Am Sonntag mache ich drei Kreuze - zwei auf den Wahlzettel und dann eines, wenn dieses Theater langsam vorbei ist und sich die Leute wieder wie Vertreter einer Spezies gebärden, die sich selbst das Attribut "sapiens" verpasste.
Es geht hektisch zu in den letzten Tagen vor der Wahl - so hektisch, dass Andreas Popp, seines Zeichens stellvertretender Vorsitzender der Piratenpartei, der "Jungen Freiheit", ihres Zeichens ein mit äußerst fragwürdigem Leumund ausgestattetes Blatt, ein Interview gab und im Nachhinein feststellte: "Oh G'tt, die sind ja rechts." Die Reaktion aus dem Lager der selbsternannten Hüter der Demokratie folgte prompt: Keine Handbreit den Faschisten, schlagt die Rechten, wo ihr sie trefft, wer mit Nazis redet, ist selber einer, dem Faschismus keine Chance, wehret den Änfängen, hoch die internationale Solidarität, und was das linke Phrasenmuseum noch so alles hergibt. Das Tolle: Solche Parolen schreiben sich fast von allein, und beim Schreiben durchströmt einen die warme Gewissheit, etwas von Grund auf Richtiges und Gutes getan zu haben. In der Tat lässt sich gegen die Warnungen vor der aufkeimenden Braunen Brut kaum etwas erwidern, ohne in den Verdacht zu geraten, unglaublich naiv, wenn nicht gar selbst ein Faschist zu sein. Der Rufer in der Wüste hingegen kann nur gewinnen. Erstarkt der Faschismus, dann geschieht das, wovor man die ganze Zeit gewarnt hat, erstarkt er nicht, beweist es, wie wichtig ständige Wachsamkeit ist. Mit der gleichen Strategie hat die Bundesfamilienministerin auch ihr Internetverhinderungsgesetz durchgepeitscht.
Was man lostritt, wenn man wenige Tage vor einer Wahl, bei der man mit den Stimmen der Linkswähler ins Parlament möchte, ausgerechnet einem am äußerst rechten Rand befindlichen Blatt ein Interview gibt, hätte man als stellvertretender Vorsitzender einer Partei nicht nur wissen können, sondern wissen müssen. In dieser Position gehört es einfach dazu, die zentralen Blätter der verschiedenen politischen Strömungen zu kennen. Dass Popp in seinem Blog mit entlarvender Ehrlichkeit seine unglaublichen Defizite auf diesem Gebiet offenbarte, spricht für ihn. Wenigstens versucht er nichts zu vertuschen. Auf der anderen Seite sollte man den Hinweis nicht überstrapazieren, es handle sich bei der Piratenpartei um eine sehr junge Gruppierung, die immense Schwierigkeiten mit ihrem raschen Wachstum der letzten Monate hatte. Erstens existiert die Piratenpartei nicht erst seit Verabschiedung des Internetverhinderungsgesetzes im Juni, zweitens setzt man in Spitzenpositionen keine blutigen Anfänger, sondern Leute, die wenigstens ab und zu Zeitung lesen, zumal es die zur Debatte stehende Publikation sogar im Internet gibt.
Die eigentliche Frage ist jedoch aus meiner Sicht weniger, ob die Piraten noch ganz bei Trost sind, es ist auch nicht die Frage, wie der richtige Umgang mit dem rechten Rand auszusehen hat, es ist vielmehr die Frage wo diese Partei überhaupt genau steht.
Der Vergleich mit den GrünInnen der frühen Achtziger wurde oft bemüht, und viele Kommentatoren haben zwischenzeitlich angemerkt, dass der Vergleich hinkt. Was aber nicht heißt, dass er vollkommener Unsinn ist. In mancherlei Hinsicht stimmt er nämlich, beispielsweise bei der politischen Standortbestimmung. Weder die frühen GrünInnen noch die Piraten lassen sich ins klassische Rechts-links-Schema sauber einordnen. Beide Parteien treten - oder traten zumindest - als Anti-Parteien auf. Die verkrustete Politlandschaft gilt es aufzubrechen, und damals wie heute soll Basisdemokratie den Weg weisen. Wer die praktisch aus einem einzigen zottligen, pulloverstrickenden und Kinder säugenden Eklat bestehenden GrünInnen-Parteitage der Achtziger mit der Ödnis heutiger Tagungen der nominell gleichen Partei vergleicht, wird als ähnlichste Veranstaltung die Piratenparteitage finden, auf denen schwarze T-Shirts schon fast ein Muss und Dreispitze, Plastiksäbel sowie Enterhaken ein gern gesehenes Accessoire darstellen. Ist sowas nun links oder rechts?
