Freitag, 5. März 2010

Menschenrechte als Zumutung empfunden

Das Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal eines seiner legendären "Ja-aber"-Urteile gefällt. Vorratsdatenspeicherung ist generell in Ordnung, aber im Detail muss man sehr genau darauf achten, was man anstellt. Ich schätze das Bundesverfassungsgericht sehr für solche Urteile - gar nicht einmal, weil sie oft in meinem Sinne ausfallen, sondern weil ihr Zustandekommen mein Vertrauen in unsere Demokratie stärkt. Da haben sich ein paar Richter nicht etwa kurz vor Feierabend schnell ein Urteil aus den Fingern gesogen, sondern sich Zeit genommen und Mühe gegeben, den hinter der Klage stehenden Sachverhalt wirklich zu verstehen. Mehrere Beobachter der Anhörung zur Vorratsdatenspeicherung erklärten übereinstimmend, sie wüssten zwar nicht, was die Richter letztlich entscheiden, aber man hätte immer wieder gemerkt, dass sie den dicken Stapel an Gutachten äußerst genau gelesen und vor allem begriffen haben. An einigen Punkten mag das Urteil hinter meinen Erwartungen zurück geblieben sein, aber damit kann ich leben. Es ist mir weniger wichtig, ob jemand die gleiche Meinung hat wie ich. Wichtig ist, ob er darüber nachgedacht hat, und das liest man bei jeder Zeile der Urteilsbegründung.

Das "Ja, aber" der Karlsruher Urteile mag viele ärgern, weil sie gern deutlichere Töne hören möchten. Tatsächlich aber spricht auch dies für das tief sitzende Rechtsempfinden der Richter. Das Bundesverfassungsgericht ist kein Ersatzparlament, das den laienhaften Pfusch der Regierungen gerade biegt. Artikel 20 (2) des Grundgesetzes: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Da steht nicht, dass die Opposition jedes durch eine demokratisch gewählte Mehrheit beschlossene Gesetz durch das Bundesverfassungsgericht wieder abschaffen lassen soll. Es mag ewigen Nörglern wie mir ja nicht passen, aber es gibt seit Gründung der Bundesrepublik eine breite Volksmehrheit für Regierungen, die sich erfolgreich für die Abschaffung von Grundrechten einsetzen. Es ist die Aufgabe der Volkssouveräns, nicht der Verfassungsrichter, daran etwas zu ändern.

Das eigentlich Beschämende an den letzten Urteilen des Bundesverfassungsgerichts ist die Tatsache, dass sie überhaupt gefällt werden mussten. Gesetze werden nicht mehr sorgfältig über Monate hinweg ausgearbeitet, sondern hastig innerhalb weniger Wochen zusammengeschmiert. Der Pöbel soll sehen, dass die Regierung handelt - aktionistisch, wild entschlossen und über das Ziel hinaus schießend. Kurze Zeit später landet dieses Gehuddel auf dem Niveau einer Proseminararbeit vor Gericht, und seufzend müssen die Richter wieder einmal der politischen Kaste die Grundlagen des Rechtsstaats erläutern, auf dessen Wahrung die Parlamentarier vereidigt worden waren.

Wie reagieren die Abgewatschten? Geloben sie mit Schamesröte Besserung? Nein, sie sind auch noch dankbar, wissen sie doch, dass sie auf diese Weise an eine günstige Rechtsberatung gekommen sind. Man schleudert den Richtern einfach irgendein Papier mit Maximalforderungen hin und bekommt einige Wochen später ein Gutachten, in dem steht, wie weit man in Wirklichkeit gehen darf. Während man wartet, bricht man eben ein Weilchen die Verfassung.

Noch mehr als das beunruhigen mich jedoch andere Äußerungen, beispielsweise die Rainer Wendts, Vorsitzender der Polizeigewerkschaft: "Das Urteil vom Dienstag ist ein ganz, ganz schwerer Schlag für die Verbrechensbekämpfung." Es sei "ein guter Tag für die Täter und ein schlechter für die Opfer". BDK-Chef Klaus Jansen: "Das können wir nicht hinnehmen."

Noch einmal: Das Bundesverfassungsgericht ist kein Ersatzparlament. Die Richter fällen ihre Urteile nicht aufgrund parlamentarischer Mehrheiten, sondern in sorgfältiger Anwendung des Grundgesetzes. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung leitet sich direkt aus Artikel 2 (Entfaltungsfreiheit) in Verbindung mit Artikel 1 (Menschenwürde) ab. Was die Kritiker des Urteilsspruchs also in Wirklichkeit sagen, ist: "Schlimm, dass wir uns bei der Polizeiarbeit an die Menschenrechte halten müssen." Was kommt als Nächstes? Die Forderung nach Folter, weil die schweren Jungs dann singen wie die Vögelein? Was sollen dann erst andere Berufsgruppen sagen? Sollen sich Chirurgen darüber beschweren, dass Operationen so viel schwieriger werden, wenn der Patient am Leben bleiben muss? Sollen es die Taxifahrer als unzumutbare Belastung empfinden, nicht mit 200 Sachen die Abkürzung durch die Fußgängerzone fahren zu dürfen? Werte Vertreter der Exekutive, möglicherweise ist es Ihnen nicht klar, aber es geht hier um die Einhaltung genau der Gesetze, zu deren Durchsetzung Ihr Berufsstand überhaupt ins Leben gerufen wurde. Darüber hinaus geht es nicht darum, beim Falschparken oder bei über die Gartengrenze gewachsenen Bäumen ein Auge zuzudrücken, es geht um die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte. Das sind keine Behinderungen, das sind die Grundlagen dieses Staates. Für Leute, die sich dagegen einsetzen, gibt es in diesem Land einen einfachen Begriff: Verfassungsfeinde.

Beispielhaft für viele Polizisten und Politiker erklärt der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-CSU-Bundestagsfraktion Peter Altmaier: "Ich gehe davon aus, dass die Bundesjustizministerin ein Interesse daran hat, möglichst schnell, das heißt vor der Sommerpause, einen Entwurf vorzulegen." Für alle, deren Hirnfunktionen nicht das Erfassen einfacher kausaler Zusammenhänge erlauben: "Möglichst schnell" und "vor der Sommerpause" zusammengeklierte Gesetze sind genau das, was in Karlsruhe gerade immer wieder gekippt wird - das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung eingeschlossen. Was dieses Land braucht, sind keine populistischen Schnellschüsse, deren Kollateralschäden es locker mit dem erhofften Nutzen aufnehmen, sondern durchdachte, intelligente und wirksame Gesetze, die vom Volk akzeptiert werden.

Wie oft muss die Legislative noch von der Jurisdiktion abgewatscht werden, bis sie das begreift?



Nachtrag: Zur Ehrenrettung der Polizei sei gesagt, dass dort überwiegend Leute arbeiten, die wissen, dass man den Rechtstaat nur mit dessen eigenen Mitteln bewahren kann. Ein Interview mit dem Polizeispressesprecher Wolfgang Jürgens ist ein gutes Beispiel, für einen Staatsdiener, der konstruktiv und entspannt mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln arbeitet.

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