Man sollte meinen, dass die Leute nach 11 Jahren ungefähr begriffen haben, wie Twitter funktioniert. Bestimmte Missverständnisse sollten eigentlich nicht mehr vorkommen. Sollten. Eigentlich. Tatsächlich aber kommt es immer wieder zu Zwischenfällen, die mich erheblich an der Medienkompetenz der Akteuere zweifeln lassen. So geschehen am 25. Mai 2017 um 8:27 Uhr. Da twitterte @kirchentag_de von einem Podium des Berliner Kirchentags:
"Durch die Zuwanderung sind 15.000 bis 20.000 Terroristen nach Deutschland gekommen" meint @AnetteSchultner von der AfD
Das sind 120 Zeichen. Von 140 erlaubten. Was folgte, war ein einhelliger Aufschrei der Empörung der üblichen Maulaufreißer. Was dem Kirchentag denn einfiele. So ein Skandal. Einfach so eine Aussage zu posten. Eins zu eins. Ohne Distanzierung. Die Antwort von @kirchentag_de fiel nicht unbedingt professionell aus, war aber offensichtlich von der Heftigkeit der Reaktion überrascht. Man habe die Aussage "redaktionell eingeordnet", soll heißen: als Zitat gekennzeichnet. Das war aber den Meisten nicht genug. Man hätte eindeutig klarstellen müssen, wie sehr man solche Sätze verurteilt.
Jetzt verrate ich euch ein Geheimnis. Beiden Seiten, @kirchentag_de und den ganzen Berufsempörten: Twitter lässt maximal 140 Zeichen pro Tweet zu. Mit allen Interpunktionszeichen umfasste dieser Tweet 120 Zeichen. Was bitteschön erwartet ihr in den noch verbleibenden 20 Zeichen? Ein flammendes Bekenntnis zur Genfer Menschenrechtskonvention? Eine zweiseitige Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz, welche diese Äußerung aufs Schärfste verurteilt? Leute, habt ihr noch nie in eurem Leben Twitter benutzt? Da berichten ständig Leute auf diese Weise von Veranstaltungen. Sie schreiben, was verschiedene Podiumsgäste sagen, verdeutlichen, dass sie nur berichten und nicht etwa sich die Aussagen aneignen. Kein Mensch, jedenfalls keiner mit nur Ansätzen von Grips im Kopf, käme auf die Idee, sich darüber aufzuregen, dass jemand ein Zitat korrekt wiedergibt. Im Gegenteil, die Meisten freuen sich, auf diese Weise die wichtigsten Äußerungen einer Veranstaltung mitzubekommen.
Auf der anderen Seite: Liebe @kirchentag_de-Redaktion (und ich meine das "liebe" nicht, wie in solchen Kontexten üblich, ironisch, sondern ich habe trotz aller Kritik, die man an dem alle zwei Jahre ausgetragenen Massenauflauf der Realitätsgeflüchteten haben kann, Respekt vor dem nötigen organisatorischen Können und finde die meisten Leute auf dem Kirchentag auch wirklich nett), konntet Ihr nicht ahnen, dass Ihr mit diesem Tweet einen (verzeiht mir das dümmliche Modewort) Shitstorm lostreten werdet? Mir ist schon klar, dass in den Tweet nur das Zitat und nicht noch ein langer Lex hineinpasste, wie doof Ihr diese Äußerung findet, aber vielleicht wäre es besser gewesen, so ein Zitat gar nicht erst zu twittern, sondern auf einer Plattform abzusetzen, die ein wenig mehr Einordnung erlaubt. Es mag Euch in Eurer Filterblase nicht auffallen, aber auf Twitter gibt es sehr viele Leute mit einem, sagen wir, sehr schlichten Gemüt und umso klareren Feindbild. Über die Kirche, sei sie evangelisch oder katholisch, denken sie ähnlich differenziert wie die AfD über den Islam. Kirche ist böse, BÖHÖSE. Das sind die mit der Inquisition (ach, da gab's die Protestanten noch gar nicht? Egal) und der Hexenverbrennung, die den ganzen Tag damit verbringen, zu einer nichtexistenten (da sind sie GANZ sicher) Entität zu beten und kleine Jungs zu vergewaltigen. DEN GANZEN TAG. Und zwischendurch hassen sie die Homosexuellen, obwohl sie doch selbst alle schwul sind. Und frauenfeindlich. Der Luther, das ist der allerschlimmste von denen. Der und sein Antisemitismus, die haben Auschwitz doch erst ermöglicht. So, und jetzt heizt diesen brodelnden Kessel noch mit dem Zunder eines, zugegebenermaßen unglücklich platzierten, AfD-Zitats, und das Ding geht ab wie eine Rakete. Da werden doch gleich alle Vorurteile auf einmal bedient. Es gibt Leute, bei die sich bei Tweets wie diesem wahnsinnig progressiv, intelligent und revolutionär vorkommen und wahrscheinlich wochenlang gewartet haben, bis sie endlich ganz mutig und provokant Tweets wie den hier absetzen konnten. Es hätte Euch doch klar sein müssen, dass die fast vor Dankbarkeit gebetet haben, dass Ihr ihnen diesen Brocken vor die Füße geknallt habt.
