Samstag, 24. Oktober 2020

Deutsche Riten Teil 5: Zeitumstellungen

Zweimal im Jahr herrscht in den Redaktionen gute Laune, lässt sich doch knapp ein Drittel des geplanten Artikelvolumens komplett aus dem Archiv recyceln und die gesparte Zeit mit vergleichsweise interessanten Aufgaben wie Solitair-Spielen oder Tastatur-Putzen verbringen. Wer sein Gewissen beruhigen und wenigstens den Hauch von Recherche investieren möchte, schickt ein Team in die Fußgängerzone und lässt es dort ein paar O-Töne aufzeichnen. Digitalaffine fertigen Bildschirmfotos von vier Tweets auf und schmücken ihre Beiträge damit. Fertig ist das Aufregerthema der nächsten 48 Stunden: Die Zeitumstellung. Sie betrifft uns alle, alle haben eine Meinung dazu und halten sich deswegen für qualifiziert, darüber zu reden. Was kann bitte an Zeit so schwierig sein?

So spielt sich jedes Frühjahr und jeden Herbst das gleiche Ritual ab: Am Samstag vor der Zeitumstellung gibt es die Berichte, welche erklären, wohin sich die Zeiger in der kommenden Nacht bewegen und was mit den Zügen geschieht, die in genau dieser Zeit unterwegs sind. In einem Hintergrundbericht geht es um die Geschichte der Zeitumstellung, wann sie aus welchen Gründen eingeführt wurde und was sie gebracht hat. Um die Emotionen zu schüren, folgt dann der Verweis auf die Abstimmung in der EU und deren absolute Konsequenzlosigkeit. Im Kommentarteil schlagen sich die selbsternannten Zeitexperten dann die Köpfe ob der Frage ein, ob wir lieber dauerhaft Sommer- oder Winterzeit haben wollen, gefolgt vom Hinweis des örtlichen Oberlehrers, es hieße nicht Winterzeit, sondern Normalzeit - was etwa so hilfreich ist wie die Belehrung, Klaustrophobie sei entgegen landläufiger Ansicht eben nicht "Platzangst". Das ist nämlich Agoraphobie, also die Furcht vor großen freien Flächen. Egal, es gibt Situationen, in denen etwas richtig wird, wenn nur genug Leute den gleichen Fehler begehen.

Natürlich finde ich das Herumgefummel an den Uhren idiotisch. Ich mochte es nicht, als es eingeführt wurde, und gerade als Techniker fluche ich über das Chaos, das dabei jedes Mal entsteht. Stelle ich die Uhren meiner Server um, habe ich im Frühling eine Stunde Downtime, dafür aber im Herbst doppelte Logeinträge. Lasse ich meine Uhren nach UTC laufen, werden Reports im Sommer zu anderen Zeiten erstellt als im Winter - zumindest aus Sicht derer, die sie nach lokaler Zeit erwarten. Ganz besonders wenig mag ich es als unfreiwilliger Frühaufsteher, im Sommer noch eine Stunde früher als ohnehin schon los zu müssen. Auf der anderen Seite: Was nützt es, sich darüber aufzuregen? Wir haben uns kollektiv in eine organisatorische Sackgasse bewegt, in der wir wohl auf absehbare Zeit bleiben werden. Im Industriezeitalter ist es wichtig, Zeitpunkte klar bestimmen zu können. Ich merke das, wenn ich bei internationalen Besprechungen im Kopf behalten muss, welche Tageszeiten in den verschiedenen teilnehmenden Ländern gerade herrschen. In Mitteleuropa haben wir uns auf eine große Zeitzone geeinigt, was die Dinge schon sehr vereinfacht. Ich halte es für wenig sinnvoll, wenn ich die Uhrzeiten von Polen, Dänermark, Spanien, der Schweiz, Österreich, Belgien, Frankreich, Luxemburg, Liechtenstein, Monaco, Italien, den Niederlanden und Skandinavien ebenfalls noch im Kopf haben müsste. Das wäre nämlich dann der Fall, wenn sich Europa nicht einigen kann, ob wir die Zeitumstellung abschaffen und in welcher Zeitzone wir künftig sein wollen. Die Rückkehr zu einer umstellungsfreien Uhrzeit ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint.

Doch das alles regt mich nicht weiter auf. Was mich ärgert, ist das halbjährliche Gewinsel, wie wahnsinnig schlimm und belastend für Körper und Psyche die Uhrzeitänderung doch ist. Da haben Leute überhaupt kein Problem damit, am Wochenende auszuschlafen und unter der Woche früher aufzustehen. Da fällt kein Laut der Klage, dass beim Urlaub in Portugal dort eine andere Uhrzeit als in der Heimat herrscht. Auch finde ich keine seitenlangen Artikel über die unermessliche Pein, die entsteht, wenn der Abend einmal eine Stunde länger gedauert hat als sonst. Aber wehe, wenn die Uhren kollektiv eine Stunde vor- oder nachgehen. Da werden Kerle mit der Konstitution eines Recken aus dem Herrn der Ringe auf einmal sehr eigen und berichten wortreich über die immensen Schäden, die ihr zarter Körper aufgrund des Regierungsterrors zweimal jährlich erleidet.

Wenn das halbjährliche Uhrengeschraube wirklich so belastend ist, wundert es mich, warum die Betroffenen nicht wirklich etwas dagegen unternehmen. Alle sechs Monate Mimimi auf Twitter abzulassen, ist folgenloses Symbolgehabe, bestenfalls dafür geeignet, der eigenen Soziosphäre Zugehörigkeit zu signalisieren. Ernsthafte Bestrebungen, etwas zu ändern, sehen anders aus.

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