Donnerstag, 1. November 2018

Die Lotsin geht von Bord

Eigentlich war allen klar, dass dieser Tag bald kommen müsste - der Tag, an dem Angela Merkel den kotrollierten Abschied von der Macht einleitet. Wahrscheinlich hatte sie sich das Ganze anders vorgestellt - ruhiger, in weniger stürmischen Zeiten. Dafür stimmten jedoch schon die Startvoraussetzungen nicht: eine schwer angeschlagen überstandene Bundestagswahl, eine geplatzte Koalitionsverhandlung mit Grünen und FDP, die auf einmal kalte Füße bekam und sich endgültig in die Ecke der Politkasper verabschiedete und schließlich das Zusammenrotten mit dem alten und neuen Koalitionspartner SPD, die bei dieser Gelegenheit eine Selbstdemontagenummer hinlegte, deren Drehbuch selbst bei einer RTL-Vorabendserie durchgefallen wäre. Der einzige Grund, warum die Koalition überhaupt zustande kam, war die Angst vor Neuwahlen und der AfD, die in diesem Fall wahrscheinlich 20 Prozent geholt und damit das Land an den Rand der Nicht-Regierbarkeit gebracht hätte. In einer Zeit, in der allen klar war, dass es neue Ideen und frische Impulse brauchte, war die einzige Antwort, die dem Parlament einfiel, die Fortsetzung einer Koalition, die vor allem phantasie- und lustloses Sich-Durchwurschteln verkörperte, bei der Wahl abgestraft wurde und das Attribut "groß" schon lange nicht mehr verdiente. Bereits beim Wieder-Zustandekommen der ehemals großen Koalition war klar: Das ist eine Notlösung, die einschließlich der Koalitionspartner niemand so richtig gewollt hatte. Es war auch klar, dass es eine weitere Bundestagswahl mit Merkel als Spitzenkandidatin nicht mehr geben wird, dass irgendwann im Verlauf der Legislaturperiode die Übergabe stattfinden wird. Die Frage war nur: wann und an wen?

Der jetzige Zeitpunkt ist denkbar schlecht gewählt: Bei zwei Landtagswahlen in Folge wurden beide Koalitionspartner dezimiert, und der einzige Grund, warum die CDU überhaupt noch, wenn auch taumelnd, steht, liegt darin, dass die SPD in einem Maß pulverisiert wurde, dass es nicht einmal mehr Spaß bringt, darüber Witze zu reißen. Die Partei hat schlicht ihre Satisfaktionsfähigkeit verloren. Noch denkt niemand ernsthaft daran, aber wenn der SPD nicht bald etwas einfällt, ist der nächste Gegner keine Partei, sondern die Fünf-Prozent-Hürde.

Als bei der vorletzten Wahl die damals noch große Koalition zustande kam, sahen viele besorgt auf die erdrückende Macht, die sie im Bundestag innehatte. Die Regierung konnte jederzeit die Verfassung ändern, saß nahezu allen Ausschüssen vor, und bei der Redezeit blieb für die kleineren Fraktionen kaum noch die Zeit, das Mikrofon auf die richtige Höhe zu justieren. Den aktuellen Umfragen zufolge wäre Schwarz-Rot auf Bundesebene nicht einmal mehr in der Lage, überhaupt eine Regierung zu bilden.

Angesichts solcher Zahlen hätte Merkel eigentlich schon viel früher den Abschied ankündigen müssen, aber dafür war schlicht keine Zeit. Kaum war die Regierung nach monatelangen Verhandlungen endlich zustandegekommen, schaltete die CSU in den Landtagswahlmodus und dominierte über Monate die Schlagzeilen. Der neue Ministerpräsident, dessen Geisteszustand mit "schlicht" noch sehr wohlwollend beschrieben ist, verstieg sich in einer Kapriole nach der nächsten, und weil sein nach Berlin ins Innenministerium abgeschobener Erzfeind im bajuwarischen Gemächtevergleich nicht nachstehen wollte, überboten sich die beiden in immer wilderen Ideen, ob man Kreuze an der Landesgrenze aufhängen und wie viele Flüchlinge in Amtsstuben hineinlassen sollte. In dieser Zeit hatte Merkel alle Mühe, ihren zunehmend abdrehenden Minister im Zaum zu halten, dessen Kapriolen nicht nur Richtung Bayern, sodern auch auf die Kanzlerin zielten. Hier Schwäche zu zeigen, hätte das sofortige Ende der Regierung bedeutet.

