Die Polizei hat vor dem Parlament Stellung bezogen, die Gewehre im Anschlag. Langsam wälzt sich eine Wand aus Menschen auf sie zu. Sie tragen Masken. Ihrem Schritt merkt man ihre Entschlossenheit an. Die Polizeischützen zögern. Zwar haben sie Gewehre, während die Anderen zumindest dem Anschein nach nicht bewaffnet sind. Doch es sind viele. Tausende. Wie lang wird die Munition reichen? Selbst wenn: Werden Schüsse die Situation nicht eskalieren? Natürlich, die vordersten Reihen werden sie damit aufhalten können, aber von hinten dringen unzählbar viele nach. Einige werden durchkommen, und was dann? Nicht zuletzt sind die Herandrängenden das eigene Volk, auf die kann man doch nicht einfach schießen. Erst einer, dann immer mehr Polizisten lassen das Gewehr sinken, während die vordersten Demonstranten sie schon fast erreicht haben. Es fallen keine Schüsse, es gibt nicht einmal ein Handgemenge. Ohnmächtig lässt die Polizei die Leute durchsickern, die sich unaufhaltsam ihren Weg bahnen.
Das ist eine der aufwühlendsten Szenen aus dem an mächtiger Bildsprache ohnehin nicht armen Film "V for Vendetta" aus dem Jahr 2005. Am Ende steht die Sprengung des Parlaments in London. Ich mag diese Szene. Ich mag ehrlich gesagt den ganzen Film. Ich mag den Gedanken, dass sich das Volk gegen ein verbrecherisches Regime erhebt und ein Parlament, das schon längst seine Legitimation verloren hat, für das Volk zu sprechen, in die Luft fliegt.
Am Abend des 6.1.2021 sah ich ganz ähnliche Bilder im Fernsehen, aber ich mochte sie nicht. In Washington hatte sich ein wütender Mob vor dem Washingtoner Kapitol versammelt, angestachelt von ihrem inzwischen komplett durchgeknallten Präsidenten, der nach über 50 erfolglosen Gerichtsverfahren immer noch davon faselt, in einem Erdrutschsieg die Wahl gewonnen zu haben, ein Komplott der Demokraten-Partei die Ergebnisse aber verfälscht und ihn um seinen Sieg betrogen hat. Jetzt, wenige Tage danach, sind die genauen Abläufe noch nicht ermittelt, deswegen mag sich meine Darstellung als falsch erweisen. Im Moment scheint es jedenfalls so, als sei jede Müllkippe besser gesichert als das Parlamentsgebäude eines der mächtigsten Länder der Welt. Die zum Schutz abgestellte Polizei scheint auch weder gut ausgerüstet, noch übermäßig motiviert, ihre Aufgabe zu erfüllen. Irgendwann lässt sie die Leute einfach durch, die daraufhin das Haus stürmen, Büros plündern, den Plenarsaal verwüsten. Im Gebäude scheint es vereinzelt Schusswechsel zu geben. Fünf Personen sterben, sowohl Sicherheitskräfte als auch Zivilistinnen. Einige Stunden treibt sich der Mob im Kapitol herum. Erst als gegen 18 Uhr Ortszeit eine Ausgangssperre in Kraft tritt, gewinnt die Polizei langsam wieder die Kontrolle zurück.
