Montag, 9. April 2012

Deutsche Riten Teil 2 - Vordenker

"Günter - wer?" - "Grass." - "Und wer soll das sein?" - "Weiß nicht genau, irgendosein Typ halt."

Dieser Dialog wird wohl leider nie stattfinden, allenfalls in ein paar Jahrzehnten, wenn dieser Mann und diejenigen, die so einen Popanz um ihn veranstalten, den Weg alles Irdischen gegangen sein werden und die Zeit dazu beitrug, seine Bedeutung auf die ihm angemessene Größe schrumpfen zu lassen.

Gut, er hat einen Literaturnobelpreis, aber erstens bekam er den nicht für jede seiner vor Selbstgefälligkeit strotzenden Äußerungen, sondern für das eine, Ende der Fünzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts geschriebene Buch, dem man eine gewisse Relevanz nicht absprechen kann: die "Blechtrommel".

Das reicht dem Deutschen natürlich nicht. Er braucht Superhelden, geistige Führer, intellektuelle Lichtgestalten, die stellvertretend für ihn die Fahne der "Dichter und Denker" hochhalten. Das allein erklärt, wie ein ehemaliger, in den frühen Achtzigern gestürzter Bundeskanzler nahezu Heiligenstatus genießt. Das erklärt, warum ein Literaturkritiker, der wahrscheinlich deswegen irgendwelche unlesbaren Schinken in den Rang ewiger Meisterwerke erhebt, weil er sicher sein kann, dass niemals jemand den Blödsinn lesen und den Kritiker einen Scharlatan zeihen wird, unangefochten ganze Fernsehsendungen bestreitet. Das erklärt, warum eine ehemalige EKD-Ratsvorsitzende neben aller berechtigten Anerkennung blindlings wie ein Popstar verehrt wird.

Nun hat also der selbsternannte Enkel Thomas Manns wieder die Sehnsucht nach Schlagzeilen verspürt. Wahrscheinlich liegt bei Gelegenheit ein neues Buch an, und da ist es nicht falsch, sich in Erinnerung zu rufen. Heraus kam etwas, das bei jedem Deutschlehrer binnen Sekunden eine Fünf kassiert hätte, wäre es ohne Namensnennung veröffentlicht worden. Selbst die kritikloseste Schülerzeitung hätte sich dreimal überlegt, ob sie wirklich jedes Pennälergekritzel abdrucken will.  Trägt der Pennäler jedoch einen Nobelpreis, muss das, was er von sich gibt, irgendeine Relevanz besitzen.

Was folgte, ist das typische deutsche Empörungsritual, vermischt mit dem ungläubigen Entsetzen darüber, dass der teutonische Denktitan so daneben greifen konnte. Nachdem sich jetzt auch der letzte Schwätzer darüber auslassen durfte, dass ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS einen solchen Text verfasst, gehen wir langsam zur Phase 2 über - zur Relativierung.

Eingeleitet wird diese Phase dadurch, dass irgendeiner der Kritiker die Sache übertreibt. In diesem speziellen Fall ist es das Einreiseverbot nach Israel nebst der vom israelischen Innenminister erhobenen Forderung nach Aberkennung des Nobelpreises. Das wirkt selbst auf die schärfsten Gegner langsam etwas albern, und da es andrenalindurchtränkten Köpfen schwer fällt, zwischen Aussage und Person, Ursache und Wirkung, Reaktion und dem eigentlichen Kern des Streits zu differenzieren, wird mit dem Unverständnis über die Reaktion der israelischen Regierung auch eine Rehabilitation der umstrittenen Äußerungen stattfinden. "Was gesagt werden muss" - das klingt doch schon so nach "Man wird ja wohl noch mal sagen dürfen." Angesichts des Fäkalsturms bekommen einige Leute Mitleid, und irgendwann trauen sich dann auch wieder diejenigen aus der Deckung hervor, denen der Gescholtene aus dem Herzen sprach. Als Ergebnis kommt ein "irgendwo hat er ja doch Recht" heraus. Das funktionierte fantastisch bei einer ehemaligen Tagesschausprecherin und einem ehemaligen Bundesbanker, die beide mit einigen gut dosierten Provokationen ihre Buchverkäufe ankurbelten - wissend, dass sie nur stoisch den automatisch einsetzenden Entrüstungssturm erdulden mussten, um daraus als Märthyrer für die Wahrheit hervor zu gehen.

