Samstag, 10. April 2021

Pandemiebekämpfung durch Herumposen

Dass CDU und SPD in den letzten Jahrzehnten bis zur Ununterscheidbarkeit zusammengerückt sind, ist keine besonders hellsichtige Erkenntnis. Dass die Nähe so weit geht, dass die CDU sogar in Sachen Stümperei der SPD den Rang abläuft, überrascht mich dann aber doch.

Viele Jahre hatte ich zwar nicht Merkels Politik, wohl aber ihren Killerinstinkt bewundert. Ähnlich wie Kohl hatte sie dafür gesorgt, dass um sie herum ihr niemand gefährlich wurde. Im Gegensatz zu Kohl walzte sie dabei aber nicht wie eine Horde wildgewordener Nashörner alles platt, sondern sorgte dafür, dass sich ihre Gegner selbst ins Abseits manövrierten. Besonders geschickt fand ich ihre Fähigkeit, Regierungspartner totzukoalieren. Konnte man bei der ersten von ihr geführten Großen Koalition noch wirklich von einer reden, war nach deren Ende die SPD schon deutlich geschrumpft. Zeit, sich der FDP anzunehmen, die während Schwarz-Gelb ähnlich implodierte wie zuvor die SPD. Die wiederum stürzte sich alle Warnsignale ignorierend wie ein Dackel auf die Fleischwurst in die nächste schwarz-rote Koalition, verlor weitere fünf Prozent und sagte sich 2017: "Super, das ging schon zweimal richtig daneben, lass uns gleich noch einmal ins Verderben stürmen." Im Moment sehen Umfragen sie zwischen 15 und 18 Prozent.

Über Jahre verstand es Merkel, sämtliche Erfolge ihrer Regierung als ihren Verdienst zu verkaufen, während alle Peinlichkeiten aufs Konto des Koalitionspartners gingen. Zugegebenermaßen war das bei einer von Machtgier und grenzenloser Selbstüberschätzung getriebenen Partei wie der SPD auch nicht weiter schwierig. Die verwechselte "staatstragend" mit "Grundrechte und Sozialstaat bekämpfend" und legte, was peinliche Parteivorsitzende und Spitzenkandidaten angeht, eine beeindruckende Abwärtsspirale der Unwählbarkeit hin. Solche Fehler, sollte man meinen, passieren der CDU nicht.

Doch.

Die CDU schliddert gerade in genau die Situation, die sie nach dem Ende der Ära Kohl schon einmal durchleiden musste: Nach einer übermächtigen und über Jahre - fast zu - erfolgreichen Führungsfigur sind alle fähigen Nachfolgerinnen verschlissen. Was bleibt, ist eine Mischung aus Neofaschismus, Korruption und bestenfalls Mittelmaß. Annegret Kramp-Karrenbauer hat innerhalb weniger Wochen das Kunststück vollbracht, von einer über die Parteigrenzen hinaus als mögliche Kanzlerin respektierten Spitzenpolitikerin zur absoluten Lachnummer zu verkommen. Ihre Nachfolge trat Armin Laschet an, der eine ganz ähnliche Karriere hinlegte, nur dass er bereits deutlich niedriger ansetzte. Ich gebe zu, im Rheinland mag es als eine respektable Leistung gelten, das Osterwochenende nicht sturzbetrunken auf der Couch, sondern mit etwas zu verbringen, was dem spaßverliebten Rheinländer ohnehin suspekt ist, nämlich Nachdenken. Den Rest der Republik, wo man das Abitur nicht schon dafür bekommt, beim Karneval nicht gänzlich unter die Räder geraten zu sein, beeindrucken derartige Ankündigungen nur mäßig, insbesondere dann, wenn das einzige Ergebnis im Wort "Brückenlockdown" besteht. Wenn Laschet nicht innerhalb der nächsten Tage einfällt, wie er durch die Republik eilen und  durch Handauflegen Leute heilen kann, darf er sich das Thema Kanzlerschaft von den glücklich strahlenden Wangen putzen.

