Samstag, 18. Februar 2023

Alternativloser Krieg

Jahrzehntelang haben wir über Merkels rhetorische Figur der "Alternativlosigkeit" gespöttelt. Das sei Unsinn, sagten wir, in Demokratien gäbe es immer mindestens eine weitere Option. Wir mögen sie als schlecht oder gar ungeeignet ansehen, aber müssten bei unseren Überlegungen sie immer als existent im Kopf behalten - nicht, weil wir sie ernsthaft erwögen, sondern um uns zu vergegenwärtigen, dass politische Entscheidungen keine Naturgesetze sind.

Jetzt überlegen Sie bitte, wie wir den Ukrainekrieg diskutieren.

Hier erscheint uns jeder Schritt komplett logisch und zwingend. Die russische Armee überfällt völkerrechtswidrig ein anderes Land. Dieses Land hat aus eigener Kraft nicht ausreichende Mittel, sich zur Wehr zu setzen. Der Westen befürchtet, hier könne wie einst unter der Sowjetunion der Versuch unternommen werden, Stück für Stück Europa unter Kontrolle einer Diktatur zu bekommen und beschließt, einzugreifen, so lange der geografische Puffer noch vorhanden ist.

Bitte kommen Sie mir nicht mit dem verlogenen Gesäusel, wir dürften uns nicht "in den Krieg hineinziehen lassen" und "selbst Kriegspartei werden". Wir sind Kriegspartei. Seit der ersten Waffenlieferung. Glauben Sie etwa, Russland hätte jemals das alberne Ringtauschkonstrukt ernstgenommen, bei dem Waffen aus Deutschland in einen Partnerstaat geliefert wurden, der dann seinerseits Waffen in die Ukraine liefert? Damit mögen Sie vielleicht Jurastudentinnen im Grundsemester beeindrucken, aber doch keine Supermacht, die gerade ein Land erobert.

Dabei bin ich nicht gegen die Waffenlieferungen per se. Mir fällt auch nichts Besseres ein. Mich stört das Hurrageschrei, mit dem das passiert und der Hass, der denjenigen entgegenschlägt, die auch nur zu überlegen versuchen, ob es nicht noch weitere Optionen gibt. Wenn das mal keine Wehrkraftzersetzung ist.

Der Versuch, sich mit einem Stapel Helme aus der Affäre zu wieseln, war in seiner Naivität schon fast putzig, und so rollten kurze Zeit später vollwertige Waffensysteme Richtung Ukraine - rein defensiv, versteht sich. Was genau unter "Defensivwaffen" zu verstehen ist und wie sichergestellt werden kann, dass bei all dem nicht auch ein itze-klitze-kleines Stück, sagen wir: "Vorwärtsverteidigung" im Spiel ist, wurde überraschend wenig gefragt. Wahrscheinlich wollte das auch niemand so genau wissen, insbesondere als die Ukraine es schaffte, Gebiete zurück zu erobern und die Ersten laut über die Krim nachzudenken begannen. Inzwischen kümmert sich niemand mehr um solche fein ziselierten Konstrukte. Die russische Armee marschiert wieder voran, und die Waffenlieferungen umfassen alles, was irgendwie schießt. So kategorisch, wie die Bundesregierung Kampfflugzeuge ausschließt, kann es sich nur noch um Tage handeln, bis auch sie auf dem Lieferzettel stehen.

Jeder einzelne Schritt erscheint sinnvoll, angemessen und durch die Umstände zwingend geboten. Was ich bei all dem vermisse, ist eine Perspektive, eine Strategie, ein über das Tagesgeschehen hinausgehender Plan. Im Moment ist das Vorgehen des Westens rein reaktiv. Irgendwas geschieht im Krieg, und als Antwort gibt es neue Waffen, jedes Mal mit der Bemerkung versehen, eine "rote Linie" nicht überschreiten zu wollen. Wo diese Linie verläuft, bleibt unklar. Möglicherweise verläuft sie beim Einsatz von Bodentruppen, doch auch hier schwindet der Widerstand. Die öffentliche Stimmung freundet sich langsam mit der Wiedereinführug des Kriegsdienstes an, und wenn wir erst einmal den "Staatsbürger in Uniform" etabliert haben, gibt es auch kein Argument mehr, warum wir bereit sind, unsere Freiheit am Hindukusch und nicht in den wesentlich näher gelegenen Karpaten zu verteidigen. Was unternehmen wir, wenn auch das fehlschlägt?

