Gegen den Namen in meinem Ausweis habe ich nichts, sieht man einmal davon ab, dass er für Deutschsprachige komisch buchstabiert wird. Dass ich hier unter einem zugegebenermaßen etwas sperrigen Namen schreibe, hat mehrere Gründe, und da gerade bei Google Plus wieder die Klarnamendebatte tobt, nehme ich dies zum Anlass, eine Lanze für Pseudonyme zu brechen.
Als ich noch ein Kind war, wusste kein Mensch, dass man Computer überhaupt vernetzen kann, geschweige denn, dass es ein Internet gibt. Wer mit einer größeren Menge Menschen reden wollte, ging in die nächstgelegene Schankwirtschaft, wo man ihn im Zweifelsfall schon kannte. Man hatte vielleicht Spitznamen, aber natürlich konnte jeder, der es wissen wollte, den richtigen Namen erfahren. Das, was einer Netzkommunikation noch am nächsten kam, war der Amateurfunk, und hier kannte man einander unter seiner amtlichen Funkerkennung. Die Einzigen, die damals halbwegs anonym kommunizierten und sich biszweilen bizarr anmutende Namen gaben, waren die CB-Funker. Die Jüngeren unter Ihnen werden vielleicht die Wiederholungen amerikanischer Truckerspielfilme aus den Siebzigern kennen. Die übergewichtigen, unrasierten Rednecks, deren einziger Trost für ihr verkorkstes Leben darin bestand, sich den Titel "Könige der Landstraße" verliehen zu haben, waren dann auch sinnstiftend für eine ganze Horde sozial Herausgeforderter in deutschen Plattenbauten, die ihren Kummer, es im Gegensatz zu ihren Filmvorbildern nicht einmal zu einem LKW-Führerschein gebracht zu haben, zu kompensieren versuchten, indem sie sich beispielsweise "Loverboy69" oder "Turbomike" nannten und den Äther mit Inhalten füllten, gegen die 4chan wie das Literarische Quartett wirkt.
So sahen sie aus, die Chatrooms des Analogzeitalters, nur mit dem Unterschied, dass sich das gesprochende Wort versendete und keine Institution alles für die Ewigkeit archivierte. Die ganze CB-Funker-Kultur war mir komplett fremd. Das Einzige, was bei mir hängen blieb, war: Die Turbomikes und Loverboys kommen dem, was man sich unter einem kompletten Verlierer vorstellt, schon sehr nah.
Dann erschienen die Homecomputer. Die meisten von uns benutzten sie zum Spielen und Programmieren, und damit tauchte die Frage auf, wie man an Software herankommt. Bei Preisen, die locker das Taschengeld ganzer Monate verschlangen, war an legale Beschaffung von Programmen nicht zu denken, also kopierte man sie sich - wohl wissend, dass dies strafbar war. Genau hier lag aber auch der Reiz. Das Entfernen eines Kopierschutzes galt je nach Komplexität als bewundernswerte Leistung, und wer sein Umfeld immer mit der neuesten Ware versorgen konnte, genoss hohes Ansehen. Ein gewisses Risiko war freilich dabei, und je öffentlicher man den Tausch betrieb, desto mehr musste man fürchten, Ärger zu bekommen. Also legten wir uns Pseudonyme zu und benutzten Postlagerkarten zum Softwareversand. Dass man sich untereinander nur unter irgendwelchen Kürzeln kannte, war durchaus üblich.
Die ewige Kopiererei wurde natürlich auf die Dauer lästig. Parallel dazu entwickelte sich ein immer größerer Markt an frei programmierter Software. Diese in der Regel recht kleinen Programme auf Disketten auszutauschen, war technisch zwar möglich, aber oft genug hatten die eigenen Bekannten das gerade Gesuchte nicht zur Hand. Dafür gab es Mailboxen, die von einem Bündel Enthusiasten betrieben nicht nur viel Software boten, sondern auch den Computer in ein Kommuniktionsterminal verwandelten. Auf einmal war es möglich, mit wildfremden Leuten irgendwo auf der Welt zu reden. In dieser Welt trat allerdings ein Wertewandel ein. Pseudonyme waren auf einmal überhaupt nicht gern gesehen, und man musste mit dem Mailboxbetreiber längere Diskussionen überstehen, wollte man seinen Tarnmantel behalten.