Am Beispiel des "Brückenlockdowns" sehen wir aber auch die Verzweiflung der politisch Verantwortlichen. Sie haben kaum noch mehr Ideen, und die wenigen verbliebenen Einfälle versanden im Kompetenzgerangel. Zwischen März und September 2020 fiel es nicht so sehr auf, wie kaputt die regelmäßigen Provinzfürstenrunden mit der Kanzlerin waren. Damals war es fast egal, was beschlossen wurde, weil zu diesem Zeitpunkt noch eine relativ ungefährliche Version des Coronavirus im Umlauf war, die sich mit einfachen Stoffmasken, Abstandhalten und vor allem Begegnungen an der frischen Luft in Zaum halten ließ. Da konnte auch eine sinnvolle Idee komplett zerredet werden, ohne dass die Infektionszahlen gleich ins Unkontrollierbare stiegen. Dann aber kam der Herbst, die Leute hielten sich wieder mehr drinnen auf, die Infektionszahlen stiegen, doch die Strategien blieben die gleichen. Die Ministerpräsidentinnenkonferenz befand sich teils im Streit um Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur, teils in Vorbereitung diverser Wahlkämpfe und ließ sich wenig von epidemologischen Aspekten, dafür umso mehr von der Frage leiten, welche Maßnahme wohl mehr Stimmen brächte. Ui, mein Konkurrent ist für härtere Beschränkungen? Dann muss ich für mehr Öffnungen sein, egal, ob das sinnvoll ist oder nicht, ich muss mich irgendwie abgrenzen. Als Ergebnis haben wir seit Wochen bundesweite Inzidenzwerte über 100, und der einzige Grund, warum das niemanden mehr aus der Ruhe bringt, liegt darin, dass wir 100 als die neue 50 definiert haben. Zur Erinnerung: 50 ist der Wert, ab dem die Gesundheitsämter die Verfolgung aufgeben.

Die Meisten sind zermürbt, viele sogar aggressiv. Ich muss nur in meine Twitter-Timeline sehen, deren Herumschrei-Niveau selbst für Twitterverhältnisse ungewöhnlich hysterisch ist. Kaum noch jemand schreibt etwas Lustiges, statt dessen dominieren immer wütender werdende Postings, es sei Zeit für einen harten Lockdown.

Doch der wird nicht kommen.

Egal, wie laut ihr herumschreit, es wird keinen Lockdown geben. Was wir seit einigen Monaten haben, ist kein Lockdown, es ist eine Marktbereinigungsmaßnahme - hart genug, um kleine Händler und Hotels in die Pleite zu treiben, aber locker genug, damit die großen Ketten und die Industrie überleben. Die Menschen assoziieren mit dem Begriff "Lockdown" vor allem eins: schwachsinnige, widersprüchliche und vor allem unwirksame Regeln. Das Zeitfenster, in dem ein wirklich harter Lockdown durchsetzbar gewesen wäre, ist längst vorbei, und selbst die noch aktiven Maßnahmen werden falsch aufgefasst. Allein schon die Frage, ob "man sich noch treffen dürfe" zeigt ein grundfalsches Verständnis. Es geht nicht um das Einhalten von Vorschriften, es geht um das Eindämmen einer Pandemie. Ich kann unter strengster Einhaltung der Vorschriften an einem Nachmittag viele Dutzend Leute infizieren, indem ich sie alle nacheinander besuche. Das waren jedes einzelne Mal zwei Haushalte, nur dass einer davon die Krankheit einmal quer durchs Dorf geschleppt hat. Ich bin keine Virologin, aber ich kann versichern: Das Virus liest keine Verordnungen und denkt sich: "Oh, da hält sich einer an die Regeln, auch wenn er sie komisch auslegt, da darf ich jetzt nicht anstecken."

Die Coronabekämpfung ist seit Wochen reines Schaulaufen. Kuschelregeln werden umetikettiert, um immer sagen zu können: "Was wollt ihr eigentlich? Wir haben doch einen Lockdown, vielleicht sogar bald einen Brückenlockdown. Der ist noch härter, denn das Wort ist länger." Tatsächlich aber lassen wir die Sache laufen. Die Stadt, in der ich wohne, hat eine Intensivbettenbelegung von knapp 96 Prozent. Dennoch twittert der Bürgermeister über weitere Öffnungen. Das Kalkül ist einfach: Mit härteren Maßnahmen gewinne ich keine verlorenen Stimmen zurück, aber wenn ich öffne, freuen sich die Leute über wiedergewonnene Freiheiten.

