Donnerstag, 4. Juni 2015

Das Volk braucht seinen Fußabtreter

Wir hassen die GdL nicht dafür, dass sie streikt, sondern dafür, dass sie es kann

Ich stehe am Bahnhof meiner Provinzhauptstadt, es ist noch nicht einmal Mitternacht, aber dank des nicht vorhandenen Services der Bahn habe ich jetzt eineinhalb Stunden vor mir, bis der nächste Zug mich weiter Richtung Heimat bringt. Nicht einmal den Fahrpreis kann ich mir erstatten lassen, weil er unter die Bagatellgrenze fällt. Ich fahre eigentlich sehr gern mit der Bahn, aber in solchen Momenten platze ich vor Wut. Mich eineinhalb Stunden hängen lassen, dafür Geld verlangen und zur Krönung des Ganzen auch noch streiken, damit dieser Drecksladen künftig noch weniger Leistung für noch mehr Geld anbietet - Leute, ihr habt den Anus so weit offen, dass ein ICE da quer ohne anzustoßen reinpasst.

So, und jetzt kommen wir mal wieder runter und sehen die Sache nüchterner. Die GdL wird derzeit landesweit als die Verkörperung des Hals-nicht-voll-Bekommens verkauft - kein Wunder: Über die Bahn schimpft sowieso jeder, und wenn sich nicht nur verspätet, sondern gleich ganz weg bleibt, bestätigt das nicht nur die Vorurteile, man hat darüber hinaus auch keine Möglichkeit zur Gegenwehr. Ein paar tausend Leute streiken, und ein ganzes Land steht Kopf.

Es gibt nur wenige Berufsgruppen, die so etwas überhaupt noch können. Nehmen wir die Mitarbeiterinnen der Kindertagesstätten, von deren Arbeit wörtlich die Zukunft dieses Landes abhängt. Natürlich beeinflusst deren Streik massiv das Leben der Eltern, deren Kinder betreut werden sollen, aber jetzt schauen wir mal in die Zeitung: Das sind nicht mehr so viele. So wichtig ihre Arbeit sein mag - sie betrifft eine ständig kleiner werdende Gruppe.

Noch entscheidender ist die Arbeit des Klinikpersonals. Wenn diese Leute streiken, sterben Menschen. Das ist auch genau der Grund, warum Streiks auf diesem Gebiet so harmlos sind und sich bisweilen über Monate hinziehen. Keine Krankenschwester ließe es zu, dass für ihre materiellen Forderungen jemand körperlichen Schaden nähme. Entsprechend wird bei Klinikstreiks immer eine Notversorgung aufrecht erhalten, und da die sich nicht großartig von der normalen Versorgung unterscheidet, der Grund übrigens, warum gestreikt wird, ändert sich nichts.

Wenn, wie abzusehen, die Briefträger streiken, dann bleiben die Briefe eben ein paar Tage liegen. Alles Dringende klärt man zur Not am Telefon, per E-Mail oder ganz klassisch per Fax. Die Zeiten, in denen der Briefverkehr eine entscheidende Infrastrukturkomponente darstellte, sind vielleicht noch nicht ganz vorbei, neigen sich aber sehr deutlich dem Ende zu.

Infrastruktur, damit wäre das Stichwort gefallen. Man mag ja vom Staatsdienst halten was man will, aber eine entscheidende Eigenschaft hat er: Er darf nicht streiken. Somit bleiben bestimmte Grundfunktionen immer erhalten. Polizei und Militär werden arbeiten, Strom und Wasser - halt, das stimmt nicht mehr. Zur Aufhübschung der Haushaltsbilanzen privatisiert die öffentliche Hand zunehmend Dienstleistungen, die einst ihre zentrale Aufgabe darstellten. Post und Telekom arbeiten seit Jahrzehnten privatwirtschaftlich. Nun kann man beim besten Willen nicht behaupten, dass die Deutsche Bundespost zu den High-Performern gehörte, aber dafür gab es an jeder Straßenecke einen Briefkasten, alle paar hundert Meter eine Postfiliale, und wenn man irgendwo im Nichts ein Grundstück mit einer postalischen Adresse hatte, konnte man sich für einen Spottpreis dorthin ein Telefonkabel legen lassen. Versuchen Sie das Gleiche heute und weinen Sie beim Kostenvoranschlag der Tiefbaufirma.