Es war also eine gute Idee, erst die Landtagswahlen in Bayern und Hessen durchzustehen und nach dem erwartet desaströsen Ergebnis zu sagen: OK, wir haben verstanden. Wir leiten den Wechsel an der Spitze ein. Die Frage ist nur: an wen?

Im Moment kursieren vor allem drei Namen: Kramp-Karrenbauer, Spahn und - wer bitte? - Merz.

Merz? Der mit der Steuererklärung auf dem Bierdeckel? Der mit den Cum-Ex-Gechäften, der sich in Dutzenden Aufsichtsräten eine goldene neoliberale Nase verdient - naja, was heißt verdient? - angeschafft hat? Der Zweiundsechzigjährige, vor 16 Jahren von Merkel ausgebootet und vor 9 Jahren in den politischen Ruhestand gegangen, dieser Mann soll bitte was verkörpern? Neue Ideen? Schamlose Raffkementalität passt da wohl besser. Gegen Merz wirkt selbst der Minister für Reichengesundheit schon fast empathisch.

Bleibt eigentlich nur noch Kramp-Karrenbauer, aber sie trägt den Makel, die alte Linie fortsetzen zu wollen, und das will in der CDU niemand. Bei den Wahlen zieht das offenbar auch nicht so recht.

Ich will nicht unken, aber viele von uns werden sich Merkel noch zurückwünschen, wenn die CDU den sich andeutenden Rechtsschwenk vollzieht. Die Kanzlerin hatte das Kunststück vollbracht, die CDU weit in Richtung Sozialdemokratie zu bewegen und viele Ideen der SPD als eigene Errungenschaften zu präsentieren. Während Kohl einfach entschied und aussaß, verfügte Merkel über das Gespür, abzuwarten, bis sich in der allgemeinen Meinung ein Trend abzeichnete und ihn aufzugreifen. Viele kreideten ihr das als Zögerlichkeit an, dabei war es nur ein einfühlsamerer Stil als die Basta-Mentalität ihrer Amtsvorgänger. Ich behaupte, da merkte man die promovierte Naturwissenschaftlerin: gucken, analysieren, entscheiden. Nicht versuchen, der Welt den eigenen Willen aufzuzwingen, sondern die bestehenden Mechanismen für sich wirken zu lassen.

Als Merkel erstmals Kanzlerin wurde, sah ich zwei Möglichkeiten: Entweder wird sie zerrieben zwischen den ganzen machtgierigen Obermackern in der eigenen Partei, der CSU, dem Koalitionspartner FDP und der Opposition, oder sie schreibt Geschichte. Ehrlich gesagt gab ich ihr zwei Jahre, bis die Anderen die Kanzlerin ausgelaugt und sich selbst in Stellung gebracht haben. Tatsächlich kam es anders.

Ich bin alles Andere als ein Merkel-Fan, aber nach dem bräsigen, aus Ehrfurcht vor der eigenen historischen Größe erbebenden Kohl und Ich-will-hier-rein-Schröder empfand ich ihren schon fast apathischen Regierungsstil geradezu als Wohltat. Wie schon gesagt: Da wird sich was ändern.

