Die Mängelliste im Vorfeld war lang: Der Congress werde nicht mehr so sein wie früher, damals in den goldenen Zeiten, als man im wundervollen Berlin entweder Glück bei der Ticketlotterie oder gute Beziehungen zu den richtigen CCC-Mitgliedern hatte, die es irgendwie deichseln konnten, dass man an Eintrittskarten gelangen konnte, obwohl sie offiziell längst ausverkauft waren. Es könne ja wohl nicht angehen, dass jeder Hinz und Kunz jetzt zum Congress kommen könnte, da sänke dessen Niveau. A propos Niveau, das sei ja ohnehin nicht mehr vorhanden, weil kein einziger hochkarätiger, will sagen: technischer Vortrag im Programm zu finden sei. Ich habe mir angewöhnt, auf solche Bemerkungen hin zu fragen, zu welchem Thema die eigene Einreichung gewesen war. Der Gesichtsausdruck meines Gegenübers pflegte daraufhin ausnahmslos die gleiche Leere zu zeigen: "Was meinst Du mit Einreichung?"
Naja, ich gehe davon aus, dass du, dem ich ohne Weiteres zutraue, auf dem Congress einen guten technischen Vortrag zu halten, deinen Beitrag zur Wahrung des Niveaus geleistet und selbst etwas eingereicht hast.
"Ja, nee, ich meine, also, äh, wieso sollte ich was einreichen?"
Weil ich hinter jeder Tastatur zehn Blödmänner finde, die sich das Maul darüber zerreißen, wie doof der Congress ist, aber keiner von denen aufsteht und dazu beiträgt, es zu verbessern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Du auch einer dieser Deppen bist.
Die darauf folgende Rechtfertigungslitanei höre ich nur noch zum Teil, weil ich meine Zeit gern sinnvoller verbringe und mich bereits anderen Dingen zugewandt habe.
Um es auf den Punkt zu bringen: Der Umzug nach Hamburg war in meinen Augen das Beste, was dem Congress passieren konnte. Ja stimmt, es ist nicht das hippe, coole Berlin, das ja so viel besser als alles Andere in der Republik ist, aber offen gesagt habe ich in den letzten Jahren in Berlin praktisch nichts von der Stadt mitbekommen. Der Congress hätte auf Norderney stattfinden können, und ich hätte nur bei der An- und Abreise einen Unterschied bemerkt. Das CCH versprüht nicht den zugegebenermaßen faszinierenden Retrocharme des BCC, aber dafür ist es so herrlich verwinkelt und unübersichtlich, dass es zusammen mit der bewundernswerten Phantasie, die Nerds bei der Raumgestaltung nun einmal an den Tag legen, eher sogar noch gemütlicher wirkt. Vor allem aber ist es eins: größer.
Das BCC war schön, aber wer mitbekommen hat, wie zum Schluss Stände an Ecken aufgebaut wurden, wo die Betreuerinnen Winterjacken tragen mussten, um es überhaupt auszuhalten, weiß das Platzangebot des CCH zu schätzen. Wer einen Stand aufbauen wollte, musste nur bis zu einem Stichtag Bescheid gegeben haben und bekam eine brauchbare Fläche.
Saal 1 im BCC war ebenfalls schön, aber die Unsitte der vergangenen Jahre, sich einen oder zwei Vorträge vor einer tendenziell überfüllten Veranstaltung schon in den Raum zu setzen, gelangweilt dort herumzuhängen und den Referenzen zu frustrieren, nur um für Frank und Fefe einen vernünftigen Sitzplatz zu haben, ging mir gehörig auf die Nerven. Auch in diesem Jahr waren vereinzelt Säle wegen Überfüllung geschlossen, aber es kam weit seltener vor, und wenn die Veranstalter gewollt hätten, wären selbst bei der Fnord-Newsshow noch einige hundert Plätze zu besetzen gewesen.
Insgesamt war Entspannung der Haupteindruck, den der 29c3 bei mir hinterließ. Ich konnte in aller Ruhe im Vorverkauf ein Ticket bekommen, ich musste nur kurz in der Schlange stehen, um mein Eintrittsbändchen zu bekommen, ich hatte keine Schwierigkeiten, in die Vorträge zu kommen, die ich besuchen wollte, das Netz war fast ständig stabil, und nirgendwo gab es Gedränge.
Gut, ein Punkt war nicht entspannt, und ich verstehe trotz mehrfacher Gespräche nicht, worum es den Leuten geht: Die Congress-Organisation möchte, dass sich alle Teilnehmer sicher fühlen. Aus diesem Grund gab es auf dem 29c3 eine Rufnummer, bei der man Belästigungen melden konnte. Warum man nicht einfach das ebenfalls vorhandene Sicherheitsteam anrufen kann, finde ich zwar merkwürdig, aber nicht kritisierenswert. Was ich kritisierenswert finde, sind die grünen, gelben und roten Karten, so genannte Creeper Cards, die mit teils sehr wirren Erklärungen verbunden verteilt wurden. Offenbar bestand ihr Sinn darin, erwünschtes, bedenkliches und unangemessenes Sozialverhalten ohne große Erklärung zu sanktionieren. Wenn Sie sich jetzt fragen, wozu wir Menschen dieses komische Ding namens Sprache erfunden haben, berühren Sie den gleichen Punkt, den ich auch nicht erklären kann. Ich habe erhebliche Zweifel, dass eine still überreichte Pappkarte mit einem moralgeschwängerten Erklärungstext verbunden mit der Androhung körperlicher Gewalt beim Empfänger die gewünschte Reaktion auslöst, und selbst wenn es eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit gäbe, sinkt sie beim missbräuchlichen Einsatz der Karten. Genau das war meiner Meinung nach beim Hacker Jeopardy der Fall.