Die öffentliche Debatte zeichnet Russland und seinen lupenreinen Chefdemokraten mit der Differenziertheit eines Bond-Schurken. Das ist gut, um die Stimmung stabil zu halten, aber schlecht, um Geschehnisse zu verstehen und Folgen abzuschätzen. Fragen Sie irgendwen in Ihrem Bekanntenkreis nach Putins Beweggründen, und sie bekommen ungefähr das zu hören: "Naja, er ist ein Böser, und Böse marschieren nun mal woanders ein." Ein derart schlichtes Weltbild mag reichen, um sich durch hundert Minuten Popcornkino zu mümmeln, aber da draußen im realen Leben sind die Dinge komplizierter. Ich kann mich für die Beweggründe der russischen Regierung interessieren, ohne gleich mit ihr zu sympathisieren. Mehr noch: Nur wenn ich verstanden habe, was Putin antreibt, kann ich eine Idee bekommen, was ihn stoppt.

Ich habe vor einem Jahr falsch gelegen, als ich es für eine Frage weniger Wochen hielt, bis die Ukraine fällt, deswegen sind meine Prognosen mit Vorsicht zu genießen. Derzeit scheint es mir nicht so, als zeichne sich eine klare Über- oder Unterlegenheit einer Seite ab. Wahrscheinlich können wir das Spiel beliebig lange treiben, die Frontlinie mal in die eine, mal in die andere Richtung verschieben, ohne an der grundsätzlichen Lage viel zu ändern. Deswegen frage ich noch einmal: Wie weit wollen wir gehen? Für diejenigen, welche in der Grundschule beim Lesenlernen Probleme hatten: Ich sage nicht, dass die Ukraine aufgeben sollte. Ich sage nicht, dass Russland die besetzten Gebiete behalten darf und dann noch ein paar und dann noch welche. Ich sage nur, dass es immer mehr als eine Handlungsmöglichkeit gibt, und dass wir nicht einfach eine ohne Nachdenken kategorisch ausschließen sollten.

Natürlich drängt sich der Vergleich zur Appeasement-Politik der späten Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts auf, aber wir dürfen bei solchen Betrachtungen zwei Dinge nicht vergessen: Erstens ist rückblickend immer klar, was die klügste Entscheidung gewesen wäre - weil wir wissen, wie es ausging. Mitten in der Situation sind die Dinge aber weit weniger klar, und dass wenige Jahre nach dem Großen Krieg (an ein Durchnumerieren von Weltkriegen dachte damals noch niemand) alles versucht wurde, eine Wiederholung derartiger Schrecken zu vermeiden, finde ich verständlich. Außerdem war damals selbst Hitlers Gegnern nicht in vollem Umfang klar, welche Verbrechen stattfanden. Chaplin entwickelte die Geschichte zum "Großen Diktator" Ende der Dreißigerjahre, die Dreharbeiten starteten wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, in die Kinos kam der Film im Jahr 1940. Rückblickend sagte Chaplin später, hätte er damals schon gewusst, was in den Konzentrationslagern wirklich passiert, hätte er den "Großen Diktator" nicht drehen können. Damit wären wir beim zweiten Punkt, der Gleichsetzung Hitlers mit Putin.

Es ist eine hübsche rhetorische Figur, zu sagen, die Verbrechen des Dritten Reichs seien so jenseits all dessen gewesen, was Menschen zuvor anderen Menschen angetan haben, dass es sich hierbei um ein nicht wiederholbares, einmaliges Ereignis handelt. In dieser Haltung findet sich der teutonische Überlegenheitsgeist wieder. Dikatatur und Völkermord sind auf diesem Planeten immer noch Chefsache, da lassen wir uns nicht von Amateuren wie Idi Amin, Pol Pot, Mao Zedong oder Josef Stalin den Schneid abkaufen. Davon unabhängig finde ich finde es sinnvoll, die Singularität Hitlers zu postulieren, vor allem weil es die meist äußerst dümmlichen Nazivergleiche von vornherein als das disqualifiziert, was sie sind: aufgeblasener Quatsch, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dass zum Glück das Dritte Reich sich nicht wiederholt hat, sollte allerdings uns nicht in der Sicherheit wiegen, dass es prinzipiell nicht wiederholbar sein kann. Die genaue historische Konstellation mag singulär gewesen sein, aber mir fallen ohne großes Nachdenken mehrere Regimes ein, die zumindest in Teilaspekten nicht so viel besser waren. Ist Putin dann, was seine Skrupellosigkeit und seinen Willen zum totalen Krieg angeht, mit Hitler vergleichbar? In meinen Augen war Hitler noch um einiges fanatischer, während mir Putin berechnender vorzugehen scheint, aber wie ich schon schrieb, befinden wir uns mitten in der Situation und sehen in ein paar Jahren alles völlig anders.