Als in den 90ern das Usenet immer populärer wurde, gewann die Diskussion an Schärfe. Wer nicht unter seinem Klarnamen schrieb, war bei vielen Diskussionsteilnehmern sofort unten durch. Das Usenet wurde von den Meisten als eine Art ausgelagerte Realität angesehen, und genau, wie es in der Realität zum guten Ton gehörte, einander mit echtem Namen anzusprechen, wollte man auch im Netz wissen, mit wem man sich gerade unterhält. Die Diskussion nahm bisweilen bizarre Züge an, ging es doch vielen Leuten allein darum, offensichtliche Pseudonyme nicht mehr lesen zu müssen. Ob Tatjana Borowski tatsächlich die war, die sie zu sein vorgab, war egal, Hauptsache, man hatte das Gefühl eines schön gepflegten Potemkimschen Dorfes.
Die Argumente haben sich seitdem nicht wesentlich geändert. Was sich geändert hat, ist meine Haltung. War ich früher ein vehementer Befürworter der Klarnamen, plädiere ich heute für ein Recht auf Pseudonymität. Warum?
Weil sich das Netz gewandelt hat und weil ich es inzwischen besser zu verstehen meine. Die hinter Klarnamen stehende Absicht war damals wie heute Abgrenzung - Abgrenzung nach unten, gegen die Spielkinder, die das Netz nicht so erwachsen behandelten wie die Profis. Damals wollte man sich gegen den Pöbel von Metronet und AOL, später von T-Online, zur Wehr setzen, Leuten, die nicht aus dem edlen akademischen Umfeld ihren Weg ins Netz gebahnt hatten, sondern nur mit einer CD und genügend Kleingeld ausgestattet ihre Rechner ans Netz klemmten, völlig unbeleckt in diverse Foren stürmten und dort die elitäre Gemütlichkeit störten. Wir Alumni waren aus ganz anderem Holz geschnitzt. Bei uns hatte eine gewisse Vorsortierung allein schon deswegen stattgefunden, weil man ein Abitur haben musste, optimalerweise eine Naturwissenschaft betrieb und auf diesem Weg an die heiß ersehnte Genehmigung kam, eines der Terminals im Rechenzentrum zu benutzen. Wer dann seine ersten Schritte ins Netz unternahm, wurde meistens von einem der Einwohner an die Hand genommen und in die wichtigsten Benimmregeln eingeweiht. Nur wer diesen Initiationsritus durchlebt hatte, war würdig genug, in den Foren überhaupt beachtet zu werden. Die von den kommerziellen Betreibern massenweise hereinströmenden, alle Regeln missachtenden Unruhestifter wurden mit etwa der gleichen gelassenen Herzlichkeit empfangen wie Wasserwerfer auf einer S21-Demonstration.
Mit der Kommerzialisierung des Netzes hat sich dieser Popanz zum Glück erledigt. Das Netz ist die Masse derer, die sich daran beteiligen, und da steuert eben nicht jeder auf einen akademischen Abschluss zu. Die Menschen haben erkannt, dass Kommunikation an sich einen Wert darstellt, und wie im realen Leben sortiert sich auch im Netz alles zurecht. Wer gern unter sich bleiben möchte, kann dies weiterhin. Auf Cooler_Kevin95 und KPSChiller treffe ich selten. Dafür aber habe ich padeluun, Erdeist, Neonfee und viele andere Leute getroffen, deren Realnamen ich bis heute nicht kenne, aber auch nicht kennen brauche. Ihre selbstgewählten Namen sagen viel mehr über sie aus als die in ihrer Geburtsurkunde. Was sie zu erzählen haben, ist viel interessanter als die Frage, was in ihrem Personalausweis steht.
Pseudonyme sind die Tarnkappen des kleinen Mannes. Offensichtlich ist dies beim Whistleblowing, dann also, wenn ein Angehöriger einer Organisation deren Missstände aufdeckt, aus Angst vor Repressalien aber im Verborgenen bleibt. Man könnte nun argumentieren, dass so wenig Rückgrat ein schwaches Zeichen ist und dass derartige Versteckspiele die Unterdrückungsgesellschaft nur weiter vorantreiben. Auf der anderen Seite ist eine anonym veröffentlichte Untat immer noch mehr wert als eine komplett verschwiegene, und zweitens gleicht Pseudonymität wenigstens einen Teil des Machtungleichgewichts aus, das zwischen Führungsetage und Angestellten eines Unternehmens herrscht. Die öffentliche Achtung, für die gute Sache meine berufliche Existenz ruiniert zu haben, bezahlt nicht die Raten auf mein Haus.
