Wer so wie ich in einer Firma arbeitet, deren Daseinszweck nicht darin besteht, irgendeinen realen Wert zu schaffen oder gar etwas zu leisten, sondern die einzig dazu dient, die Aktionäre zu befriedigen, kennt den in solchen Firmen üblichen erratischen Führungsstil. Das ist auch nicht verwunderlich, denn letztlich ist die Börse nichts mehr als eine Zockerbude für BWLer. Ich weiß, jetzt schreien wieder ein paar Leute auf und erzählen mir aufgeregt was von Trendanalysen, Anlagestrategien und Benchmarks. Ich will auch nicht bestreiten, dass es gewisse Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten gibt, aber das ist ungefähr so wie der Unterschied zwischen Roulette, Black Jack und Fußballtoto. Natürlich ist es wahrscheinlich, dass Bayern wieder Meister wird, aber wenn das von vornherein klar wäre, bräuchten wir keine Bundesliga, und insbesondere, wenn wir nicht auf die komplette Saison, sondern einzele Spiele wetten, wird die Sache schon arg spekulativ. Auch Köln kann gegen Bayern gewinnen.
Ähnlich ist es mit dem Börsenwert eines Unternehmens. Nehmen wir als Beispiel die Deutsche Telekom. Auf Anhieb fällt mir kaum ein berechenbareres Unternehmen ein. Seit dem Börsengang fährt dieser träge Tanker stur seinen Kurs, kauft hier und da was ein, stößt eine andere Sparte ab, aber letztlich müsste schon ein Wunder geschehen, um die Telekom ernsthaft in Bedrängnis zu bringen - zumindest, was das von ihr verkaufte Produkt angeht: Kabel verbuddeln und Signale durchschicken. Als ehemaliges Staatsunternehmen mit einem monopolartigen Marktanteil ist sie darin weder besonders gut noch besonders schlecht, aber genau das reicht zum Bestehen aus. Es geht nicht darum, mit Kampfpreisen neue Kundschaft zu gewinnen, sondern nur, nicht so lausig zu sein, dass die Leute quasi zur Konkurrenz zu gehen gezwungen werden. Ginge es nach diesen Kriterien, müsste ihr Aktienkurs eine Gerade parallel zu X-Achse sein. Tatsächlich startete sie bei etwa 16 €, war im Jahr 2000 kurzzeitig knapp 97 € wert und dümpelt seit dem kurz darauf einsetzenden Crash knapp unter 15 € herum - ohne dass sich am Geschäftsmodell oder den Rahmenbedingungen irgendetwas geändert hätte. Seit 30 Jahren ist Netzbandbreite eine ständig stärker nachgefragte Ressource, und die Telekom bedient diese Nachfrage, indem sie aus dem längst obsoleten Kupferkabel bis zuletzt noch Leistung herausquetscht und sich das Verlegen von Glasfasern üppig vergüten lässt. Mit anderen Worten: Aus minimalen Investitionen zieht sie maximalen Gewinn, also genau das, was Aktionäre lieben. Warum schlägt sich das nicht im Aktienkurs nieder?
Weil es nicht um die wirtschaftliche Leistung eines Unternehmens geht, sondern darum, was die Spekulaten glauben, wie sich die Kurse entwickeln. Genau genommen geht es auch nicht darum, sondern darum, wie die Spekulanten glauben, was die anderen Spekulanten glauben, wie sich die Kurse entwickeln. Noch genauer genommen geht es auch nicht darum, sondern darum, was die Spekulanten glauben, was andere Spekulaten glauben, was wiederum andere Spekulanten glauben, wie sich die Kurse entwickeln. Wenn Sie bis hierhin durch die ständig wirrer werdenden Satzkonstruktionen durchgestiegen sind, werden Sie von selbst darauf kommen: Dieses Spiel lässt sich beliebig weiter treiben, und da niemand genau weiß, welcher Spekulant bis zu welchem Abstraktionsgrad noch mitkommt, ist genau hier die Grenze zum Glücksspiel erreicht. Zugegeben mit einer abschätzbaren Komponente, aber nichtsdestotrotz ein Glücksspiel. Das ist nicht etwa ein ungewollter Nebeneffekt, sondern genau der Grund, warum es überhaupt modernen Börsenhandel gibt. Wäre alles komplett oder wenigstens zum großen Teil berechenbar, interessierten sich viel weniger Leute dafür. Sie kaufen Aktien von Thyssen-Krupp, weil Sie darauf vertrauen, dass es immer Kriege auf der Welt gibt und Sie mit daran verdienen wollen? Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit mag so etwas vielleicht von Belang sein, wenn Sie die Aktien für einige Jahrzehnte halten wollen. Wenn Sie das schnelle Geld (loswerden) wollen, nehmen Sie einen obszön hohen Betrag, investieren den irgendwohin - absurderweise funktioniert der Trick sogar bei fallenden Kursen -, hoffen, dass die Aktie kurz in die gewünschte Richtung schwankt und sammeln mit etwas Glück den Gewinn ein, der allein dadurch entstand, dass der riskierte Betrag ausreichend groß war. Ob das Unternehmen mit Schnellfeuergewehren oder Impfstoffen handelt, kann Ihnen vollkommen egal sein, Sie schauen nur auf Kursschwankungen.
