In den Tagen nach wichtigen Ereignissen möchte ich am liebsten mein Twitterkonto löschen.
Ein aufgeblasender Post reiht sich an den nächsten. Alle versuchen, sich an Wuchtigkeit zu überbieten. In einer Welt, deren Währung aus Retweets besteht und im Extremfall der persönliche Andy-Warhol-Moment in Form einer Talkshow winkt (über die man dann später gern auch noch ein Buch schreibt), geht es in solchen Zeiten weniger denn je um kluge Sätze, um Differenzierung und Auseinandersetzung, sondern da geht es um Haudrauf-Rhetorik, um die ganz großen Emotionen. Anders kommt man nicht an seine Likes.
Da werden sprachlich ganze Armeen in Stellung gebracht, und selbst der kleinste Tropf baut sich auf wie König Theoden vor seinen Soldaten bei der Schlacht um Rohan, mit gezücktem Schwert die vorderste Reihe abreitend, die gezogenen Speere anschlagend. Was das Maulaufreißen angeht, will man sich dem Feind von der AfD nicht geschlagen geben.
Ein kleines Experiment.
Naz.
Nazinaz.
Nazinazinazinaz.
Nazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinazinaz.
Merken Sie was? Genau, es langweilt. Es wirkt nicht mehr. Es nutzt einfach ab.
Wenn wir aus den letzten Wahlen eine Lehre ziehen können, ist es die: Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Das behauptet die AfD, und sie ist selbst ein komplexes Problem. Wer behauptet, das sei in Wirklichkeit ganz einfach, man bräuchte nur (wählen Sie bitte eins und nur genau eins) den Sozialstaat verbessern, die AfD rechts überholen oder nur laut genug "Nazis raus" schreien, begibt sich auf genau das Feld, das bereits von der AfD seit Monaten erfolgreich beackert wird. Falls Sie jetzt von mir erwarten, dass ich die Zauberformel aus dem Hut ziehe: nein, die habe ich nicht, aber eins kann ich versprechen: es wird kompliziert. "Kompliziert" ist übrigens das Gegenteil von "den Frauenanteil der verschiedenen Fraktionen zählen, feststellen, dass er bei der AfD besonders niedrig ist und das so verkünden, als hätte man hier den ultimativen Beweis für irgendwas gefunden".
Ich frage mich ohnehin, warum in den vergangenen Tagen die Leute immer wieder mit vor Empörung zitternder Stimme verkünden, sie hätten das AfD-Parteiprogramm gelesen. Oder das Wahlprogramm. Oder eine Rede gehört. Das sei ja schlimm, was da stünde (oder gesprochen werde).
Wen bitte wollt ihr mit diesen Enthüllungen erreichen? Die Leute, welche den Laden ohnehin nicht gewählt haben? Ja, ratet mal, warum die das taten. Die Leute, welche die AfD gewählt haben? Da gibt es zwei Gruppen. Die eine, kleinere, hat sie genau wegen dieser Sätze gewählt, der anderen war es egal, weil sie aus Protest und nicht wegen irgendwelcher Inhalte gewählt haben. Was erwartet ihr? Dass die AfD-Wähler jetzt erschrocken aufhorchen "ja, nee, das habe ich nicht gewusst, da wähle ich jetzt schnell wieder SPD"?
A propos SPD: Besonders putzig finde ich deren neue Haltung. Jetzt sind die schon ganz mutig in die Niederungen der Opposition abgestiegen, dann ist auch alles wieder gut, ja? Über Jahrzehnte versaute Regierungspolitik, abgebauter Sozial-, dafür aufgebauter Überwachungsstaat - vergeben und vergessen. Jetzt sollen wir alle auch hübsch schnell in die Partei eintreten und brav mitgestalten. Als Zeichen des kompletten Neubeginns wurde Noch-Arbeitsministerin Andrea Nahles als Fraktionsvorsitzende bestimmt. Nahles, deren herausragendste Leistung im, naja, Singen des Pipi-Langstrumpf-Lieds bestand. Ihre neue Rolle als Oppositionsführerin übte sie schon einmal mit twitterwürdiger Verbalkraftmeierei: "Ab morgen kriegen sie in die Fresse." Mit Verlaub, Frau Ex-Ministerin, die Rolle des Haustrottels ist schon an die AfD vergeben. Seien Sie nur froh, dass sie das nicht auf Facebook rausgerülpst haben, da hätte Ihr Kollege Maas das mit Hilfe seines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes gleich wegzensiert. Die Aufgabe der Opposition, und das zu wissen hätte ich von einer Profipolitikerin erwartet, besteht darin, die Regierung zu kritisieren, Gegenvorschläge zu unterbreiten. Das ist das genaue Gegenteil von "Fressehauen" oder wie es die Kollegen von der AfD auszudrücken belieben "Jagen".