Weil aber langsam der letzte Depp die verbale Verhohnepiepelung durchschaut, müssen andere Pseudomaßnahmen her. Eine neue App zum Beispiel. Die hext wie Bibi Blocksberg einfach das Virus weg. Wie bitte, das hatten wir schon, das war die Corona-Warn-App und hat damals schon nicht funktioniert? Ja, natürlich, aber diesmal stehen echte Experten dahinter. Ein Rapper zum Beispiel, der in seinem gesamten Leben keine einzige Zeile funktionierenden Code verfasst und von Epidemologie etwa so viel Ahnung wie irgendein Typ hat, den Sie zufällig auf der Straße ansprechen. Wovon er allerdings viel Ahnung hat, ist Geldscheffeln. Bislang musste er mit seiner Band von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort reisen und abends stundenlange Bühnenshows hinlegen. Jetzt muss er nur eine Handvoll Talkshows abklappern, die praktischerweise oft in Berlin stattfinden und ein paar knackige Sprüche über seine App raushauen. Seine App? Ach ja, fast vergessen, ihm (genauer: der Fantastic Capital Beteiligungsgesellschaft UG) gehören 22,9 Prozent der Culture4life GmbH, die gerade für Millionenbeträge Lizenzen an verschiedene Bundesländer verkauft, deren Ministerpräsidenten  sogar damit kokettieren, sie hätten nicht die leiseste Idee davon, ob und wie die App funktioniert, aber einfach mal mit 1,2 Millionen Euro um sich schmeißen, weil das viel cooler ist, als sich mühsam zu informieren. Da kommt selbst Laschets Nachdenkwochenende vergleichweise intellektuell rüber.

Nun ist erst einmal nichts Verwerfliches dabei, Geld mit einer App zu verdienen. Es hätte nur einen gewissen Reiz, auf diese Tatsache hinzuweisen, weil es vielleicht erklärt, warum ausgerechnet diese App und nicht etwa eines der zahlreichen Konkurrenzprodukte der ultimative Heilsbringer sein soll. Ja, ich weiß, das ist ein Ad-hominem-Angriff, also der Versuch, eine Sache zu diskreditieren, indem ich deren Apologeten kritisiere, aber in diesem speziellen Fall scheint mir das angebracht, weil ein bekannter Musiker seine Popularität missbraucht, um aus angeblich uneigennützigen Motiven ein nachweislich unausgereiftes Produkt zu propagieren, von dem er nicht viel mehr verstanden haben kann, als dass es ihm viel Geld einbringt, und das finde ich unredlich.

Auf der anderen Seite stößt die Rapper-App nur in eine Lücke vor, die eine an Arbeitsverweigerung grenzende Öffentlichkeitsarbeit für die Corona-Warn-App gelassen hat. Seit der Erstveröffentlichung im Juni 2020 gab es kleinere Bugfixes, ein paar Schönheitskorrekturen, aber keine entscheidenden Fortentwicklungen. Dabei haben Experten wie Linus Neumann vom CCC mehrfach auf fehlende Funktionen hingewiesen, die zu implementieren auch nicht weiter schwer gewesen wäre. Was kam, war ein Kontakttagebuch, im Prinzip ein Texteditor mit der Möglicheit zum verschlüsselten Speichern. Das war zwar nicht falsch, aber nach einem halben Jahr auch nicht besonders viel. Doch nicht nur entwicklungsseitig gab es Versäumnisse, auch die Politik scheute keinen Aufwand, die App zu vernachlässigen. So hieß es, die Corona-Warn-App könne gar nicht das Gleiche wie die Rapper-App leisten, weil die Coronaverordnungen eine namentliche Registrierung vorsähen. Die Coronaverordnungen, sind das nicht diese Papiere, die uns die Landesregierungen ungefähr monatlich einmal neu auflegen? Wie viel Aufwand hätte es bedeutet, der Praktikantin zu sagen, sie möge doch bitte die Passage mit den Namen einmal kurz aus der Textverarbeitung löschen und damit eine Clustererfassung mittels Corona-Warn-App ermöglichen? Was, das ginge nicht so einfach? Ist das etwa so schwer, wie die Notwendigkeit der schriftlichen Einwilligung zu streichen, welche die Nutzung der Hiphop-App konterkariert hätte? Das ging nämlich überraschend einfach.

