Haus geht, an der Straßenlaterne so einen Aufkleber sieht und sich sagt: "Mensch, wenn das da steht, dann wird es wohl richtig sein. Schnell mal den Innenminister anrufen, dass der den Asylantrag unterschreibt."
Im Vergleich zur filterblaseninduzierten Traumwelt, in der Teile der Netzbewegung offenbar ihr Dasein fristen, kommt mir selbst die Disney-Verfilmung von "Alice in Wonderland" wie Dokumentarfernsehen vor. Abgesehen von der absoluten Öffentlichkeitsinkompatibilität solcher Aktionen bietet man auch noch überflüssigerweise eine verwundbare Flanke: Was passiert eigentlich, wenn es der Gegenpropaganda gelingt, irgendein dreckiges Detail aus Snowdens Privatleben herauszufinden? Lasst ihr den Mann dann auch so fallen, wie ihr Assange habt fallen lassen? Was braucht ihr, um euren Heiland ans Kreuz schlagen zu können? Eine antisemitische Äußerung? Unsittliche Annäherung an eine Minderjährige? Spenden von Nazis? Welchen Beweis soll ich für euch photoshoppen?
Unterstützt Snowden, er hat es verdient. Aber behaltet im Hinterkopf, dass auch er nur ein Mensch ist, dass er zwangsläufig Fehler haben muss und dass er nicht für euch die Welt retten wird. Das müsst ihr schon selbst erledigen.
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