Aus meiner Wortwahl sollte klar geworden sein, dass ich den Sturm aufs Kapitol verurteile, ebenso wie den deutlich kleiner ausgefallenen "Sturm" aufs Berliner Reichstagsgebäude knapp vier Monate zuvor. Bei aller berechtigten Kritik an den in Schieflage geratenen Demokratien in den USA und Deutschland - allein die Tatsache, dass ich an der Regierung herumnörgeln kann, ohne befürchten zu müssen, nachts von einem Rollkommando abgeholt und in ein Foltergefängnis verschleppt zu werden, belegt, wie gut sie noch funktionieren. Wenn mir etwas nicht passt, kann ich dagegen demonstrieren - zugegebenermaßen zu Pandemiezeiten mit Einschränkungen, aber immerhin. Ich kann eine Partei gründen, einfach so, ganz ohne Hygieneauflagen. Ich kann frei wählen und muss dabei nicht befürchten, dass die Wahl manipuliert wird. Natürlich gibt es all das nicht geschenkt. Ich muss mich schon um das Funktionieren unserer Demokratie kümmern, doch so lange ich das noch kann, läuft einiges grundlegend richtig.
Ich habe ein radikales Demokratieverständnis. Das Parlament ist für mich ein Haus des Volkes. Die darin sitzenden Menschen werden von mir bezahlt und sitzen nur dort, weil ich wählen gegangen bin. Meist bin ich mit meinem Votum in der Minderheit, aber auch das gehört zur Demokratie: verlieren zu können.
Das ist möglicherweise eine der wichtigsten demokratischen Erkenntnisse: Die Macht einer Regierung speist sich nur zum Teil aus denen, die sie gewählt haben. Sie speist sich vor allem aus der Kooperation der üblicherweise über 40 Prozent, die sie nicht gewählt haben. Es reicht nicht aus, die eigene Mehrheit zu bedienen, eine Regierung muss die unterlegene Minderheit zumindest so gut behandeln, dass sie sich nur im Rahmen demokratischer Spielregeln wehrt.
"People shouldn't be afraid of their governments. Governments should be afraid of their people." - V in "V for Vendetta"
Allein schon für diesen Satz lohnt es sich, den Film zu sehen, drückt er doch ein elementares Verhältnis von Regierung und Regierten aus. Über Jahrzehnte haben wir uns damit begnügt, pünktlich zur Wahl Zettelchen einzuwerfen und für den Rest der Zeit uns beherrschen zu lassen. Mit der Zeit entwickelte sich dadurch das Bild vom "Raumschiff Berlin", einem Parlament, das gerade genug Theater für die Öffentlichkeit veranstaltete, um den Eindruck von Volksnähe zu erwecken, ansonsten aber ihr eigenes Spiel spielte und insgesamt die Haltung vertrat, so wichtige Dinge wie Politik doch bitte den Profis zu überlassen. Dass "Stammtischpolitik" bei uns als Schimpfwort gilt, sagt eine Menge darüber aus, wie wir diese Haltung verinnerlichten. Was wir, das Volk, zu wollen haben, wissen doch wohl die Akademiker im Parlament noch am besten. Am Stammtisch, ih, bäh, da sitzen Leute rum und meinen einfach so vor sich hin. Ohne Magister in Politologie. Das geht doch nicht. Ich will nicht sagen, dass am Stammtisch die intelligentesten Gedanken geäußert werden, aber den Stammtisch als meinungsbildendes Mittel pauschal zu verunglimpfen, ist Dämonisierung der Arbeiterklasse aus der Zeit des Thatcherismus.
Es war also Zeit, dass sich die Leute wieder auf die Bedeutung des Worts "Demokratie" als "Volksherrschaft" besinnen. Dass sich diese Bewegung ausgerechnet an der Frage entzündet, ob ein hauchdünnes Stück Stoff vor der Nase einen schwerwiegenden Eingriff in unsere Freiheitsrechte darstellt, befremdet mich dabei. Ehrlich gesagt empfinde ich den erneuten Versuch, weltweit die Sicherheit elektronischer Kommunikation auszuhebeln, damit Ermittlungsbehörden uns besser überwachen können, als wichtigeren Grund zu protestieren, aber was weiß schon so ein IT-Zausel.
Ich habe deswegen überhaupt keine Schwierigkeiten damit, dass Menschen vor Parlamente marschieren, um klarzustellen, wer von wem abhängt. Sehr große Schwierigkeiten habe ich damit, wer aus welchem Grund und mit welchen Mitteln dort gerade aufmarschiert.
