Gestern hatte mich ein Freund noch gewarnt: "Pass auf, wenn viele Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, schafft die CDU die parlamentarische absolute Mehrheit." Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Eintrag schreibe, ist diese absolute Mehrheit wahr geworden. Erstmals seit 1957.
Eigentlich hätten wir es wissen können. Wie sahen denn die Optionen aus? Abgesehen davon, dass der Opposition außer Witzen über die Handhaltung der Kanzlerin und der Bezeichnung "Mutti" schon fast bemitleidenswert wenig einfiel, braucht sich niemand zu wundern, warum sich die CDU in einem historisch dämlichen Wahlkampf durchsetzen konnte: Die SPD hatte ihrer Vorliebe für dicke, alte Macker nachgegeben und ein Politfossil ins Rennen geschickt, das vor allem durch trampelhaftes Benehmen bestach. Inhaltlich hob sich diese Partei nur durch diffuse Ankündigungen ab, dass mit ihr alles irgendwie gerechter werde. Offen blieb freilich die Frage, wie eine Partei, welche die zentralen Figuren der großen Koalition ins Rennen schickt, auf einmal ihr Herz für Menschenrechte und Sozialstaat erkannt haben soll. Unter diesen Umständen sind die drei hinzugewonnenen Prozentpunkte sogar noch ein echter Erfolg. Ehrlicherweise müsste die SPD sogar für das Ergebnis dankbar sein. Weder schwarz-rot, noch rot-rot-grün hätte sie überlebt.
Die FDP hatte außer der Bundesjustizministerin keinen Aktivposten zu bieten. Selbst die naseweisesten Sprüche ihres Vorsitzenden konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Partei seit Jahren ihren einzigen Existenzgrund darin sah, ins Parlament zu kommen, um dort - was noch einmal zu machen? Das wusste niemand so recht.
Den Grünen muss man wenigstens die ehrliche Ankündigung zugestehen, dass es mit ihnen in der Regierung teuer wird. Enorm explodierende Energiekosten als Gegenkonzept zu wahnsinnig explodierenden Energiekosten waren aber offenbar selbst eingefleischten Grünwählern nicht überzeugend zu vermitteln.
Die Linke war die einzige Partei, die während des Wahlkampfs wenigstens andeutungsweise Inhalte auf ihre Plakate druckte. Es blieb freilich die Frage, wie diese edlen Ziele umgesetzt werden sollen. Bei mir blieb vor allem der Eindruck einer brav Parolen abspulenden, insgesamt aber eher ratlosen Partei.
Die AfD scheitert aus dem Stand heraus knapp am Einzug in den Bundestag. Diese Zahl ist interessant, zeigt sie doch, dass eine reine Protestpartei realistische Erfolgschancen hat. Wesentlich mehr als D-Mark-Romantik und die schon fast niedliche Illusion, sich im Zeitalter der Globalisierung wirtschaftlich vom Rest der Welt entkoppeln zu können, hatte die Partei nicht zu bieten. Wie immer, wenn man einen unliebsamen Gegner loswerden will, wurde versucht, die AfD als Nazis abzustempeln, aber die Masche verfängt natürlich nur bei Leuten, die aus was gegen Nazis haben. Außerdem musste man sich nur die Krawallbrüder von den Republikanern und der NPD ansehen, um zu wissen, dass die AfD anders daher kommt. Eleganter. Mit Haupt- und Nebensätzen. Da muss man schon etwas mehr in peto haben als Antifaparolen aus der Mottenkiste. Möglicherweise besiegelt das knappe Scheitern auch das Ende dieser Partei, aber das ist meiner Meinung nach noch nicht gesagt. Ich schreibe sie vorest noch nicht ab.
Kommen wir zu den Piraten. Groß waren die Hoffnungen der vergangenen Jahre, dass Netzpolitik endlich allgemein gesellschaftliche Relevanz erlangt haben könnte, dass wir endlich den Weg aus den Hackerspaces in die analoge Welt geschafft hätten. In gewisser Hinsicht ist es auch gelungen - technisch gesehen. Selbst die konservativsten Knochen haben inzwischen I-Pads und Smartphones, um darauf ihr Social-Media-Profil zu pflegen. Leider haben sie dabei nicht die Vorstellungen übernommen, die wir mit dieser Technik verbinden. Für sie ist das Netz weiterhin wie eine Mischung aus Telefon, Fernsehen und Zeitung, und entsprechend wollen sie darin Sendezeiten, Inhaltskontrolle und das Verbot, voneinander abzuschreiben. Das Netz als Teil der Persönlichkeit, als Lebensraum gibt es für sie nicht. Wenn sie twittern, sind es Sätze wie "Auf dem Weg zur Fraktionsgeschäftssitzung. Debatte über Drucksache 24/11-13 wird interessant" oder anderer inhaltsleerer Blödsinn, den ihre PR-Zombies als total Web 2.0 ansehen. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als könnten die Piraten in diese Welt einbrechen, aber sie sind gescheitert. Gründe gibt es mehrere:
Der Mythos der "Ein-Themen-Partei": Groß war das Gejammer. Wie kann eine Partei nur so lau mit nur einem Thema, nämlich der Netzpolitik daher kommen? Schon vor vier Jahren habe ich geschrieben: Na und? Die FDP konnte über Jahre hinweg nur das Wort "Steuersenkung" stammeln und kam damit durch. Die AfD hat außer "D-Mark" praktisch nichts zu bieten und schafft es fast in den Bundestag. Doch wie reagieren die Piraten? Statt die Nerven zu behalten und sich auf das eine Thema, das sie wirklich können, zu konzentrieren, wenden sie viel Zeit und Energie auf ein "Vollprogramm" auf - ein wild zusammengestoppeltes Konglomerat irgendwelcher mehr oder weniger ausgegorener Positionen, unlesbar und uninteressant, aber ein gefundenes Fressen für alle, die sich über die Piraten immer schon einmal totlachen wollten.
