"Wenn Du drei Viertel der deutschen Internetaktivisten auf einen Schlag erledigen willst, brauchst Du nur dieses Tagungshaus zu sprengen." Dieser Satz eines Teilnehmers am AKtivCongrez 2010 in Hamburg beschreibt gut die Zusammensetzung des Koordinierungstreffens, auf dem sich rund 70 Vertreter der Arbeiskreise Vorratsdatenspeicherung und Zensur, des FoeBuD, CCC, Gewerkschaften, FDP, Grüne und Piratenpartei, aber auch einige organisatorisch Ungebundene vom 12. bis 14. März zusammensetzten, um ihr weiteres Vorgehen zu organisieren. Wer auch immer in den letzten Monaten und Jahren in der deutschsprachigen Netzkultur von sich reden machte - die Wahrscheinlichkeit, ihn auf dem Kongress zu treffen, war hoch.
Zu besprechen gab es einiges, vor allem aber zwei Fragen: Wie sehen die nächsten Aktionen aus? Wie bekommen wir unsere Kräfte besser gebündelt?
Gerade die organisatorische Frage nahm viel Raum ein, hatte es doch in den vergangenen Monaten immer wieder Reibungsverluste gegeben, weil Datenschutz, digitale Bürgerrechte und Zensur zwar thematisch nah beieinander liegen, aber organisatorisch auf die beiden großen Arbeitskreise verteilt sind und die Verteilung nicht immer klar ist.
Eine zweite wichtige Frage war die nach der nächsten Massenaktion. Die Diskussion ging lange hin und her, am Ende fand sich eine Mehrheit für eine Großdemonstration am 11.9. in Berlin und einem bundesweiten Aktionstag vor der Fußballweltmeisterschaft. Einigkeit herrschte beim Anspruch, vom klassischen "Wir karren möglichst viele Leute auf einen großen Platz, lassen sie einige Stunden mit Transparenten im Kreis laufen und glauben ernsthaft, damit etwas bewegt zu haben" weg will. Es fehlt allerdings noch die zündende Idee, wie die Alternative aussieht.
Diffus sind auch noch die Vorstellungen zum bundesweiten Aktionstag, zumal die Planungsphase recht kurz ist, wenn man noch vor der Fußballweltmeisterschaft etwas zustande bringen will. Die Schwierigkeit liegt möglicherweise darin, dass man bei einer zentralen Großveranstaltung sofort ein Bild im Kopf hat, wie so etwas aussieht, und wenn einem partout nichts einfällt, hat man immer noch als Verlegenheitslösung den klassischen Massenaufmarsch mit Transparenten und Trillerpfeifen. Bei einem dezentralen Aktionstag braucht man ein Konzept, das überall funktioniert und dennoch ein Gesamtbild ergibt. Ohne den getroffenen Beschluss in Frage stellen zu wollen - so lange sich niemand findet, der ihn durchführt, ist er nicht viel wert.
Sehr viel konkreter sind die Ideen, was die Umsetzung eines anderen großen Wunsches angeht: Internationalisierung. Es zeichnet sich schon seit längerer Zeit ab, aber das Vorratsdatenspeicherungsurteil zeigt es noch einmal: Digitale Bürgerrechte muss man auf europäischer Ebene behandeln, wenn man erreichen will, dass sie sich in Deutschland verbessern. Politische Entscheidungen werden zunehmend europaweit getroffen, und die jüngsten Abstimmungen des EU-Parlaments zeigen deutlich, dass sich die Parlamentarier ihrer eigenen Macht bewusst werden und die Chancen für eine Demokratisierung der EU deutlich steigen. Die deutschen Internetaktivisten werden sich daran beteiligen.
Den größen Schritt voran ging es bei der Entwicklung des "Inkubators". Dieser aus der Zeit der dotcom-Blase vorbelastete Begriff beschreibt den Wunsch, eine zentrale Anlaufstelle zu haben, an die man sich wenden kann, wenn man als Bürgerrechtsaktivist etwas anzubieten hat oder etwas sucht und die passenden Kontakte oder Informationen braucht - eine Art NGOogle. Hier gediehen die Ideen so weit, dass die organisatorische und technische Umsetzung bereits anläuft.
So weit zu den Ergebnissen. Fast noch mehr als die beeindruckt mich aber der Weg, wie sie erreicht wurden. Ich hatte als Kind der Achtziger oft genug Gelegenheit, gute Bewegungen aufkeimen, gedeihen und schließlich an inneren Streitigkeiten eingehen zu sehen. Wenn ich mir ansehe, wie die digitalen Bürgerrechte zur Zeit agieren, habe ich begründete Hoffnung, dass hier etwas von Dauer entsteht. Obwohl es in den letzten Jahren immer wieder Streitereien gab, die bisweilen sehr hässlich ausgetragen wurden, schafft es die Bewegung immer wieder, sich auf gemeinsame Ziele zu konzentrieren. An der Sachlichkeit, mit der hier diskutiert wurde, kann sich manch ein abgebrühter Politprofi ein Beispiel nehmen. Mitunter waren einzelne Teilnehmer einfach übermüdet und deswegen ihr Tonfall etwas genervt, aber es wurde nie persönlich. Tricksereien und Zermürbungstaktiken, wie ich sie von Parteiversammlungen und -tagen kenne, fehlten völlig. Mitunter zogen sich Diskussionen etwas in die Länge, aber das geschah offensichtlich nicht aus Berechnung.
Ebenfalls beeindruckend waren die verschiedenen Techniken, die während des Kongresses souverän zum Einsatz kamen. Wer nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnte, hielt sich über Twitter auf dem Laufenden. Im Etherpad arbeiteten mehrere Leute gleichzeitig zur Diskussion schon am Protokoll. Wenn jemand eine Datei oder eine Mitschrift brauchte, reichte eine Twitternachricht, und kurz darauf hatte man alle benötigten Informationen. Wer noch an Parteitage gewohnt ist, auf denen es schon als große Leistung galt, wenn einzelne Papiere im Verlauf des Tages fotokopiert und an die Teilnehmer verteilt wurden, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, wenn Ergebnisse praktisch sofort vorliegen. Es gibt etwas zu erledigen? Die Adressen, unter denen man arbeiten kann, sind bekannt, und bei 70 Leuten findet sich immer jemand, der mit anpackt.
Ein Detail, das an dieser Stelle erwähnt werden sollte: Das gastgebende Tagungszentrum des DGB bot angefangen von der Bewirtung über die Zimmer bis hin zur Komplettabdeckung mit WLAN hervorragende Rahmenbedingungen. Die Bundeszentrale für politische Bildung ermöglichte einen äußerst niedrigen Teilnehmerbeitrag. Das sollte man im Kopf behalten, wenn man das nächste Mal über Gewerkschaften und verschwendete Steuergelder lästert.
Zu guter Letzt ein herzliches Dankeschön an alle, die sich an der Vorbereitung, Organisation und Durchführung beteiligt haben.
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