Das Verhältnis des Deutschen zu seinen Vordenkern hat borderlineartige Züge. Entweder Lichtgestalt oder Teufel, dazwischen gibt es nicht viel. Hat man erst einmal eine Rolle zugeteilt bekommen, ist es aufgrund der darauf einsetzenden selektiven Wahrnehmung fast unmöglich, aus ihr auszubrechen. So musste Richard von Weizsäcker exakt eine wirklich gute Rede halten, um zu erreichen, dass die vielen relativ belanglosen Reden, die er in der Folge hielt, nur im Licht seiner zu Recht gerühmten Worte zum 8. Mai gesehen wurden. Ähnlich geht es Päpsten. Wenn Ratzinger eine Rede hält, flüstern wir ehrfurchtsvoll, wir werden wohl Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte brauchen, um die volle Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Unsinn, der Kerl bringt es einfach nicht fertig, sich verständlich auszudrücken, schwaches Bild für den Inhaber eines akademischen Lehramts, aber so ist es nun einmal.

Will man die Seite wechseln, reicht es also nicht aus, einfach mal etwas Dummes zu sagen, da müssen die Reizthemen her, mit denen man zuverlässig seine Fanboys irritieren kann. Wichtig ist auch: Ist man erst einmal auf der dunklen Seite der Macht, gibt es kein Zurück mehr. Die neuen Freunde müssen einen für den Rest der Zeit durchfüttern.

Damit die Schlauköpfe unserer Nation auch zuverlässig von den Dummerles unterschieden werden können, bedarf es natürlich einiger Insignien. Rauchen (Grass, Schmidt) ist schon einmal ein guter Ansatz, Schnurrbart (Biermann, Grass) kommt auch immer gut, ganz wichtig sind aber auch bizarre Kleidung (Grass, Papst) und narzisstisches Auftreten (Schmidt, Reich-Ranicki, Biermann, Grass). Haben Sie gesehen, wer in allen Klammern vorkam? Wissen Sie jetzt, warum der Mann einfach intellektuell sein muss?

Allein schon aus statistischen Gründen ist es äußerst wahrscheinlich, dass im deutschsprachigen Raum mindestens 10 Millionen Menschen erheblich schlauer als man selbst sind. Doch Vorsicht: Erstens sind sie es nicht immer und vor allem auch nicht in allen Disziplinen. Ein Heiliger ist nicht rund um die Uhr heilig. Die meiste Zeit über verzapft er sogar unfassbaren Unsinn. Das ändert nichts daran, dass wir ihn für seine großen Momente bewundern können, so lange wir den Rest ebenfalls wahrnehmen und sauber einordnen. Wer seine Heiligenbilder nicht auf zu hohe Sockel stellt, riskiert auch nicht, dass diese beim Herunterfallen zu hart aufkommen.

Was das für Grass heißt? Nun, lassen Sie es mich mit den folgenden Zeilen sagen, die ich Sie mit bedächtiger Stimme im Ledersessel Ihrer Bibliothek zu lesen bitte, die Halbbrille auf der Nasenspitze sitzend:

Was beklagt werden muss

Ein
Gedicht
entsteht nicht allein
dadurch,
dass man einen albernen Schnurrbart
eine schlecht sitzende Strickjacke
und eine Pfeife in der Hand trägt.

Manchmal
entsteht es auch
durch eine klemmende
Returntaste.

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