Wer die Veranstaltung kennt, weiß: Das hier ist kein Ort feinsinniger Betrachtungen und filigran gesponnener Pointen, sondern hier geht es grob zu. Die beiden Moderatoren lassen bisweilen kein gutes Haar an ihren Kandidaten, und wer beispielsweise das Morsesignal SOS selbst nach mehrfachem Hinhören nicht erkennt oder offenbar erstmals von der Existenz eines Editors namens vi erfährt, braucht sich über böse Kommentare nicht zu wundern. Das sahen mehrere Leute im Publikum offenbar anders, die es also irgendwie echt total diskriminierend du fanden, dass die Moderatoren unter anderem Witze über eine Kandidatin rissen, die sich auf der Bühne nicht gerade mit Ruhm bekleckerte. Wie schon gesagt: Das gehört zum Konzept, und die Männer kamen auch nicht besser davon. Bei Männern ist das auch OK, bei Frauen aber wahnsinnig böse, insbesondere dann, wenn man sich darüber hinaus auch noch ein paar Sticheleien über Genderthemen leistet, denn bekanntlich beginnt Sexismus bereits dann, wenn man Menschen, die sich darüber streiten, ob es MenschInnen, Mensch_innen oder Mensch*innen heißt, nicht allumfassend und in jeder Hinsicht total ernst nehmen kann. Wer in solchen Fällen rote Karten verteilt, verabsolutiert die eigene Meinung, unterbindet Kritik und versucht seine Position statt mit rationalen Argumenten mit Moralkeulen durchzusetzen - genau das Verhalten also, dass an der Kirche zu kritisieren er nicht müde wird. Ich habe Hacker schon überzeugender agieren gesehen.
Ich kenne die Taktik von der Evangelischen Kirche und der Italienischen Fußballnationalmannschaft. Sie nutzt den Konsens aus, einander nicht wehtun zu wollen, und besteht im Wesentlichen darin, sich möglichst theatralisch hinfallen zu lassen, zu warten, bis der Schiedsrichter hinschaut und zu hoffen, dass er irgendeinen Spieler der Gegenmannschaft rausschmeißt. Mit ein bisschen Glück regen sich darüber ein paar andere so sehr auf, dass sie auch gleich gehen können. Kurzfristig mag diese Taktik Erfolg haben. Langfristig führt sie aber zu unfassbar langweiligen Spielen. Bei der Kirche geht es natürlich nicht um Tore, sondern um theologische Debatten, die dann enden, wenn eine Seite entdeckt, dass gerade ihre religiösen Gefühle verletzt wurden, und wenn ich Ihnen eins garantieren kann ist es das: Irgendwer schreit immer auf.
Das war aber auch das Einzige, was mir negativ auffiel. Ansonsten war es schon fast gespenstisch, wie reibungslos der Congress den Umzug nach Hamburg geschafft hat. Der Erfolg wird sich herumsprechen, und die über 6000 Besucherinnen sind noch längst nicht die Obergrenze. Für das nächste Jahr halte ich 7000 Teilnehmerinnen für realistisch, und auch 8000 bis 9000 auf absehbare Zeit für möglich.
Mit "Not my department" als Veranstaltungsmotto bewies das Programmteam wieder einmal eine glückliche Hand. Deutete sich in den letzten Jahren die Auseinandersetzung der Nerd- mit der Analogwelt an, setzte der 29c3 diese Entwicklung logisch fort. Stephan Urbach deutete es bereits auf der Sigint12 an, und Jacob Appelbaum sagte es in seiner Grundsatzrede noch einmal deutlich: Unser Handeln hat Konsequenzen. Wir haben in unseren Köpfen und auf unseren Festplatten das Potenzial, die Welt zu ändern. Mehr als das: Wir haben die Pflicht, zu handeln. Natürlich ist ein autonom fliegender Quadcopter für sich schon eine tolle Sache, aber noch toller ist es, wenn wir ihn einsetzen, um Menschenrechte zu stärken - beispielsweise, indem wir einen Schwarm von ihnen über Demonstrationen schweben lassen, um Polizeiübergriffe zu dokumentieren. Dazu muss man sich nicht gleich als Whistleblower mit der NSA anlegen, der Betrieb eines Tor-Knotens ist auch schon ein Schritt.
tl; dr Es war ein toller Congress, und der 30c3 wird bestimmt noch toller.
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