Mit anderen Worten: Ein börsennotiertes Unternehmen zu leiten, setzt keinerlei Ahnung von Wirtschaft oder - Root bewahre - dem voraus, mit dem das Unternehmen handelt. Jedes Seminar für Leitungspositionen wird Ihnen Management als generischen Prozess predigen, der unabhängig vom gemanagten Objekt funktioniert - sei es ein Krankenhaus oder ein Konzentrationslager. Doch auch das ist Unsinn. Ob Ihre Firma auch nur eine einzige Schraube produziert, interessiert an der Börse niemanden, so lange der Aktienwert stimmt, und das hat zumindest in den Zeiträumen, in denen Aktionäre - nennen wir es freundlicherweise "denken" weniger Bezug zur Wirtschaft als zur Psychologie - Kinderpsychologie, um genau zu sein. Kinderpsychologie für extrem verwöhnte Einzelkinder mit ADHS. Auf Koks. Kinder, die eine brandneue Spielekonsole geschenkt bekommen und sich schreiend auf den Boden schmeißen, weil nur 5 Spiele dabei liegen und nicht 10. Ein paar Minuten später reicht ihnen auch das nicht, weil sie jetzt ein Pony wollen.
Wer ein Unternehmen leitet, das in Quartalszahlen denkt und nur darauf bedacht ist, kurzfristig bei den Aktionären für gute Stimmung zu sorgen, merkt sehr schnell, auf welch glitschigem Parkett der Tanz stattfindet. Es ist reines Glück, wenn sich der Börsenkurs in dieser Zeit gut entwickelt, und letztlich besteht die ganze Kunst vor allem darin, für vielleicht zwei, drei Jahre ein sattes Gehalt einzustreichen, zu beten, dass keine größeren Katastrophen eintreten und sich rechtzeitig zu verdrücken, bevor selbst der letzte Depp merkt, dass auch die aktuelle Unternehmensführung keinen Schimmer von dem versteht, was in und mit der Firma passiert.
Im Prinzip ist das Dasein an der Firmenspitze ein reiner Bluff. Die einzig nötige Expertise ist die Fähigkeit zur Selbstdarstellung. Eine der ungeschriebenen Regeln für eine neue Leitung besteht unter anderem darin, nach 100 Tagen Amtszeit eine neue Strategie zu präsentieren. Das heißt nicht, dass die alte schlecht war. Das heißt nur: Seht her, ich zeige Handlungsstärke, indem ich den ganzen Laden einmal umkremple, Abteilungen umbenenne, einige auflöse, andere neu einrichte und jede Menge Leute quer durchs Organigramm schicke. Es ist auch völlig egal, wie viel das kostet, wie sehr die Produktivität nach unten geht oder ob sich tatsächlich etwas ändert. Es geht nur darum, den Aktionären Präsenz zu vermitteln.
So lautet das Spiel. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich habe inzwischen so oft das Büro und die Abteilung gewechselt, dass inzwischen außer dem Empfang und den Reinigungskräften schon jeder einmal mein Vorgesetzter gewesen ist. Seit Jahren packe ich meine Umzugskartons gar nicht mehr aus. Es lohnt sich einfach nicht. Das soll mir recht sein. So lange ich in Ruhe meinen Kram erledigen kann, will ich nicht klagen.
Es geht ums Handeln um des Handelns Willen. Ein tieferer Sinn steckt nicht dahinter. Das darf natürlich niemand zugeben, und deswegen wird der ganze Aktionismus in ein wirres Theoriegebäude gesteckt und mit Parolen versehen, die aus dem Motivationskalender nordkoreanischer Diktatoren stammen könnten, von der englischen Sprache einmal abgesehen. Das heißt dann "Customer First" oder "Leading with Brain, Heart and Guts" oder "We value". Dahinter verstecken sich Banalitäten wie "Wir versuchen, beste Qualität zu liefern" oder "Wir behandeln einander mit Respekt". Ich sage es etwas deutlicher: Wenn ein Unternehmen so weit gesunken ist, dass es nötig wird, solche Selbstverständlichkeiten als neue Ziele auszugeben, kann es sich schon einmal nach einem guten Konkursverwalter umsehen.