Natürlich, eine gewisse Linkslastigkeit stellt man bei beiden Parteien fest, aber genauso wie seinerzeit ökologischer Boden mit dem Blut und Boden eines Baldur Springmann zusammenpasste, fühlen sich heute von der Forderung nach Meinungsfreiheit auch die Leute angezogen, welche unter diesem Begriff vor allem die Freiheit zur Volksverhetzung verstehen. Bezeichnend war auch der Umgang mit Bodo Thiesen und dessen haarscharf am Rande der Rechtsstaatlichkeit entlang schrammenden Äußerungen. In der Diskussion fiel auf, wie schwer es war, die Ebenen auseinander zu halten. Ging es darum, die Shoah zu leugnen oder darum, darüber zu diskutieren, ob es sinnvoll ist, das Leugnen der Shoah zu verbieten? Wer sich auf dieses Gebiet wagt, spielt wahrscheinlich auch gern Rugby auf Minenfeldern.
Damit der Satz, der Ihnen die ganze Zeit durch den Kopf geht, endlich ausgesprochen wird: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Wird dadurch die Sache klarer? Reicht es, einfach einen individuell geprägten Begriff durch einen anderen ebenso individuell geprägten zu ersetzen, um zu wissen, wo Meinungsäußerung aufhört und die Straftat beginnt? Wer klare Grenzen zieht, riskiert, dass Provokateure so nah wie möglich an die Grenzlinie gehen und ausprobieren, was passiert, wenn man den Fuß ein klitzekleines Stück näher an und vielleicht sogar über die Linie schiebt. Wer die Grenzen verwischt, setzt sich dem Vorwurf aus, mit zweierlei Maß zu messen.
Um den Schlenker abzuschließen: Ich glaube nicht, dass es ein Patentrezept zum Umgang mit politischen oder religiösen Extremisten gibt, so laut und selbstverliebt manche das Gegenteil behaupten mögen. Zurück zur Frage: Wo stehen die Piraten?
Um das herauszufinden, bekomme ich gesagt, solle ich mir einfach das Partei- und das Wahlprogramm ansehen. Mit Verlaub, das letzte Mal, dass ich ein Parteiprogramm durchgelesen habe, war irgendwann in den Achtzigern im Geschichtsunterricht. Glaubt wirklich jemand ernsthaft, diese seitenlangen Ergüsse der Aussagelosigkeit gäben Auskunft darüber, was man von der jeweiligen Partei zu erwarten hat? Gönnen Sie sich den Spaß und lesen sich mit einem Bekannten gegenseitig zufällig gewählte Passagen eines beliebigen Wahlprogramms vor. Ich bin mir sicher, in der Hälfte der Fälle können Sie nicht mit Sicherheit sagen, von welcher Partei gerade die Rede ist.
Was wäre denn, hätte auch nur eine der in den letzten sechs Jahrzehnten an einer Bundesregierung beteiligten Parteien ihre schriftlich fixierten Ideen durchgesetzt? Genau, wir hätten Vollbeschäftigung und alle eine Villa am See. Die Staatsverschuldung wäre so niedrig, dass die Regierung Goldbarren an Passanten verschenkt, nur um das schwere Zeug endlich los zu sein, und alles wäre so umweltfreundlich, dass man an Auspuffrohren schnuppert, wenn man etwas frische Luft haben will.
Stünde das tatsächliche Handeln der NPD in deren Parteiprogramm, wäre sie seit Jahrzehnten verboten.
Verstehen Sie jetzt, warum ich der Pro-7-Märchenstunde mehr glaube als irgendeinem Parteiprogramm?
Wo stehen die Piraten? In den Kommentaren der vergangenen Tage wird den Piraten immer wieder vorgeworfen, sich der Einordnung in das links-rechte Schubladendenken zu widersetzen. Man solle doch endlich Stellung beziehen, heißt es, alles Andere sei unredlich. Die Piraten antworten dann gern, sie stünden nicht links oder rechts, sondern vorn, und darüber lästert das politische Establishment. Natürlich ist die Antwort genauso wertlos wie sie alt ist. Bereits der rechtsradikalem Gedankengut unverdächtige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sagte Anfang des Jahrtausends auf einer Wahlkampfrede: "Und dann werden wir gefragt: Gehen die Freien Demokraten nach links (große ausladende Geste nach links) oder gehen die Freien Demokraten nach rechts (große ausladende Geste nach rechts), nein, liebe Freunde, wir gehen nach (beide Hände jetzt nach vorne ausladend) vorn!" Spätestens seit dieser Rede sollte "vorn" als möchtegern-witzige Antwort auf die Frage nach der politischen Position eine rhetorische No-Go-Area sein. Wen das nicht überzeugt, der sollte spätestens nach Renate Künast eines Besseren belehrt sein, die vor kurzem in einer Fernsehsendung erklärte, die GrünInnen stünden "links in der Mitte, aber auf jeden Fall vorn". Das klingt beinahe wie im Loriot-Sketch: "hinten, hinten unten", nur dass keiner darüber lacht.
