Montag, 2. November 2015

Buchkritik: Stephan Urbach: Neustart

Die Netzbewohnerinnen schreiben Bücher. Ganz klassisch. In Papierform. Ein wenig bizarr mutet es schon an, wenn man noch ihre Pamphlete in Erinnerung hat, die großspurig das Ende des "Totholzzeitalters" verkündeten und von einer Welt fabulierten, in der nur noch Gedanken real wären. Man kann es drehen und wenden wie man will - so ein schöner, breiter Buchrücken im Regal gibt einfach mehr her, ist immer noch realer als ein paar eifrig auf der Festplatte rotierende Elementarmagnete.

Für langjährige Datenreisende bieten die Ergebnisse dieser Schreibarbeit selten Überraschungen. Constanze Kurz und Frank Rieger erklären, warum Datenschutz ganz toll ist, Christian Heller erklärt, warum Datenschutz der größte Blödsinn ist, Sascha Lobo erklärt, warum beide Unrecht haben, wie eigentlich alle außer ihm Unrecht haben. Dann gibt es noch vor Selbstgerechtigkeit und -mitleid triefende Machwerke, die mit Wikileaks abrechnen, mit den Piraten abrechnen, oder man gibt gleich ganz den Anspruch auf, über irgendetwas Anderes als sich selbst schreiben zu wollen und schwadroniert in epischer Breite über die paar Wochen, in denen die eigene Existenz so etwas Ähnliches wie Relevanz besessen hat.

In diese Kategorie hätte auch Stephan Urbachs Buch fallen können. Als Internetaktivist in CCC-Kreisen bekannt und geschätzt, durch seine Arbeit bei Telecomix auch außerhalb der Nerdszene mit ausreichend Street Credibility versehen, um mit einem Buch Absatz erwarten zu lassen. Er hätte einfach nur eine mit reichlich Anekdoten und Insiderwissen gespickte Beschreibung der letzten Jahre schreiben müssen, und das Werk hätte sich verkauft.

Aber das wäre nicht Stephan Urbach gewesen.

Wer ihm schon einmal im Analogleben begegnet ist, wird sich an seine für Nerds ungewöhnliche Emotionalität erinnern, ganz im Gegensatz zum sich in der Regel eher distanziert und entspannt gebenden Standard-Hacker. Wenn er auf einer Konferenz eine Keynote hält, hat er nicht tagelang an jeder Formulierung gefeilt. Er hat nicht überlegt und abgewogen, wie er seinen Punkt möglichst gefällig vermittelt. Nein, er sagt, manchmal rotzt er auch raus, was er meint, kompromisslos und vor allem: ehrlich. Ohne politisches Kalkül. Dafür wird er oft kritisiert, aber eben auch geschätzt. In einer Zeit, in der ölige Politprofis sich durchs Leben taktieren, braucht man einen Stephan Urbach, dem dieser ganze diplomatische Firlefanz zuwider ist. Er neigt zum Pathos. Auch in seinem Buch gibt es reichlich davon, aber es ist nicht der Pathos eines sich in Szene setzenden Helden, sondern eines Menschen, dem eine Sache nahe geht, der sich kümmert und der seinen Gefühlen Ausdruck verleiht.

Wenn man in einer Kritik sagt, jemand habe "ein mutiges Buch geschrieben", ist das normalerweise der Code für: "Ja, es ist mutig, so einen Stuss auf die Öffentlichkeit loszulassen." Urbachs "Neustart" ist auch ein mutiges Buch. aber in einem anderen, viel positiveren Sinn. Es gehört Mut dazu, ein Buch zu schreiben, in dem man immer wieder wie der letzte Idiot wirkt. Es gehört Mut dazu, über eigene Schwächen, Unzulänglichkeiten und Fehler zu schreiben, und zwar nicht so, dass es als die große Lebensbeichte daherkommt, in deren Verlauf man praktisch verzeihen muss, sondern so, dass man oft genug sagt: "Ja, Tomate, das war wirklich daneben, aber gut, dass du nicht drumherum redest." Urbach hat ein Buch geschrieben, in dem er sich eine Blöße nach der anderen gibt. Über die Gründe kann ich nur spekulieren, aber durch diese Blößen wird das Buch etwas Besonderes: kein weiteres eitles, kokettierendes Selbstbeweihräucherungsmachwerk, von denen die Netzgemeinde in den letzten Jahren reichlich produziert hat, sondern die Biografie eines Netzaktivisten und Hackers, der sein Leben nicht im Griff hat und mit viel Glück an seinem Engagement nicht zerbrochen ist.

Hier wird auch klar, warum Urbach sein Buch möglicherweise geschrieben hat, warum er es so und nicht anders geschrieben hat: Er sieht sich nicht als Einzelfall. Er sieht sich als einer von vielen Aktiven. Aktive, die in einer Mischung aus Flucht vor sich selbst und Idealismus auf Reserve leben. Das ist oft genug schief gegangen, und auch Urbach hätte es beinahe nicht überlebt. Doch er hat nicht nur überlebt, sondern auch Konsequenzen gezogen. Er brennt immer noch für seine Sache, aber er weiß, wo es enden kann, und er schreibt darüber, damit Andere es ebenfalls wissen. Sein Buch ist nicht ein weiteres netzphilosophisches Machwerk, das man durchliest, ein paar nette Ideen mitnimmt und es dann ins Regal stellt. Sein Buch ist unperfekt, emotional, distanzlos. Es berührt.

Danke.


Stephan Urbach: .Neustart - Aus dem Leben eines Netaktivisten, Droemer-Knaur, 12,99 €

http://www.droemer-knaur.de/buch/8418445/neustart

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