Natürlich ist auch der Unternehmensführung klar, was für einen verbalen Blödsinn sie von sich gibt. Noch einmal: Es geht nicht darum, real etwas zu ändern, sondern nur um den schönen Schein. Da liegt es doch nahe, gerade solche in der Praxis völlig klaren Werte zu formulieren. Die verstehen alle, es ist ein Leichtes, sie umzusetzen, und gleichzeitig nach außen zu vermitteln: Sieh her, die sprechen ihre Probleme klar aus.
Es ist ein Schauspiel, und wir Komparsen sorgen dafür, dass es auf der Bühne gut aussieht. Dafür bekommen wir Geld. Was mich bei der Geschichte peinlich berührt, sind die Leute, die den Blödsinn ernst nehmen.
Kaum ist die Videokonferenz vorbei, in der die neue Leitung ihre neue Strategie mit Hilfe eines Foliensatzes aus der McKinsey-Versatzstückkiste vorgestellt hat, geht es im Intranet-Diskussionsforum hoch her. Wie großartig die Ansprache doch gewesen sei, wie inspirierend sie gewirkt, welch tiefe Einblicke und doch Weitsicht sie gewährt habe. Na gut, ein Teil wird von den üblichen Schleimern abgesondert, die sich noch nach oben glibschen müssen. Was mich viel mehr beunruhigt, sind die vielen Leute, die den Blödsinn tatsächlich glauben. Leute, die sich den Foliensatz extra noch einmal herunterladen, um ihn sich genau anzusehen und zu verinnerlichen. Nun könnte ich das als Naivität oder Leichtgläubigkeit abhaken, aber ich fürchte, hier offenbart sich etwas Ernsteres: der Glaube an eine Hierarchie der Heiligkeit.
Für klassische Hackordnungen mag die Ahnnahme, ein Machtgefälle ginge auch mit verschiedener fachlicher Kompetenz einher, noch ansatzweise zutreffen. Der Leitwolf im Rudel konnte schneller, fester und ausdauernder zubeißen als seine Rivalen. Er ist mit einiger Wahrscheinlichkeit das stärkste Tier der Gruppe. Banden und Clans mögen ebenfalls ähnlich funktionieren. Der Mensch an der Spitze schießt schneller, schlägt härter zu, hat weniger Skrupel und hat im Zweifelsfall die meiste Erfahrung. Wer das nicht glauben mag, kann sich gern mit ihm anlegen.
Firmenhierarchien hingegen funktionieren anders. Oben sitzt nicht unbedingt die Schlaueste oder die mit der meisten Ahnung vom Geschäft. Oben sitzt einfach die Person, die das meiste zu sagen hat. Warum? Weil sie auf diesem Posten sitzt, nichts weiter. Sie ist weder intelligenter, noch erfahrener noch in irgendeiner anderen Weise qualifizierter als der Rest. Zum Glück ist sie auch nicht unfähiger. Sie ist einfach da, wo sie ist, und ihre Aufgabe besteht darin, Entscheidungen zu treffen.
Besonders schön sehen Sie sowas in militärischen Hierachien. Ganz oben stehen Leute, die körperlich nicht einmal mehr in der Lage wären, mit einem Gewehr ein Scheunentor zu treffen, geschweige denn in irgendeiner Kampfsituation länger als einen Atemzug zu überleben. Die letzten beiden Kriegsministerinnen dieses Landes haben wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Schuss abgefeuert. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie müssen einfach nur Entscheidungen treffen, und diese Entscheidungen sollten nicht allzu blödsinnig ausfallen. Mitunter ist selbst das egal, so lange die Entscheidungen nur schnell genug getroffen werden. Wenn Sie mit Ihrer Einheit auf einem Bahndamm laufen und sich ein Zug nähert, ist es auch relativ egal, in welche Richtung Sie ausweichen, auch wenn links Stacheldraht und rechts ein Sumpf ist. Wichtig ist nur, dass Sie überhaupt ausweichen. Über den Rest denken Sie später nach.
