Samstag, 9. Januar 2021

Triage auf den Straßen

Vielleicht hilft es, den ganzen verlogenen Corona-Debatten der vergangenen Wochen zu etwas mehr Ehrlichkeit zu verhelfen, indem wir die eigentliche Frage einmal aussprechen: Wie viele Leute sind wir bereit, für den Erhalt des Kapitalismus zu töten?

Besonders ärgert mich die Scheinheiligkeit bei der Frage, ob und wie wir die Schulen wieder öffnen wollen. Welch Horrorszenarien da heraufbeschworen werden, von Horden verblödet durch die Gassen irrender Kinder, wenn wir sie nicht sofort wieder den Segnungen unseres modernen Bildungssystems aussetzen, mit abbruchreifen Klassenräumen, heruntergewirtschaftetem Unterrichtsmaterial und akademischer Ausschussware als Lehrkräften.

Jahrzehntelang war uns als Gesellschaft Bildung völlig egal. Wer hier investiert, erwartet bestenfalls in einem Jahrzehnt, eher in zwei irgendwelche Erfolge - viel zu weit entfernt für eine Politik, die in spätestens vier Jahren zur nächsten Wahl etwas vorweisen muss. Also haben wir irgendwelche auf Massenabfertigung optimierten Schulgebäude in die Gegend gepflanzt, unsere Kinder reingestopft und den Apparat dann sich selbst überlassen. Ich weiß, das ist nicht gerecht, immerhin gibt es Elternbeiräte, aber die waren meist auch nicht mehr als das Aufeinandertreffen von Leuten, die per definitionem keine Ahnung von Pädagogik haben mit solchen, die eigentlich Ahnung hätten haben sollen. Letztlich war es auch egal, am Ende der Schullaufbahn purzelten zuverlässig genug Leute raus, die wir gewinnbringend in die Büros und Fabriken schicken und somit das System laufen lassen konnten.

Das alles brach im März 2020 zusammen, als viele von uns in die Heimarbeit geschickt wurden, wo wir auf ein paar ratlose Gesichter stießen, die sich als unsere Kinder vorstellten und uns mitteilten, wir sähen uns in den nächsten Wochen wohl etwas häufiger, weil die Schulen geschlossen sind.

Wer so wie die meisten von uns in Mietskasernenwohnungen wohnt, die für längeren Gebrauch unter Vollbelegung nicht ausgelegt sind, wird sich an die wochenlangen Reibereien während der Ausgangsbeschränkungen erinnern sowie die Erleichterung, als im Frühsommer die Infektionszahlen sanken und wir uns draußen wieder fast normal bewegen konnten. Die Kinder konnten wieder raus, wir wieder zur Arbeit, und die Kassandras, die uns für den Herbst, spätestens Winter eine zweite Infektionswelle ankündigten, gegen welche die Ereignisse im Frühling ein seichtes Plätschern waren, konnten uns gepflegt den Buckel runterrutschen.

Mit anderen Worten: Wir hatten ein Vierteljahr Zeit. Drei Monate, in denen wir uns hätten ansehen können, ob Stud.IP, Moodle, Teams, Zoom, Collaboraoffice, Onlyoffice oder irgendeines der anderen Werkzeuge, das wir uns im März unter enormen Zeitdruck gegriffen haben, auf lange Sicht wirklich zu uns passt. Wir hätten unsere hemdsärmlig improvisierten Konzepte überarbeiten und überlegen können, wie wir den gewohnten Schulunterricht nicht 1:1 ins Internet hieven, sondern mit den sich ergebenden Einschränkungen umgehen und die neuen Möglichkeiten nutzen. Das ist keine Aufgabe, die wir wie im März innerhalb weniger Tage lösen können, aber drei Monate ernsthafte Arbeit hätten etwas gebracht. Statt dessen haben wir - nichts unternommen.

Genau genommen war es sogar noch weniger als nichts. Wir haben zurückgebaut. Das kollektive Aufseufzen aus den Lehrerzimmern war schon fast hörbar. Ein Glück, wir können zurück zum gewohnten Trott, wir müssen uns nichts Neues ausdenken, wir verhalten uns einfach so, als hätte es den Lockdown im Frühjahr nie gegeben. Ich habe Schulen erlebt, in denen die hastig angeschafften Laptops und Tablets hastig weggeschlossen und den Lehrerinnen verboten wurde, sie zu benutzen. Begründung: Diese Geräte seien ausschließlich für den Fall da, dass während eines Lockdowns Kinder aus armen Familien welche ausleihen können. Das ist etwa so als weigere sich Rewe, Lebensmittel zu verkaufen, damit am Freitag genug abgelaufene Ware für die Tafeln da ist - in gewisser Weise der richtige Gedanke, aber trotzdem unfassbar doof.

Ich habe in dieser Zeit viel Radio gehört. Keine Woche verging, an der nicht irgendeine Bildungsexpertin die Alternativlosigkeit der Präsenzunterrichts verkündete. Ich will gar nicht bestreiten, dass es bestimmte soziale Erfahrungen gibt, die sich digital nur schwer vermitteln lassen: in der Klassenhackordnung ganz unten zu stehen und damit klar zu kommen, vom Schulbulli jeden Tag verprügelt zu werden und von den Eltern erklärt zu bekommen, man dürfe sich nur mit Worten, nicht mit Fäusten wehren oder den Charakter zu stärken, indem man sich wegen seiner Kleiderwahl jahrzehntelang hänseln lässt. Mobbing gehört auch zum Arbeitsalltag Erwachsener, und je früher wir lernen, dass es besser ist, am austeilenden als am einsteckenden Ende der Hierachie zu stehen, umso besser. Irgendwoher muss ja auch die FDP ihre Mitglieder bekommen. Doch Sarkasmus beiseite: Wir sind analoge, keine digitalen Wesen, und selbst in relativ nüchternen Disziplinen wie Mathematik und Naturwissenschaften gibt es Erkenntnisse, die unser Gehirn schneller erfasst, wenn der Körper sie begreifen darf. Pun intended.