Und die SPD? Noch vor zwei Jahren hätte ich mir das Maul zerrissen, hätte über Ätschi-bätschi-Pippi-Langstrumpf-Nahles gelästert und mich darüber ereifert, dass ihr selbst nach einem einstelligen Wahlergebnis in Bayern nicht mehr einfällt als das übliche Gestammel von: "Wir haben verstanden", "keine Zeit für vorschnelle Entscheidungen" und: "wir werden uns neu orientieren und ganz entschieden in die Richtung weiterrennen, in die wir all die Jahre vorher schon erfolglos gerannt sind". Aber ehrlich: Welchen Tipp will man dieser Partei heute noch geben außer: "zum Abschluss einmal durchkehren und bitte dran denken, das Licht auszuschalten"? Unter Schulz hätte es eine Chance gegeben, sich wieder als soziale Partei zu präsentieren und beispielsweise zuzugeben, dass Hartz IV von jeder Partei hätte kommen können, nur nicht von der SPD. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Die SPD könnte sich jetzt hinstellen und jeder Arbeitslosen einen Sack Diamanten versprechen - es glaubt ihr einfach keiner mehr. Eine Partei, die in Bayern auf Platz 5, in Hessen auf Platz 3 und den aktuellen Umfragen zufolge im Bund auf Platz 4 steht, kann nicht erzählen, was sie täte, wenn sie die Regierung übernähme. Sie kann allenfalls andeuten, was sie vorschlüge, wenn sie denn jemand fragte.

Als wenn das allein schon nicht genug wäre, hängt über allem das Damoklesschwert AfD, die sich deutlich im zweistelligen Bereich bewegt, vielerorts die Zwanzig-Prozent-Marke als nächstes Ziel sieht und in Bayern sowie den letzten Umfragen nach auch im Bund deutlich vor der SPD liegt. Das ist ein weiterer Grund, warum Witzereißen gerade nicht funktioniert. Es gibt kein Drumherumreden: Die "große" Koalition hat den Nährboden für die AfD geschaffen, und egal, welche Strategie man wählt, es scheint kein Kraut gegen sie gewachsen. Mit ihr reden, hieße ihre Thesen ernst nehmen, sie auszugrenzen gibt ihr die Möglichkeit, sich noch effektvoller als Opposition zu inszenieren. Die einzige Chance könnte sein, sie sich selbst demontieren zu lassen. Das aber ginge nur in Regierungsverantwortung, und dieses Risiko wäre mir deutlich zu hoch. Wir haben gesehen, wie in der Türkei, in Polen und den USA scheinbar stabile Demokratien in Diktaturen verwandelt werden. Wir sehen an der eigenen Geschichte, dass keine Verfassung so stark ist, dass man sie nicht schrittweise aushöhlen kann. Die AfD in einer Regierungskoalition wäre kein Spiel mit dem Feuer. Es wäre ein Spiel mit Thermit. In einem heliumgefüllten Zeppelin. Mit einem Atomsprengkopf an Bord. Über den Dächern Moskaus schwebend.

Merkel hat ihren Abgang klug gewählt, ist auch der Zeitpunkt alles Andere als optimal. Ihre Nachfolger werden eine Neuorientierung versuchen, und ich fürchte, das heißt: Rechtsorientierung, in der Hoffnung, auf diese Weise verlorene Stimmen zurückzugewinnen. Die SPD spielt derzeit keine Rolle, falls sie jemals wieder eine spielen wird. An ihre Stelle sind - für mich überraschend - die Grünen getreten, eine Partei, die sich von einem Haufen wirrer Ökopaxe in eine sauber durchgestylte Marke verwandelt hat, die Frieden zwar OK findet, aber durchaus auch mal einen Krieg mitbeschließt, die Ökologie fördert, aber die ganz harte Konfrontation mit der Industrie scheut und die innenpolitisch auch schon gern mal den starken Staat schätzt. Kurz: Im Prinzip ist für alle was da. Es gibt keine Überzeugung, welche die Grünen nicht notfalls aufzuweichen bereit wären. Von der einstigen Prinzipienstärke ist nicht mehr viel übrig, aber seien wir ähnlich: So funktioniert Regieren nun einmal.

Wohin die Reise geht? Schwer zu sagen, im Moment ist alles möglich. Die drei großen politischen Kräfte sind im Moment CDU, Grüne und AfD, und fragen Sie mich bitte nicht, was dabei am Ende herauskommen soll.

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