Der Satz wird oft zitiert, weil er es so schön auf den Punkt bringt: Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist. Gemeint ist das Spiel mit den Identitäten, und das ist genau die Stelle, an der die Strategie, das Netz als elektrifizierte Realität anzusehen, nicht mehr funktioniert. Die Idee, nach Belieben verschiedene Rollen zu spielen, gibt es im Leben vor dem Bildschirm nur im Ansatz. Natürlich kann ich in den verschiedenen Freundeskreisen jeweils leicht unterschiedlich auftreten, aber das klappt auch nur, wenn man diese Kreise schön voneinander getrennt hält, und vor allem ist man an physische Realitäten gebunden. Wenn mir mein Image in einer Gruppe irgendwann nicht mehr gefällt, kann ich nicht einfach eine neue Rolle überstülpen und gucken, ob mir diese Rolle besser passt. Im Internet hingegen kann ich mich in verschiedenen sozialen Kontexten bewegen, ohne dass mich jemand dabei verfolgen kann. Ich darf in einer Rolle Meinungen äußern, die zu haben mir in einer anderen Rolle verwehrt wird. Ich kann Zustände zur Diskussion stellen, ohne erst eine lange Erklärung liefern zu müssen, das Kritik und Loyalität keine Widersprüche darstellen.
An dem Tag, als Google Plus seine Tore für den Pöbel öffnete, dürfte ich zu den Ersten Angehörigen des Plebs gehört haben, die hereinströmten, um die neuen Wunder des Suchmaschinengiganten zu bestaunen. Natürlich tat ich das, was zu den ersten Taten eines Neuankömmlings in einem sozialen Netz gehört: Man sieht sich um, wer schon da ist und abonniert dessen Nachrichtenstrom. Eine der ersten Nachrichten, die ich las, war nicht etwa: "Schön, dass ihr alle da seid, lasst uns zusammen herumexperimentieren", sondern: "Im Moment kommen Tausende von Nachrichten rein, dass mich irgendwelche Leute in ihren Circle aufgenommen haben. Wenn ich jemanden nicht kenne und der Betreffende kein interessantes und aussagekräftiges Profil hat, landet er gleich im Circle 'Mülleimer'." Gleich dahinter kam ein Beitrag, der sich damit beschäftigte, dass Google pseudonyme Zugänge sperrt und dass dies eine gute Sache sei, verbunden mit einer Fünf-Punkte-Liste, wie sich die Neuankömmlinge gefälligst zu verhalten hätten. Kurz: Affenfelsen im Kölner Zoo, und der Boss zeigt erst einmal den Anderen, wie toll er zur Fortpflanzung geeignet ist. Seht her, wie wichtig ich bin, alle wollen was von mir, und um meine Wichtigkeit zu unterstreichen, zeige ich allen Anderen, wie unwichtig sie sind. Damit eins klar ist: Der ganze Affenfelsen hier, das ist ganz allein meiner, den hab ich selbst hierher gestellt, und jetzt hört alles auf mein Kommando.
Der Tonfall kam mir so bekannt vor, und in der Tat klang es damals, Ende der 80er, genau so, als ich meine ersten Schritte ins Usenet unternahm, nur dass damals der Tonfall sogar noch halbwegs gerechtfertigt war, weil das Netz damals wirklich von einer Handvoll Enthusiasten aufgebaut und verwaltet wurde. Diese Zeiten sind jedoch längst vorbei. Die Planwagen der Pioniere sind zum Stillstand gekommen, die heldenhaften Vorstöße in unbekanntes Terrain gibt es kaum noch. Statt dessen haben sich Städte und Gemeinden gebildet. Längst geht es nicht mehr ums blanke Überleben, sondern darum, welche Art von Zusammenleben wir gerne hätten. Viele von uns sind damals aus der alten Welt übergesiedelt, weil wir den Mief der Städte satt hatten, weil wir uns nicht mehr von irgendwelchen Lehensherren knechten, nicht von einem König herumkommandieren lassen wollten. Wir wollten endlich einmal statt "du musst" ein "du darfst" hören. Das gilt insbesondere für die elementare Frage, was Andere von mir wissen sollen. Ich möchte die Freiheit haben, allen alles über mich sagen zu dürfen, nicht den Zwang, alles sagen zu müssen. Natürlich gibt es in anonymen Netzen eine gewisse Tendenz, über die Stränge zu schlagen, weil man kaum Konsequenzen zu befürchten hat, aber genau das ist nun einmal Freiheit. Eine Gesellschaft, in der die Menschen freiwillig gegenseitig Rücksicht nehmen und tolerieren, dass einige Unsinn bauen, ist mir viel lieber als eine Gesellschaft, in der die Menschen aus Furcht vor Strafen sich an Gesetze halten und es nicht verhindern können, dass einige Verbrecher das System umgehen.
Im Netz schreibe ich unter mindestens vier verschiedenen Identitäten. Keine dieser Identitäten ruft zu kriminellen Handlungen, Menschenverachtung oder Terrorismus auf. Jede dieser Identitäten setzt sich auf leicht unterschiedliche Weise dafür ein, dass Menschen vernünftig und in Freiheit miteinander leben können. Das soll gerne weiter so bleiben.
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