Transparenz: Größte Stärke und gleichzeitig größte Schwäche der Piraten war es immer, alles öffentlich zu leben. Alle sollten sehen, wie die Partei Beschlüsse fasst. Das Ganze hat nur zwei Nachteile. Der eine ist nicht weiter schlimm: Es interessiert niemanden. Der viel entscheidendere Nachteil: Während sich die Piraten öffentlich wie die Kesselflicker stritten, erweckten alle anderen Parteien ein vergleichsweise geschlossenes Bild. Intern sah es bei ihnen auch nicht besser aus, aber sie hielten ihre Streitigkeiten wie die ganzen Jahre zuvor streng unter Verschluss.
In der Summe führte es dazu, dass sich nicht nur zu jedem im Vollprogramm vertretenen Nischenthema irgendwo in der Partei jemand fand, der dazu etwas sagen konnte, sondern dass die offene Informationspolitik dazu führte, dass er es auch tatsächlich sagte. Selten war das von Vorteil. Die Medien liebten eine Zeit lang diesen unerschöpflichen Interviewpool, und die Öffentlichkeits- und Karrieresüchtigen, die in den zwischenzeitlich zweistelligen Wahlergebnissen großartige Aussichten für eine politische Laufbahn sahen, ließen keine Chance aus, ihr dummes Gewäsch in jedes Mikrofon zu erbrechen, das die Journalistinnen nicht rechtzeitig wegzogen. Eines aber übersahen sie: Öffentlichkeit heißt nicht, zwangsläufig von allen geliebt zu werden. Es kann auch heißen, dass man Kritik einstecken muss, und darin waren die Piraten leider nie besonders gut. Tauchte irgendwo ein Artikel auf, der es auch nur wagte, neben den Lobeshymnen ganz vorsichtig auf die eine oder andere Schwäche hinzuweisen, dann konnte das noch so konstruktiv und freundlich geschrieben sein - die Kommentare ereiferten sich, als hätte der Autor mit einer Kettensäge eine komplette Grundschule niedergemetzelt. Kritik wurde nicht als Chance, sondern als Häresie betrachtet, und entsprechend versiegte die Diskussionskultur in und um die Piraten schnell in hysterischem Gekreische. Hoffentlich hört mich jemand und schreibt einen Artikel über mich.
Hinzu kamen einige ungeschickte Aktionen von Parteimitgliedern, welche die Grenze zwischen ihrer allgemein netzpolizischen und der Parteiarbeit nicht sauber gezogen bekamen. Oft handelten sie mit den besten Absichten, aber in der Netzbewegung kam es so an, als versuche die Partei, sie zu vereinnahmen. Besonders beispielhaft zeigte sich das am "Fahnenstreit", äußerlich gesehen einer Lappalie, die sich über Jahre hinzog und um die Frage drehte, ob und wie viele Parteifahnen auf Demonstrationen angemessen sind. Für die Piraten ging es darum "Präsenz zu zeigen", für die Netzbewegung darum, dass ihre Demonstrationen als parteiunabhängige Veranstaltung wahrgenommen werden. "Was können wir denn dafür, dass wir nun einmal den größten Teil eurer Bewegung stellen?" fragten die Piraten. "Ihr seid gar nicht so viele", entgegnete die Netzbewegung. "Ihr seid nur diejenigen, die mit den meisten Fahnen aufkreuzen. Der Rest von uns trägt diese Fetzen nicht und wird trotzdem mit zu euch gezählt." - "Ist denn das schlimm?" fragten die Piraten. "Ja", sagte die Netzbewegung. "und zwar dann, wenn wir nicht mehr als unabhängige Institution, sondern nur noch als euer Anhängel wahrgenommen werden. Damit vergrault ihr die Leute, die anderen Parteien angehören." - "Aber wir sind doch euer parlamentarischer Arm."
Nein, das seid ihr nicht, zumindest nicht unbedingt. Wir freuen uns, wenn ihr unsere Interessen vertretet, aber wenn SPD, Grüne, FDP, Linke, ja vielleicht auch die CDU auf unsere Anliegen reagieren, freut uns das genau so. Streng genommen ist uns egal, wer im Parlament netzpolitische Positionen stärkt, so lange es überhaupt geschieht.
Ich bin gespannt, zu sehen, was jetzt passiert. Wie viele derjenigen, die von einer glänzenden Politkarriere, Fernsehauftritten und Titelgeschichten in den Zeitungen träumten, werden jetzt noch den Piraten die Treue halten? Wie viele Fahnenschwenkerinnen haben noch Spaß an ihrer Politclownerie, jetzt, da sie wissen, dass ihnen niemand zuschaut? Wie viele Empörungskünstlerinnen mit Adrenalinüberschuss werden sich jetzt noch in Forenkommentaren heilige Kriege liefern, wenn sie der Illusion beraubt wurden, alle Welt bewundere sie dafür? Oder kürzer: Wer bleibt den Piraten erhalten - die ehrlichen Aktivistinnen oder die Schwachköpfe? Werden die Piraten wieder zu Avant Garde oder verkommen sie zum Debattierclub für Nabelschaufetischistinnen?
Wichtigste Lehre: Unsere Filterblase ist nicht repräsentativ. Nicht einmal ansatzweise. Ähnlich wie die SPD-Anhängerinnen über Monate hinweg Rechenkunststücke weit abseits der mathematischen Logik veranstalteten und bei Auftritten Steinbrücks vom "nächsten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland" schwadronierten, kramten Piraten und mit ihnen Teile der Netzbewegung irgendwelche halbgaren Umfragen heraus und verkündeten, sie hätten bei 12-jährigen Schreinerstöchtern im östlichen Schwarzwald vormittags zwischen 9 und 11 Uhr einen Stimmanteil von 17 Prozent, der Einzug in den Bundestag sei mithin in greifbare Nähe gerückt. Verstärkt wurde dieser Irrglaube durch die umfangreiche Berichterstattung zum NSA-Skandal, die zwar erfreulicherweise zeigte, dass viele Journalistinnen die Tragweite der Enthüllungen genau verstanden hatten, in der Öffentlichkeit aber praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde.
Spätestens nach dieser Wahl werden wir uns von der Illusion einer starken und für die große Politik relevanten Netzbewegung verabschieden müssen. Für den Traditionsrundmarsch "Freiheit statt Angst" in Berlin mögen zusammengelogene 20.000 Teilnehmerinnen vielleicht noch ein hübsches Bild abgeben, aber wenn die einzige objektiv messbare Meinungsumfrage namens Wahl uns schmerzhaft mit der Realität abgleicht, ist es vielleicht an der Zeit, das Träumen zu beenden und sich der Wahrheit zu widmen. Es ist auch Unsinn, darauf warten zu wollen, bis die junge Generation, bei der unsere Themen wenigstens noch etwas Relevanz haben, ins Wahlalter kommt. Leute, schaut euch die Altersstatistiken an. Dieses Land vergreist. Wir werden auf absehbare Zeit von alten Säcken regiert, für die das Internet bis zu ihrem Tod eine Sammlung von Röhren bleiben wird. Die paar nachwachsenden Teenager werden niemals ein Gegengewicht bilden können.
Eine ganz wichtige Lektion werden einige von uns noch lernen müssen. Die Wahlbeteiligung lag über 70 Prozent und ist im Vergleich zur letzten Wahl sogar leicht gestiegen. So etwas nennt sich demokratisch legitimiert. Wir können uns darüber unterhalten, ob die Bundesrepublik im Vergleich zu Weimar so weit stabilisiert ist, dass man die Fünf-Prozent-Hürde abschaffen kann, aber das hieße eben auch, dass neben den Piraten auch FDP und AfD im Bundestag sind. Das will dann auch wieder niemand. Demokratie heißt nicht, dass alles nach meiner Pfeife tanzt.
Der letzte Satz mag manche überraschen. Lest ihn zur Not ruhig noch einmal. Wenn mir irgendetwas nicht passt, dann ist das nicht automatisch sex-, fem-, rass-, fasch- oder sonstwieistische "Kackscheiße", sondern vielleicht ausnahmsweise mal berechtigt. Wenn die Regierung ein Gesetz beschließt, das mir nicht passt, ist es vielleicht ungerecht, nachteilhaft für mich oder einfach nur unsinnig, aber nicht automatisch verfassungswidrig. Die Feststellung, was in diesem Land verfassungswidrig ist und was nicht, treffen nicht du oder ich, sondern ein eigens dafür geschaffenes Gericht, das aus gutem Grund vom politischen Tagesgeschäft angekoppelt ist. Nur weil ich in der Minderheit bin, werde ich nicht automatisch unterdrückt, ausgegrenzt oder diskriminiert und muss deswegen unbedingt geschützt werden, sondern manchmal muss ich auch einfach einsehen, dass die Anderen in der Mehrheit sind.
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