Wenn Menschen für die Freiheit auf die Straße gehen, ihr Umfeld mit einer potenziell tödlichen und oft dauerhafte Schäden hinterlassenden Infektionskrankheit anstecken zu dürfen, finde ich das schon seltsam genug. Noch viel bizarrer finde ich es, wenn sich Millionen Menschen in den USA sicher sind, dass es einer Partei gelungen ist, Wahlen in mehreren Bundesstaaten so zu manipulieren, dass kein einziges Gericht diesen Betrug erkennt. Mit viel gutem Willen nehme ich hier schlichte Blödheit an. Viel wahrscheinlicher finde ich, dass Millionen US-Bürgerinnen sich eine Diktatur wünschen und Wahlen nur dann anerkennen, wenn sie in ihrem Sinn ausfallen. Diese Leute wollten nicht putschen. Sie waren überzeugt, ihrem Land zu dienen. Weder in Berlin, noch in Washington handelten sie im Bewusstsein, Recht zu brechen, sondern sogar umgekehrt in der Überzeugung, Recht und Freiheit zu verteidigen. Dass diesen Leuten ihr wahres Handeln nicht klar ist, stellt die eigentliche Gefahr dar.
Ich finde es nicht schlimm, wenn das Volk gelegentlich die Muskeln spielen lässt, selbst wenn der Anlass noch so idiotisch sein mag. Der Spaß hört dann auf, wenn sie wie in Berlin geschehen, Abgeordnete bedrohen oder, schlimmer noch, das Parlament an seiner Arbeit hindern. In Washington hatte es eigentlich eine reine Formalie zu erledigen, die im Lauf der Jahrhunderte streng genommen überflüssig geworden war. Die Auszählungen waren abgeschlossen, die Einsprüche abgearbeitet, die Neuauszählungen ebenfalls, die Wahlleute hatten den neuen Präsidenten schon bestimmt. Es ging nur noch darum, in einem feierlichen Akt noch einmal festzustellen, dass die nun aus den Bundesstaaten nach Washington geschafften Stimmen auch korrekt ausgezählt worden waren. Es gab keinen Anlass, daran zu zweifeln. Schon der Versuch einiger republikanischer Abgeordneter, in diesem Stadium noch etwas ändern zu wollen, ist an Absurdität kaum zu überbieten. Hitlers Herumgeschiebe längst aufgelöster Truppenverbände im Berliner Führerbunker hatte mehr Realitätsbezug als dieses Vorhaben. Das Parlament schloss also ein nach allen demokratischen Spielregeln juristisch komplett geklärtes Vorgehen ab. Es kam exakt seinen Aufgaben nach. Es hierbei zu behindern, ist keine Lappalie, kein in irgendeiner Weise gerechtfertigter Protest. Die Behinderung des Parlaments ist schlicht ein Verbrechen, das ganz tief in demokratische Prinzipien eingreift. Wenn mir etwas nicht passt, habe ich das Recht, Gerichte einzuschalten. Ich darf Petitionen aufsetzen, Protest organisieren, Abgeordnete anrufen, meinetwegen auch ihre Sprechstunden besuchen. Das kann sogar was bringen. Wenn aber ein frei, geheim und gleich gewähltes Parlament zusammentritt, um sich entsprechend seiner verfassungsgemäßen Rolle zu beraten, dann ist ein Moment erreicht, an dem es nicht gestört werden darf. Das ist kein romantisches Ideal, sondern eine Erfahrung, die wir immer wieder sammeln mussten. Gerade in Deutschland haben wir gesehen, was ein Parlament wert ist, das nur noch als Kulisse für Ansprachen seines Diktators dienen darf. Nein, die Ungestörtheit des Plenums ist eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie.
Und all das ist bei "V for Vendetta" nicht gegeben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen