Sonntag, 24. September 2017

Taktisch wählen und andere Dummheiten

Es ist Wahlsonntag, ich blicke in meine Twitter-Timeline, und frage mich, ob es allein an der 140-Zeichen-Grenze liegt, dass Leute so viel dummes Zeug auf so wenige Buchstaben konzentrieren.

Bei den früheren Bundestagswahlen hieß es noch: Wählen gehen, egal was. Angeblich ist das gut für die Demokratie. Jetzt, das vieles dafür spricht, dass die AfD es in den Bundestag schafft, heißt es auf einmal: Wählen gehen, aber bloß nicht die AfD, weil die nämlich nicht gut für die Demokratie ist. Ah ja, Wählen stellt auf einmal keinen Wert an sich mehr dar. Demokratie ist es also nur, wenn die Leute brav das wählen, was mir in den Kram passt. Es mag euch nicht gefallen, aber formal gesehen ist die AfD eine demokratische Partei, sonst wäre sie nämlich nicht zur Bundestagswahl zugelassen worden.

Natürlich, ich weiß, von denen will man eigentlich niemanden im Parlament sitzen haben. Diese Partei ist etwa das, was passiert, wenn man die Spiegel-Online-Kommentarspalte aufschlösse und deren Bewohner in die weite Welt hinausließe: Viertelinformiertheit, mit blasiertem Missionierungsdrang aufgeblasen und mit allem versehen, was die Bildungsexperimente der letzten Jahrzehnte am Wegesrand hinterließen, in erster Linie also Rechtschreibung auf Vorkindergartenniveau. Das Einzige, was sie beherrschen, sind verbale Kraftmeiereien, gegen die sich Fußballfangesänge wie geschliffene Sottisen Thomas Manns ausnehmen. Natürlich will man die nicht im Bundestag haben, aber mit Verlaub: Wir haben ihnen auch nach Kräften den Weg geebnet. Die Große Koalition hat gemütlich und ohne besondere Höhen oder Tiefen vier Jahre durchregiert, und dem bisschen, was an Opposition noch verblieben war, misslang es, zu verdeutlichen, was mit ihr denn großartig anders laufen wird. Die Einzigen, die der ganzen Bräsigkeit etwas entgegensetzten, war die AfD, und nachdem mit den Piraten die letzte Protestpartei sich selbst zerlegt hatte, wanderten deren Wählen eben dorthin, wo sie ihren Damp ablassen zu können meinten.

Je näher die Bundestagswahl rückte, desto deutlicher stellten auch vermeintlich parteipolitisch neutrale Organisationen klar, wo sie tatsächlich stehen. Besonders negativ fiel dabei Campact auf. Campact, die Älteren werden sich erinnern, begann vor über einem Jahrzehnt als eine Kampagnen- und Petitionsplattform für alles, was irgendwie für Umwelt und gegen Turbokapitalismus war. Kurzzeitig entdeckte Campact sogar seine Liebe zum Datenschutz. Inzwischen aber nutzt die Plattform ihre über Jahre mühsam erarbeitete Reputation, um ganz platt Parteienwerbung zu betreiben. Natürlich sagt sie dass nicht ehrlich, sondern versteckt sich hinter der formal korrekten Argumentation, sie setze sich nicht für eine Partei, sondern für die Direktkandidaten Lauterbach und Kelber ein, die - huch, welch ein Zufall - beide der SPD angehören. Man habe es sich mit der Entscheidung, so plump in den Wahlkampf einzugreifen, nicht leicht getan, heißt es auf der Webseite, aber die beiden Jungs seien nun einmal so supi, da hätten sie praktisch keine andere Wahl gehabt, als in iherm Newsletter für diese Kandidaten zu schwärmen und zu fragen, ob man für sie nicht auch auf der Webseite werben dürfe. Kelber, Kelber, Sekunde, da fällt mir noch was ein. War das nicht der, dem man in Echtzeit beim Umfallen zuschauen konnte, als er Staatsekretär im Justizministerium wurde, eben jenem Ministerium, dessen Chef einst verkündete, mit ihm werde es die Vorratsdatenspeicherung ganz bestimmt nicht geben, nur um nach einer kurzen Kaderschulung durch Sigmar Gabriel einen Sinneswandel zu erfahren. Ähnlich ging es Kelber, der seine angebliche Überzeugung mit dem neuen Hausausweis tauschte. So sind sie, die Spezialdemokraten. Aufrecht und standhaft wanken und weichen sie nicht, wenn es um die Sache geht. Da weiß man wenigstens, was man sich für die nächsten vier Jahre ins Parlament wählt.

Aber Campact geht noch weiter. In einem neuen Blogpost verkündet die NGO, wie heute gefälligst gewählt werden soll: Etabliert. Rot, gelb, grün oder schwarz (naja, wie wir wissen, natürlich am liebsten hellrot). Auf keinen Fall soll man jedoch eine Partei wählen, die es den aktuellen Umfragen zufolge nicht ins Parlament schafft. Das ist nämlich böse und im Prinzip so, als wähle man die AfD.

Hä?

Hier kommt eine Argumentation ins Spiel, die in den vergangenen Wochen nicht nur von Campact gebracht wurde: taktisch wählen, also nicht etwa die Partei, die man eigentlich will, sondern, tja irgendwas Anderes, weil dann Magie passiert und die eigene Stimme sich in etwas verwandelt, das den eigenen Willen viel besser umsetzt, als hätte man die Wunschpartei gewählt. Wie das funktioniert? Nehmen wir zum Beispiel an, sie wären Piraten-Wähler. Der Piraten-Wähler. Oder der Andere, da sind sich die Demoskopen nicht sicher. Jedenfalls reicht Ihre Stimme nicht aus, um diese Partei über die Fünf-Prozent-Hürde und damit ins Parlament zu hieven. Damit hat Ihre Stimme angeblich keine Auswirkung auf die Sitzverteilung im Parlament. In der Konsequenz seien nur die Stimmen für Schwarzrotgelbgrün geeignet, die blau-braune Flut zu dämmen.

Zwar ist diese Begründung kein offenkundiger Blödsinn, aber ganz korrekt ist sie auch nicht. Erstens zählt jede gültige Stimme (während ungültige Stimmen, egal warum sie ungültig sind, nur auf die Wahlbeteiligung wirken und sonst exakt niemanden beeindrucken). Das heißt: Jede gültige Stimme legt die Fünf-Prozent-Hürde etwas höher und erniedrigt den prozentualen Anteil aller Parteien, für die man nicht gestimmt hat. Auf die Sitzverteilung im Bundestag hat das zwar keinen Einfluss, wohl aber auf die Frage, was man erreichen muss, um in den Bundestag einzuziehen.

"Na, das ist ja wohl klar. Ich kenne die Umfragen."

Ah, deswegen braucht der FC Köln auch nicht gegen Bayern zu spielen, weil hier klar ist, wer gewinnt. Ja, warum führen wir überhaupt noch Wahlen durch, wenn die Demoskopen schon wissen, wie sie ausgehen?

Selbst, wenn wir ausblenden, dass die Umfragen gerade bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen daneben lagen, rufe ich eine Banalität in Erinnerung: Auch wenn Bayern klar das stärkere Team ist, steht das Ergebnis erst nach dem Schlusspfiff fest. Auch wenn es klar zu sein scheint, dass die AfD mit 10 Prozent oder gar mehr ins Parlament einzieht - müssen erst einige Millionen entsprechend angekreuzte Stimmzettel in Wahlurnen gesteckt werden. Der Eindruck der vergangenen Wochen, dass im Wesentlichen alles gelaufen ist und wir eigentlich nur noch über den oder die Juniorpartner einer CDU-geführten Koalition entscheiden, ist völliger Unsinn. Ebenso ist es Quatsch, taktisch zu wählen, weil beiden Annahmen der gleiche Irrtum zugrunde liegt: der Irrtum, man allein entscheide sich gegen die Masse.

Steuerbetrug, Umweltverschmutzung, Verkehrschaos - das alles sind Phänomene, die auftreten, weil Sie selbst sich für so wahnsinnig schlau halten, dass Sie als Einzige sich nicht so dumm verhalten wie der Rest. Tatsächlich ist es völlig egal, ob Sie allein Ihren Müll richtig entsorgen. Dummerweise denken aber viele so, und deswegen liegt überall Dreck herum. Ob Sie Ihre Steuererklärung korrekt ausfüllen, kümmert niemanden. Die wenigen Euro, die Sie unbemerkt am Fiskus vorbeischummeln, rechtfertigen nicht den Aufwand, den die Behörde zu deren Entdeckug betreiben muss. Als Massenphänomen entgehen dem Staat Milliarden. Denken Sie daran, wenn Sie sich das nächste Mal über marode Straßen, verfallende Schulgebäude und unterbezahlte Polizisten aufregen. Das haben Sie höchst persönlich mit zu verantworten. Noch offensichtlicher ist es im Straßenverkehr: Die aus dem nichts auftauchenden Staus kommen zustande, weil irgendwelche Schlauberger meinen, sie seien viel klüger als der Rest, bräuchten sich nicht an Verkehrsregeln zu halten und wüssten diesen supergeheimen Schleichweg. Da der Rest der Autofahrer aber genau den gleichen Blödsinn denkt, kommen Sie auf den Straßen nicht voran.

Genau das passiert auch bei der Wahl: Kleine Parteien nicht zu wählen, weil sie so klein sind, ist eine selbsterfüllende Prophezeihung. Nicht zur Wahl zu gehen, weil doch ohnehin klar ist, dass die CDU (oder wer auch immer) gewinnt, kann dazu führen, dass am Ende die entscheidenden Stimmen fehlen. Als CDU-Stammwähler diesmal für die FDP zu stimmen, damit Schwarzgelb zustande kommt, kann bedeuten, dass die FDP plötzlich vor Kraft kaum noch gehen kann, in der Koalition den dicken Max markiert und die CDU ihre Positionen nicht mehr richtig durchgesetzt bekommt.

Vor allem, was ist das für ein Argument: "Wählt schwarzrotgelbgrün, um die AfD klein zu halten"? Das ist doch nichts weiter als das Signal: weiter so. Alles supi. Ihr habt durch einen Meinungseinheitsmatsch dafür gesorgt, dass die AfD sich zum Gegengewicht aufschwingen konnte, und diese langweilige Konturlosigkeit unterstütze ich jetzt mit meiner Stimme, damit die AfD bei der nächsten Wahl so groß wird, dass sie die SPD als Juniorpartner einer Großen Koalition ablöst.

Ist es wirklich das, was ihr wollt?

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