Staatsunternehmen boten mitunter lausigen Service, aber sie boten ihn wenigstens. So etwas wie einen Bahnstreik hätte es zur Zeit der Deutschen Bundesbahn nicht geben können, und genau hier liegt die Macht der Lokführer: Ihre Dienstleistung ist so zentral, dass sie mit ein paar Leuten eine der führenden Industrienationen entscheidend lähmen können, aber sie ist nicht so zentral, dass ohne sie jemand stirbt. Ein Streik schmerzt, bricht aber niemandem das Genick. Ich behaupte, das ist der Grund, warum wir so entnervt reagieren: Das wollen wir auch können.

"Alle Räder stehen still / wenn dein starker Arm es will" heißt es im "Bundeslied", und zur Zeit der ersten industriellen Revolution stimmte das sogar noch. Heute sind Betriebsabläufe so weit automatisiert, dass kaum noch eine Berufsgruppe mit einem Streik ernsthaft Aufsehen erregen kann, und selbst dieses Mittel soll immer mehr entschärft werden. Federführend ist hier ausgerechnet die SPD.

Die SPD, wir erinnern uns, hervorgegangen aus dem allgemeinen deutschen Arbeiterverein, tief verwurzelt in der Arbeiterbewegung, seit jeher gewerkschaftsnah, ausgerechnet diese Partei bringt ein Gesetz zur Tarifeinheit auf den Weg. Das klingt zunächst einmal harmlos. Alle sollen den gleichen Lohn bekommen, egal, welcher Gewerkschaft sie angehören. Das ist doch etwas Schönes. Wie man's nimmt. Umgekehrt heißt das nämlich auch, dass große Gewerkschaften mit ihren Tarifabschlüssen die kleineren Gewerkschaften übersteuern, was faktisch einem Verbot von Kleingewerkschaften wie der GdL gleichkommt. Nun muß man die GdL nicht unbedingt mögen, um dennoch einzugestehen, dass die sich wenigstens in den letzten Jahren für ihre Mitglieder mächtig ins Zeug gelegt hat. Wissen Sie, wie die deutlich größere Eisenbahnergewerkschaft des DGB heißt? Na? Könnte das vielleicht daran liegen, dass die EVG mit der Unternehmensführung eher auf Kuschelkurs ist?

Genau da scheint mir nämlich der Kern zu liegen: Die SPD war eigentlich nie gewerkschaftsnah, sondern DGB-nah. Der DGB wiederum, ein etwas in die Jahre gekommener Moloch aus Großgewerkschaften wie der IG Metall (knapp 2,3 Millionen Mitglieder) oder ver.di (2 Millionen Mitglieder) schwingt zwar jedes Jahr brav am 1. Mai kämpferische Reden, aber in den Tarifverhandlungen gibt man sich eher handzahm. In Krisenzeiten war es zwar tatsächlich eine gute Taktik, mit Rücksicht auf Arbeitsplatzssicherung Nullrunden zu akzeptieren, aber jetzt, da es der Wirtschaft wieder deutlich besser geht, weiterhin Abschlüsse unterhalb des Inflationsausgleichs auszuhandeln, deutet nicht gerade darauf hin, dass man es mit der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen besonders ernst nimmt.

In diese traute Kungelei mit der Betriebsführung passen Krawallbrüder wie die von der GdL natürlich nicht hinein, weswegen SPD-Mitglied Sigmar Gabriel auch munter auf sie eindreschen darf, ohne dafür von seiner Partei zusammengestaucht zu werden. Warten Sie mal den nächsten Streik einer DGB-Gewerkschaft ab - so er denn jemals stattfinden sollte. Ich wette, da wird sich der Herr Wirtschaftsminister deutlich zurückhaltender äußern.

Nein, der Lokführerstreik ist kein Spaß, und seine Auswirkungen treffen vor allem diejenigen, die sich kein eigenes Auto leisten können, tendenziell also eher die niedrigen Einkommensgruppen. Mir wäre es lieb, wenn andere Leute, die in diesem Land echte Drecksarbeit leisten und dafür mit einem Hungerlohn abgespeist werden, ähnlich wirkungsvoll auf den Putz hauen könnten, aber dass sie es nicht können, ist nicht die Schuld der Lokführer. Statt sich also darüber zu mokieren, dass es Menschen gibt, die ihr Grundrecht auf Streik wahrnehmen, sollten wir lieber froh sein, dass es Menschen gibt, die das überhaupt noch können.

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