Und nun zu Euch, ihr Intelligenzbestien, die auf Twitter ihren heiligen Krieg gegen eine der Bedeutungslosigkeit entgegenschliddernden Minderheitenreligion kämpft. Meint Ihr nicht, Ihr seid ein bisschen zu alt für sowas? Habt Ihr das früher in der Schule auch so mutig gefunden, dem Typen, den ein Anderer vermöbelt hat und der jetzt am Boden liegt, noch einen saftigen Tritt mitzugeben, am besten der Stelle am Fußboden, wo er lag, fünf Minuten, nachdem er abtransportiert worden war, damit er sich ganz bestimmt nicht mehr wehren kann und ihr keinen Ärger mit der Schulleitung bekommt? Kamt Ihr Euch dabei auch total stark vor? Toll, Ihr seid die Größten. Ich bin so stolz auf Euch.
Es ist ja nicht so, als seien Eure Vorwürfe gegen die beiden deutschen Staatskirchen (oh, das hören die gar nicht gern, aber wie nennt man eine Kirche, die sich ihre Mitgliedsbeiträge vom Staat eintreiben lässt, und das sogar von Leuten, die gar nicht Mitglied sind?) komplett aus der Luft gegriffen, aber stellt Euch vor, irgendwer hätte eine ähnlich platte Sicht gegen den Islam oder das Judentum vertreten, hätte nur deren dunkle Seiten aufgezählt und so getan, als bestünden diese Religionen nur aus den so sorgfältig herausgepickten Schandflecken. Uiuiui, was hättet Ihr Euch ins Zeug geworfen, einen -ismus nach dem nächsten heraufbeschworen. Da müsse man doch differenzieren, hättet ihr empört geschrieen. Stellt Euch vor, jemand hätte Euch zu Antisemiten erklärt, weil Ihr die Siedlungspolitik Israels kritisiert, dem hättet ihr aber was erzählt. Und die Israelfahne, die damals auf der Demonstration verbrannt wurde, das war erstens eine Staatsflagge, zweitens habt Ihr bestenfalls daneben gestanden und mutig dagegengeklatscht, und drittens war es nur eine ganz kleine Flagge.
Merkt Ihr jetzt, wie es sich anfühlt, undifferenziert angeblökt zu werden?
Schaut Euch doch einmal die Mitgliederzahlen an. Waren 1950 noch 96,4 Prozent in der Kirche, sind es jetzt gerade einmal 56 Prozent. Allein die evangelische Kirche verlor zwischen 1990 und 2015 ganze 7.150.000 Mitglieder, das sind 286.000 pro Jahr. Sie liegt damit bei 27,1 Prozent der in der Bundesrepublik wohnenden Menschen. Nur zum Vergleich: Konfessionslose stellen die größte Gruppe mit 36 Prozent. Ihr braucht einfach nur zu warten, und Euer Lieblingsgegner verschwindet von selbst. Ihr braucht nicht einmal Twitter dafür.
So, und jetzt setzen wir uns alle hin, atmen einmal tief durch und schreiben alle hundert mal auf: Twitter hat nur 140 Zeichen. Get used to it.
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