Nach dem Rollout der Corona-Warn-App hätte eine massive Werbekampagne folgen müssen. Kein Tag hätte vergehen dürfen, an dem nicht irgendeine politische Entscheidungsträgerin in irgendeiner Schwafelsendung sitzt und erklärt, warum zwar keine App der Welt Corona besiegen, aber einen messbaren Anteil dazu beitragen kann, die Ausbreitung zu verlangsamen. Wir haben Milliardenbeträge in irgendwelche Prestigeobjekte versenkt. Warum gab es nicht so etwas wie ein Gewinnspiel, das neben Infektionswarnungen jede Woche zehnmal 100 Euro an alle Installationen verteilt? Warum ließ die Politik monatelang die Corona-Warn-App ins Leere laufen, indem sie deren Anbindung an die Gesundheitsämter verschlampte?

Weil wir schon seit Mitte letzten Jahres im Aktivitätssimulationsmodus laufen. Niemand gibt es zu, aber wir lassen uns seit Monaten von Cornaleugnern, Maskenverweigerern und Verschwörungsspinnern vor ihnen her treiben. Wir haben keine Angst vor Christian Drostens oder Karl Lauterbachs Berechnungen. Die beiden kämen nie auf die Idee, Steine auf Journalistinnen zu schmeißen. Wir haben Angst vor einem von allen Bildungsidealen befreiten, durchgeknallten Mob, der das Verbreiten einer hoch ansteckenden und bei vielen Erkrankten dauerhafte Schäden hinterlassenden Seuche mit dem Widerstand gegen ein faschistisches Regime vergleicht, dessen Regentschaft 60 Millionen Kriegstote und die Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen bewirkte. Wir versuchen, Leute zu beschwichtigen, deren "Argumentationsweise" sich außerhalb der Regeln bewegt, die vor über 2000 Jahren in Griechenland definiert und spätestens seit Kant auch in Mitteleuropa als gemeinsame Basis eines logischen Diskurses allgemein anerkannt sind. Es ist schlicht nicht möglich, eine sinnvolle Diskussion mit Menschen zu führen, die anekdotische Indizien mit einem allgemein gültigen Beweis verwechseln. Es ist müßig, sich wissenschaftlicher Denkmuster zu bedienen, an deren Ende die Gegenseite einfach nur "das glaube ich alles nicht" schreien und sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen braucht. Natürlich kannst du glauben, dass der Mond aus Käse, die Erde eine flache Scheibe und die Klimakatastrophe eine Erfindung der jüdisch-zionistischen Weltverschwörung ist, aber dadurch wird es nicht wahrer. Wenn du deinen Facebook-Buddies Bibi, Babsi und Loverboy69 mehr Kompetenz als promovierten Medizinerinnen zutraust, über die Durchlässigkeit von Stoffmasken für 140 nm (140 * 10^-9 m) kleine Viren zu reden, während 3,24 Angström kleine (3,24 * 10^-15 m also zehn Millionen mal kleinere) CO2-Moleküle angeblich zurückgehalten werden, dann haben wir schlicht nichts mehr, worüber wir konstruktiv sprechen können. Ja, auch ein Doktortitel schützt nicht vor zum Teil bestürzenden Fehlern, aber um einzusehen, dass ein aus mindestens 6.000 Atomen bestehendes Virus größer ist als ein aus gerade einmal drei Atomen bestehendes Gasmolekül, brauche ich nicht einmal einen Schulabschluss.

Doch von genau solchen Leuten, die glauben dass 3 größer ist als 6.000, lassen wir uns gerade unsere Pandemiestrategie vorschreien.

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