Als ich gestern beim Spazierengehen durch eine Unterführung ging, fand ich endlich ein schönes Beispiel für den Unterschied zwischen "eine Vorschrift verstehen" und "eine Vorschrift befolgen". Das Eine ist nämlich das komplette Gegenteil des Anderen.
In der Unterführung hing ein großes Schild "Plakatieren verboten". Das funktionierte auch prächtig. An der Wand hing kein einziges Plakat. Dafür war alles mit Grafitti zugesprüht.
Mit anderen Worten: Hier haben sich die Leute perfekt an eine Vorschrift gehalten. Da stand nur was von Plakaten. Von Sprühen war nicht die Rede. Also los geht's.
Natürlich hatte die Vorschrift etwas Anderes im Sinn. Es ging darum, die Wand sauber zu halten. Das ist eigentlich auch allen klar. Dummerweise hat die Stadt vergessen, dass auch Grafitti eine Wand verunzieren können. So bleiben die Sprühkolonnen unbehelligt, während beispielsweise der Sonntagsflohmarkt während der Veranstaltung nicht einmal für ein paar Stunden mit Klebeband einen Wegweiser aufhängen darf.
Das kommt Ihnen lächerlich vor? Dann schauen Sie sich die Diskussion um die Befolgung der aktuellen Corona-Regeln an. Da höre ich immer wieder die Frage, ob irgendetwas noch "erlaubt" ist. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, ob das, was ich vorhabe, die Infektionen begünstigt oder nicht. Wenn ich an einem Nachmittag hintereinander fünf Freunde besuche, mag jedes einzelne Treffen die Begegnung von Personen aus maximal zwei Haushalten und damit zulässig gewesen sein. Tatsächlich war ich ein potenzieller Superspreader, weil ich eine Infektion einschließlich des meinigen durch sechs Haushalte geschleppt haben kann.
Was wir gerade erleben, sind Millionen Menschen, die Vorschriften befolgen, statt sich zu fragen, was der eigentliche Sinn ist. Besonders deutlich wird dies bei der Diskussion um die 15-km-Regel. Wenn ich in einem Gebiet mit besonders hoher Inzidenzzahl lebe, darf ich mich nur maximal 15 Kilometer von meinem Wohnort entfernen. Wir brauchen uns nicht darüber zu unterhalten, dass diese Regel idiotisch ist. Worüber wir uns aber noch weniger zu unterhalten brauchen, ist die Frage, ob die 15 Kilometer vom Ortskern, meiner Haustür oder dem Stadtrand gemessen werden und warum 14,9 Kilometer noch völlig OK, aber 15,1 Kilometer hoch infektiös sind. Ich habe nicht Medizin studiert, aber auch so kann ich Ihnen versichern: So ein Virus schleppt keinen GPS-Empfänger zur Entfernungsbestimmung mit sich herum.
Das war auch nicht Ziel der Regel. Die Behörden wollten eine Handhabe gegen Leute haben, die zur Erholung aus ihrem Corona-Hotspot übers Wochenende zur Alm-Gaudi nach Oberhof fahren. Die Frage ist nur: Wie formuliert der Gesetzgeber das am besten? Lesen Sie sich einmal die Verordnungen durch, in denen die Kommunen die Grenzen der Innenstadtzonen beschrieben, wo Maskenpflicht herrscht. Da stehen dann Sätze wie "ab Herberstraße 48 bis 64 bis Kreuzung Kronauer Straße 19a bis Berliner Platz, von dort in gerader Linie zur Einmündung Goetheweg linke Straßenseite bis Gonzheimer Gasse..." und so weiter, Sie verstehen das Prinzip. Gern sind diese Beschreibungen auch noch mit Uhrzeiten versehen (außer an Sonn- und Feiertagen, dann eine Stunde später). Das liest kein Mensch, und noch weniger verstehen es. Sinnvoll wäre: "Sobald ihr euch unter Leute begebt, am besten immer, wenn ihr das Haus verlasst - Maske auf." Das sieht nur als Verordnungstext seltsam aus. Und so muss ich mich von irgendeinem besonders eifrigen Uniformträger zurechtweisen lassen, wenn ich mutterseelenallein im Stadtpark auf einer Bank ein Buch lese, während es völlig OK ist, wenn ich wochenlang mit der gleichen verdreckten Maske in der verstopften U-Bahn herumfahre.
Deswegen: Ich habe keine Lust, mit Ihnen über Maskentypen, Entfernungen, Uhrzeiten und Zahl von Haushalten zu diskutieren. Das Virus liest keine Verordnungen und denkt sich: "Oha, da steht, ich darf Leute erst anstecken, wenn sie sich näher als 1,50 m kommen. Das hier sind aber 1,54 m, ich muss also noch warten." Die Infektionszahlen sind durch die Decke gegangen, nicht etwa obwohl, sondern gerade weil wir uns seit 11 Monaten exakt an die Vorschriften halten. Jede Vorschrift hat Schlupflöcher. Das kennen wir vom Steuerrecht. Da kostet sowas nur etwas Geld. Wenn wir die Schlupflöcher der Corona-Verordnungen ausnutzen, kostet das Menschenleben - im Zweifelsfall das Ihrige.
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