Zur Ehrenrettung der singenden Ex-Ministerin sei gesagt: Ihr Parteichef kann es auch nicht besser. Die Kasperlevorstellung, die er am Wahlabend in der "Elefantenrunde" von sich gab, hätte selbst unter Volltrunkenen im Wisn-Bierzelt für betretenes Schweigen gesorgt. Das klang wie ein verstoßener Liebhaber, der völlig beleidigt feststellt, dass der Nebenbuhler mehr Glück hat. Was bitte ist daran so schlimm, dass die Grünen sowohl für eine Koalition mit der SPD zu haben waren, jetzt aber mit der CDU koalieren? Was ist so schlimm daran, dass Merkel als Verhandlungspartnerin zu Kompromissen bereit ist? Wieso kritisiert Schulz an der Kanzlerin genau das Verhalten, das seiner Partei in zwei Großen Koalitionen Ministersessel eingebracht hat? Natürlich waren die so dargereichten Früchte vergiftet. Merkels Fähigkeit, den Koalitionspartner kleinzuregieren, war bekannt. Keiner in der SPD kann behaupten, er hätte das nicht gewusst, bevor sich die Partei mit vor Machtgier feuchten Händen in die Staatskanzlei stürzte.
Das mag hart für die Spezialdemokraten sein, aber die Lage, in der sich die Partei gerade befindet, lässt sich mit der jahrelang praktizierten Symbolpolitik nicht wegzaubern. Hier ist über Jahrzehnte Vertrauen verspielt worden, und das gewinnt man nicht wieder, indem man Andrea Nahles, die jahrelang am Niedergang der Partei mitgewirkt hat, von der Oppositionsbank der Regierung "in die Fresse" hauen und ansonsten alles beim Alten lässt. Die taz hat es treffend analysiert: Die SPD muss herausfinden, was "Sozialdemokratie" heute bedeutet. Oder, schärfer formuliert: Sie muss erklären, warum man sie noch braucht.
Auf Twitter schrieb Maxim Loick: "Ich find's ja gut, dass es nach 80Mio Bundestrainer*innen jetzt 80Mio SPD-Vorsitzende gibt. Ihr könnt ja mitmachen." Abgesehen davon, dass Gendersternchen genau das sind, was die Leute in die Arme der AfD treibt, enthält der Tweet eine Fehlannahme: Ein Großteil der Leute interessiert sich für Fußball und will, dass die "eigene" Mannschaft Erfolg hat. Für die SPD interessiert sich gerade einmal ein Fünftel der Wähler.
In diesen Tagen bemüht die SPD gern die Geschichte, erzählt stolz von den eineinhalb Jahrhunderten, die sie bereits existiert und brüstet sich damit, wie sie damals, 1933, als einzige Partei gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, wie Sozialdemokraten für ihre Überzeugung in die Konzentrationslager und in den Tod gegangen sind. Ja, das ist in der Tat bewundernswert und ein historischer Verdienst - derer, die damals Haltung gezeigt haben. Vor 84 Jahren.
Auch das mag den heute lebenden Sozialdemokraten nicht gefallen: Sie haben keinen Anteil an den Verdiensten ihrer Groß- und Urgroßeltern. Nicht Kurt Beck, nicht Franz Müntefering und ganz überraschend auch nicht Andrea Nahles waren damals im Widerstand, auch wenn sie sich noch so sehr damit brüsten, es waren Willy Brandt, Kurt Schumacher und Otto Wels. Es wird Zeit, dass die SPD begreift: Ihr könnt euch nicht ewig auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruhen. Das Rückgrat, dass die Genossen im Namen der Freiheit besessen haben, rechtfertigt nicht den Abbau eben dieser Freiheit durch heutige Parteimitglieder.
Die SPD hatte ihre Blüte in einer Zeit, in der die Schwerindustrie das Land prägte. Millionen Menschen gruben Kohle und Erz aus der Erde, verhütteten Stahl und schraubten Autos zusammen. Wenn die Arbeiterbewegung die Muskeln spielen ließ, wusste man: Jetzt wird's ernst. Heute spielt nicht mehr die Industrie, sondern vor allem die Dienstleistung eine Rolle. Soziale Ungerechtigkeit gibt es nach wie vor, doch die SPD war so beschäftigt, sich als die große, staatstragende Kraft aufzuspielen, dass die Linke - ob nun zu recht oder nicht - die Kompetenz zur Lösung dieses Problems beanspruchen konnte. Diesem Selbstbild, nicht mehr die schmuddeligen Kohlekumpel aus dem Ruhrpott, sondern die nadelstreifentragenden Staatsleute zu sein, war die SPD bereit alles zu opfern, unter anderem ihre eigene Seele.
Wer sich nicht mehr erinnern kann, der bemühe ein Internetarchiv, um herauszufinden, wie die SPD anno 2009 die parteiinterne Kritik an der Internetzensur unterdrückte. Er möge nachschlagen, wie die SPD-Parteispitze mit Rücktrittsdrohungen und mafiaähnlichen Unterhaltungen mit Mandatsträgern ("Du willst doch auch das nächste Mal wieder aufgestellt werden, oder?") den "Mitgliederentscheid" zur Großen Koalition durchpeitschte. Ähnliche Methoden kamen ebenfalls zum Einsatz, um den Schwenk hin zur Vorratsdatenspeicherung einzuleiten. Hier offenbart sich ein strukturelles Problem der Partei, und das löst man nicht, indem man beleidigt in der Opposition herumpöbelt und glaubt, da sei ja wohl nun wirklich Strafe genug.
Aber was rege ich mich auf. Twitter kann jetzt 240 Zeichen!
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