Trotzdem steckt ein Körnchen Wahrheit in dieser Antwort. Sieht man sich die etablierten Parteien an, aus deren Reihen der Befehl erschallt, sich gefälligst einzuordnen, sieht man, wie weit man dort vom selbstgefällig erhobenen Anspruch entfernt ist. Die FDP hatten wir eben schon. Die SPD hat seit der Agenda 2010 jede erdenkliche Anstrengung unternommen, sich ihrer linken Vergangenheit zu entledigen, was sie in dieser Form natürlich nie zugibt. Die CDU ihrerseits hat unter Merkel viele linke Positionen besetzt und nennt es nur anders. Beide ehemaligen Volksparteien sehen sich sowieso am liebsten in der Mitte - dort, wo sich offenbar jeder tummelt, dem völlig egal ist, worum es eigentlich geht, solange er genug Wähler hat.
Spätestens seit den GrünInnen sollte klar sein, wie unnütz und irreführend die alten Schablonen "wir = die Guten = links = intellektuell = progressiv" und "die Anderen = die Bösen = rechts = dumm = konservativ" sind. Wer Windmühlen zur Stromerzeugung benutzt, Gentechnik ablehnt, Lebensmittel möglichst naturnah erzeugt und Wiesen unbebaut lässt anstatt ein schönes modernes Einkaufszentrum darauf zu bauen, ist konservativ, ohne dass sich viele Linke daran stören. Können sich die älteren Semester noch an die Jahrzehnte erinnern, in denen alle Welt den Computer bereits als selbstverständliches Kommunikations- und Arbeitsmittel ansah, während die grün-alternativen Gruppen mahnend mit "1984" wedelten? Selbst heute redet ein Matthias Güldner noch so daher, als misstraue er jedem stromdurchflossenen Objekt, das komplexer als ein Tauchsieder ist. Klingt so eine progressiv-linke Partei? Andererseits diskutiert man auch gewagte Ideen wie das Grundeinkommen - einen Ansatz, der unser komplettes Sozialsystem umkrempeln könnte.
Allein bei der Linkspartei kann man noch diskutieren, wie rein und unverfälscht sie die linke Lehre vertritt, und auch hier stellt sich die Frage, ob das Festhalten an einem Gesellschaftsentwurf aus dem 19. Jahrhundert, der seine zahlreichen historischen Chancen glamourös vermasselt hat, noch als progressiv durchgeht.
Ich kenne Sozialdemokraten, die Gesamtschulen für ausgemachten Blödsinn halten und ihre Kinder autoritär erziehen. Ich kenne CDU-Aktivisten, die es völlig in Ordnung finden, wenn ihre Töchter als Punks herum laufen und selbstverständlich ihren fair gehandelten Kaffee im Bioladen kaufen. Die Zeiten sind vorbei, da eine Mauer die Welt in zwei Hälften teilte und man ganz genau wusste, was man im jeweiligen Lager zu denken hatte. "Die Welt ist komplizierter geworden." - das ist es doch, was die Politprofis seit zwanzig Jahren bei jeder Gelegenheit predigen. "Komplizierter" heißt aber auch: Die Menschen gucken nicht mehr im Knigge nach, ob eine Meinung "links" oder "rechts" ist, so lange sie ihnen passt. Die Piraten mögen unprofessionell agieren, viele ihrer Sympathisanten mögen eher aus einem Bauchgefühl heraus dieser Partei zuneigen, aber was meinen Sie, wie unausgegorenes Zeug ich von einem Sozial- oder Christdemokraten höre, der "die Partei schon so lange wählt, wie [er] denken kann". Glauben Sie, meine Oma liest bei jeder Wahl nach, ob die Sozis heimlich das Parteiprogramm geändert haben? Das Einzige, was meine Oma davon abhalten könnte, SPD zu wählen, wäre die Apokalypse, und selbst im Amageddon fände sie vielleicht noch eine Wahlkabine. Warum? "Schnack nich, dat heff ick ümmer schon so mook."
Kurz: Die Piraten sind ein mehr oder weniger diffuses Gemisch verschiedener politischer Strömungen - so, wie es die anderen Parteien faktisch auch wären, wenn sie die Größe besäßen, dies zuzugeben. Das heißt aber nicht, dass jede Partei sich aus der großen populistischen Lostrommel die nächstbeste These angeln und versuchen soll, ob sie damit genug Wähler bekommt. Ein Konzept, ein Profil sollte man schon erkennen können. Nach der Wahl werden die Parteien etwas Gelegenheit haben, sich den Dreck vergangener Wahlschlachten abzuwischen, die Kleidung zurecht zu rücken und etwas aufzuräumen. Ich hoffe, dass die Piraten diese Gelegenheit für sich nutzen werden.