Wie immer, wenn den Talkshowintellektuellen die Argumente ausgehen, bleibt als ultima ratio die Abgrenzungskeule. Wer sich gegen die Internetzensur, gegen den Überwachungsstaat und allgemein für einen Erhalt von Grundrechten einsetzt, bekommt früher oder später den Vorwurf zu hören, sich nicht klar genug von Terroristen, Kindervergewaltigern und organisierter Kriminalität abzusetzen. So werden gerade Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht - beide nicht gerade als Sympathieträgerinnen und Speerspitzen feinsinniger Diskussionskultur bekannt - dafür kritisiert in ihrem gemeinsam verfassten Manifest gegen den Ukraine-Krieg auch Unterstützung von AfD-Größen zuzulassen. Worum es sonst in dem Text geht, spielt in der öffentlichen Debatte keine Rolle, aber dass Nazis auf einmal für den Frieden sind, also das geht nun wirklich nicht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich halte nichts von der AfD. Ihre politischen Ziele, ihre Rechthaberei und ihre heuchlerische Selbstinszenierung widersprechen nahezu jedem Wert, den ich mir im Lauf meines Lebens angeeignet habe, aber genau deswegen lasse ich mir von denen nicht vorschreiben, was ich zu meinen habe. Kaufe ich mir einen SUV, sollte die AfD plötzlich gegen Verbrennungsmotoren sein? Zünde ich Wohnheime an, wenn die AfD sich für eine liberale Migrationspolitik ausspricht? Nein, denn ich lehne die AfD ab, weil sie nicht meine Werte teilt, aber ich lehne einen Wert nicht allein deswegen ab, weil die AfD ihn teilt. Wenn das Einzige, was mir gegen das Wagenknecht-Schwarzer-Manifest einfällt, der Umstand ist, dass neben der evangelischen Theologin Margot Käßmann, dem Sänger Reinhard Mey und dem SPD-Politiker Günter Verheugen auch AfD-Sprecher Tino Chrupalla dem Text zustimmt, kann der Inhalt so schlecht nicht sein. Haben die beiden Verfasserinnen demnach recht? Ich weiß es nicht.

"Aber irgendwas muss du doch meinen."

Muss ich das? Wo steht das? Was ist das für eine alberne germanische Grundtugend, zu allem und immer eine klare, felsenfeste Meinung haben zu müssen? Sachkunde zum und Komplexität des Themas spielen keine Rolle, aber eine Meinung muss her, unbedingt. Genau dieser Zwang, bei unklaren Fragen dual zu denken und voll auf eine Option einzusteigen, auch wenn sie nur graduell besser als die andere erscheint, führt zur schon fast trotzigen Forderung, im ukrainischen Kriegspoker bei immer höheren Einsätzen mitzuziehen und still zu beten, dass die Gegenseite das schlechtere Blatt hat. Das könnte der Grund sein, warum abweichende Meinungen gerade derartige Verachtung erfahren: die Angst vor dem Zweifel, vor der nagenden Frage, wie lange sich der Konflikt noch kontrollieren lässt und ob wir nicht vielleicht klein beigeben sollten, bevor Europa wieder einmal in Trümmern liegt. Doch wer pokert, darf keine Unsicherheit zeigen, nicht nachdenklich in die Karten schielen, nicht mit den Augenlidern flattern. Wer all in geht, darf nicht so wirken, als bluffe er.

Kritisch wird es, wenn wir wissen, dass die Gegenseite mindestens vier Asse auf der Hand hat.

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