Ähnlich ist es mit einer Firmenhierarchie. Nur selten noch arbeitet sich hier jemand klassisch hoch. Oft genug kommen Führungskräfte direkt von der Uni oder einer Beraterbutze. Sie bringen nicht unbedingt mehr Erfahrung oder mehr Kompetenz mit als ihre Untergebenen. Die Frage ist nur, ob sie eine von oben herabgereichte Entscheidung in Teilaufgaben gliedern und nach unten durchsetzen können. In einem Schiennenetz werden die Weichen auch nicht größer oder stabiler, wenn Sie näher an den Hauptbahnhof kommen.
Die Person ganz oben an der Spitze ist also in keiner Hinsicht intelligenter oder weitsichtiger als die Anderen. Sie hat lediglich Zugriff auf andere Informationen und kann deswegen andere Entscheidungen treffen. Wenn sie also eine neue Strategie ausgibt, ist das nichts weiter als eine Richtungsansage, die jede andere Person in dieser Position ebenfalls hätte vornehmen können. Wenn der Kapitän eines Schiffs sagt, wohin es fahren soll, ist der alleinige Sinn, dass nun alle Bescheid wissen. Niemand gratuliert ihm oder klatscht, sondern nimmt die Anweisung zur Kenntnis. Zu nichts weiter ist diese Art von Hierarchie da.
Den Unterschied zwischen einer natürlichen und einer Firmenhierarchie wollen aber viele nicht wahrhaben. Für sie ist eine Firma so etwas wie die apostolische Sukzession in der katholischen Kirche: Ganz oben steht der Papst mit oberster Lehrautorität als Stellvertreter Christi, draunter die Kardinäle, dann die Bischöfe bis hin zum kleinen Dorfpfarrer. Sie alle stehen in einer Segensreihenfolge und damit nach Kirchenverständnis auch in einer Reihenfolge, was göttliche Autorität angeht. Bischof sticht Pfarrer, weil heiliger, und der Allerheiligste ist der Heilige Vater. Was der sagt, ist sozusagen per definitionem wahr.
Ich weiß, theologisch ist das alles etwas differenzierter, aber mir geht es um die Obrigkeitsgläubigkeit des normalen Kirchenmitglieds, das wirklich daran glaubt, dass die Sonntagspredigt des Parrers wahrer ist als die eigenen Vorstellungen, aber nichs im Vergleich zu dem, was die oberen Ränge von sich geben. Genau diese Sehnsucht nach einer durch Hierarchie gespeisten Wahrheit spiegelt sich in der Art wieder, mit der Firmenansgestellte auf die Ansagen der Unternehmensspitze reagieren. Es ist der Wunsch, nicht nur eine Anweisung, für deren Befolgen sie ihr Geld bekommen, erhalten, sondern eine göttliche Offenbarung empfangen zu haben. Es ist die Hoffnung, der eigene Platz in der Rangordnung sei nicht mehr oder weniger zufällig, sondern irgendwie gerechtfertigt und irgendwer da oben habe wirklich den Durchblick, verstünde, wie der Laden funktioniert und lenke mit Weisheit und Intelligenz die Geschicke der Firma. Seit unsere Spezies denken kann, sucht sie nach Struktur im Chaos, forscht nach dem Sinn im Durcheinander. Der Gedanke, einfach in eine Welt geworfen zu sein, ohne einen besonderen Grund oder eine Aufgabe, scheint vielen unerträglich. Als Kinder wuchsen wir in der festen Überzeugung auf, unsere Eltern seien allwissende Überwesen, die jedes noch so große Problem meistern und deren Führung wir uns deswegen blind anvertrauen können. Eines der ersten großen Traumata des Heranwachsen besteht in der Erkenntnis, dass unsere Eltern die Welt ganz und gar nicht im Griff haben und mit mehr Glück als Verstand ständig am Rand des Abgrunds herumtänzeln. Statt diese Erfahrung neben vielen anderen hinzunehmen, bleiben wir statt dessen auf der Suche. Es kann doch nicht sein, dass sich alle einfach durchs Leben stümpern. Irgendwo muss es sie doch geben, die Übereltern, deren Gebote wir ungefragt befolgen, in der Gewissheit, das dadurch alles gut wird. Es kann doch nicht sein, dass wir uns ein (Arbeits-)Leben lang irgendwelchen Typen unterwerfen, die keinen Deut besser als wir sind, im Wesentlichen würfeln und uns als Offenbarungsschrift verbrämte Verbaldiarrhoe in der verzweifelten Hoffnung vorsetzen, es möge niemand merken, dass sie genau wie wir auf Sicht durch den Nebel schippern.
Doch, kann.
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