Gleichzeitig schauen wir auf den Kalender, stellen fest, dass wir inzwischen ganz offiziell im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gelandet sind und sich die Realität der Digitalisierung nicht wegdiskutieren lässt. Ich kenne Leute, die das ganz schrecklich finden und am liebsten wieder in die Achtzigerjahre wollen, wo es drei Radio-, drei Fernsehsender, eine Tageszeitung, ein Festnetztelefon, einen Stapel Bücher sowie zwei Deutschlands gab und an dem jeden Abend um 20.00 h in der Tagesschau 15 Minuten lang die Wahrheit verkündet wurde. Eine Zeit, in der Falschmeldungen noch nicht Fake News und Arschlöcher noch nicht Hater hießen, in der zwei große Volksparteien knapp 80 Prozent der Wählerinnen hinter sich vereinten und wir nicht überlegen mussten, ob es "Wähler und Wählerinnen", "Wahler* und Wählerinnen*", "Wahlbevölkerung", "WählerInnen", "Wählende", oder "Wähler_innen" heißt und ob das Suffix mit Stern, Doppelpunkt, Punkt oder Ausrufezeichen angemessen abgetrennt wird. Wir mögen viele Entwicklungen der letzen 40 Jahre ablehnen, aber dadurch gehen sie nicht weg, siehe Klimawandel, und wenn wir alles, was wir doof finden, aus der Schulrealität raushalten, ziehen wir uns lauter kleine Donald Trumps heran. Das können wir gern, aber dann soll sich niemand beschweren, wenn eine Horde Bekloppter den Reichstag stürmt, weil sie die Wahrheit nicht verkraften.

Doch es ging die ganze Zeit über nicht um Bildung. Es ging darum, Kinder und Jugendliche werktags zuverlässig für ein paar Stunden außer Haus zu schaffen und örtlich definiert wegzusperren (sie freitags für ein paar Stunden draußen rumlaufen und für besseres Klima demonstrieren zu lassen, ging gar nicht), damit ihre Eltern in dieser Zeit im Dienst des Kapitalismus ausgebeutet werden können. Deswegen durfen Fußballspiele nur ohne Publikum stattfinden, weil die Fans sich samstags in überfüllten Bussen und Zügen anstecken könnten. Die gleichen überfüllten Busse und Züge waren aber an Werktagen total unbedenklich, wenn es darum ging, Schülerinnen und Arbeitskräfte durch die Gegend zu karren. Unwidersprochen durften die Verkehrsbetriebe behaupten, es sei ihnen kein einziger Fall bekannt, bei dem sich jemand in öffentlichen Verkehrsmitteln angesteckt hätte: JA NATÜRLICH NICHT, IHR PENNER, WEIL ICH BEI JEDER DRITTKLASSIGEN DÖNER_INNENBUDE MEINE KOMPLETTE STASIAKTE ZWECKS KONTAKTVERFOLGUNG HINTERLEGEN MUSS, WÄHREND DAS EINZIGE, WAS EUCH IN DER RB23 NACH MICHELSDORF INTERESSIERT, MEIN TICKET IST. Wo ihr nichts messt, könnt ihr auch nichts finden, ist das so schwer zu verstehen?

Nein, ist es nicht. Jeder Depp weiß, dass draußen 1,5 Meter Abstand mit Maske vielleicht einigermaßen Schutz bieten, in einem 26 Meter langen Bahnwaggon mit geschlossenen Fenstern und Türen an den jeweiligen Enden 0 Meter Abstand eine schlechte Idee sind. Doch darum ging es auch nicht. Es ging darum, dass mein Stammgrieche an der Ecke sich gegen eine Ministeriumsauflage nicht wehren wird, während der Versuch ein Daimler-, VW- oder Bayer-Werk sowohl die Betriebsführung als auch die Gewerkschaften in Rage bringt. Mit denen legt man sich lieber nicht an. Deswegen stellen die 5 Minuten Fußweg zum griechischen Restaurant eine tödliche Gefahr dar, während die 80 Minuten, die ich jeden Tag in der Bahn auf dem Arbeitsweg verbringe, total töfte sind. Deswegen muss der Grieche, der die Tische auseinanderrückt, Trennwände aufstellt und auf das Maskentragen achtet, schließen, während meine Tochter acht Stunden täglich ohne Maske dicht gedrängt im schlecht gelüfteten Klassenzimmer sitzen muss. Epidemologisch ergibt das keinen Sinn. Wirtschaftlich sehr wohl. Wir werden schon genug an den insolventen Gaststätten, Hotels und Einzelhandelsgeschäften zu knabbern haben, da können wir uns nicht noch eine zusammenbrechende Industrie leisten. Um das sicherzustellen, müssen wir die Leute dort hinschicken, und damit sie das können, müssen ihre Kinder betreut werden. Also müssen wir die Schulen öffnen. Natürlich werden sich dabei Menschen infizieren, und natürlich werden dabei auch Menschen sterben, aber Hand aufs Herz: Wir haben genug Arbeitslose, die das wieder auffüllen können. Wir opfern jetzt ein paar tausend Leben, weil der komplette Zusammenbruch unserer Wirtschaft noch viel mehr kostet. Im Prinzip haben wir jetzt schon die Triage, nur nicht wie erwartet auf den Intensivstationen, sondern landesweit, in den Schulen, Kindergärten, Fabriken, Bussen und Bahnen.

Wäre schön, wenn das jemand ehrlich zugibt.

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